Tod an der Werra
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Tod an der Werra
Noch bevor die DDR ihren Bürgern den Grenzübertritt in den Westen verbot, forderte die deutsche Teilung ein Opfer: Im April 1951 erschoss ein Grenzpolizist den Schneidermeister Paul Tippach. Das SED-Regime vertuschte den Fall. Für die Bewohner in Grenznähe hatte er dennoch dramatische Folgen. Von Klaus Taubert
In der thüringischen Gemeinde Großburschla fand Anfang April 1951 eine Beerdigung statt, die viele Trauergäste erschaudern ließ. Bewacht von verbissen dreinblickenden Männern in Zivil, die keiner kannte, hatten sich auf dem Friedhof des rund 1400 Einwohner zählenden Dorfes nördlich von Eisenach so viele Menschen eingefunden wie nie zuvor bei einer Trauerfeier. Wenige Tage war es her, dass der Schneidermeister des Ortes erschossen worden war - von einem Grenzpolizisten.
Paul Tippach war zu einem Opfer des DDR-Grenzregimes geworden, noch bevor der SED-Staat überhaupt damit begonnen hatte, die Grenze zum Westen komplett abzuriegeln. Sein Heimatdorf Großburschla ragte damals wie eine Nase in das Territorium der Bundesrepublik hinein und war - abgesehen von einem schmalen Zugang zum Osten - fast vollständig von 26 Kilometern Zonengrenze umgeben.
Etwa jeder zehnte Einwohner des Dorfes arbeitete zu dieser Zeit im benachbarten Hessen. Das war schon seit Generationen so gewesen, doch inzwischen lagen ihre Arbeitsstätten auf westdeutschem Gebiet. Um dahin zu gelangen, mussten die Bewohner von Großburschla eine Brücke über die Werra passieren, die von der DDR-Grenzpolizei bewacht wurde. Durchsuchungen, Verhöre und sonstige Schikanen bei der Kontrolle auf dem Weg von der Arbeit nach Hause sollten den Grenzgängern ihren täglichen Ausflug vergällen.
"Paul, sieh dir das an"
Am Nachmittag des 7. April 1951, einem Sonnabend, nahmen die Grenzer ihren Auftrag wieder einmal besonders ernst: Sie filzten die zurückkehrenden Arbeiter, bis es zu Rangeleien kam. Schneidermeister Tippach verfolgte das Geschehen aus der oberen Etage eines Fachwerkhauses, das direkt an der Brücke stand.
"Paul, sieh dir an, was deine Genossen mit uns machen, wie sie mit uns umspringen", hörte er die Arbeiter rufen. Der 42-jährige ehemalige Sozialdemokrat Tippach war seit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD Mitglied der örtlichen SED-Parteileitung. Er ging hinunter zur Brücke, stellte die Grenzer zur Rede und forderte sie auf, sich zu mäßigen. Der Kommandeur ging dazwischen und ließ Tippach wegen "unerlaubten Eingreifens in das Grenzregime" festnehmen und zur Wache in der Königsgasse bringen.
Nach kurzer Zeit stand dort Tippachs Ehefrau vor der Tür. Sie wollte Geld von ihrem Mann holen, um die Handwerker daheim zu bezahlen. In zwei Tagen sollte Richtfest für das neue Einfamilienhaus der Tippachs sein. Der Schneidermeister ging zur Tür, um seiner Frau, die im fünften Monat schwanger war, das Geld zu bringen, und griff zur Brieftasche. Der Offizier forderte den Festgenommenen auf, dazubleiben. Als sich Tippach dennoch seiner Frau zuwandte, befahl er zu schießen.
"Mörder!"
Noch ehe der Schneidermeister die Wache verlassen konnte, wurde auf ihn gefeuert. Die Kugel durchschlug den Körper und die Brieftasche, die er gerade aus der Tasche zog. Tippach schleppte sich mit letzter Kraft noch ein paar Schritte auf den Wachhabenden zu und sagte: "Ihr Mörder, Ihr habt mich erschossen.“ Dann fiel er zu Boden und verblutete.
Der Arzt, der erst nach zwei Stunden kam, konnte nur noch den Tod feststellen. Doch den Bürgern, die vor der Wache "Mörder!" und "Bluthunde!" riefen, durfte er das nicht mitteilen. Kopfschüttelnd sagte er nur: "Es ist sehr ernst."
Noch am selben Tag wurde der Tote - in einem Pkw zwischen zwei Grenzern sitzend - auf dem einzigen möglichen Weg dicht an der Zonengrenze entlang über Schnellmannsdorf und Creuzburg nach Eisenach gebracht. Fünf Tage später war die Beerdigung. Als der Sarg mit dem Toten eintraf, bildeten die Einwohner bis zum Friedhof ein dichtes Spalier. Die Polizei hatte den ganzen Ort umstellt.
"Was hast du getan?"
Auch Gemeindepfarrer Hans Müller hatte sich sorgfältig auf diesen Termin vorbereitet: Er wollte verhindern, dass seine ohnehin zensierte Begräbnisrede verboten wurde. Die Würdigung des angesehenen Mitbürgers ergänzte er mit einem Spruch zum Brudermord Kains aus dem 1. Buch Moses: "Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde."
Die schwangere Ehefrau Tippachs und die zwölfjährige Tochter Annemarie standen nach dem schockierenden Ereignis nun allein da mit einem halbfertigen Haus. Jeder im Ort wusste, welches Unrecht ihnen angetan worden war. Die Witwe beklagte das Verbrechen an ihrem Mann bis hoch zu Präsident Wilhelm Pieck. Von dort kam die lakonische Antwort, dass dieser wegen seines "unvernünftigen Verhaltens" selber schuld sei.
Der Parteisekretär des Ortes hingegen bescheinigte seinem ermordeten Stellvertreter, dass er "der beste Aktivist der hiesigen Ortsgruppe war und als solcher sein Leben lassen musste." Aus Protest legte er seine Funktion nieder. Weitere Folgen hatte der Vorfall augenscheinlich nicht: Der Mord sollte schnell vergessen werden. Auch im Ort sprach bald niemand mehr davon - aus Angst vor Zwangsaussiedelungen. Fast vierzig Jahre blieb das so. Der Grenzer namens Ludwig, der den Schuss abgegeben hatte, war klammheimlich zur Verkehrspolizei versetzt worden.
Pläne zur Deportation
Intern aber, in der höchsten Führungsebene des Regimes, schlug der Mord hohe Wellen: Das SED-Politbüro ließ Pläne ausarbeiten, die solche Vorfälle künftig vermeiden sollten. Schon im Jahr darauf begannen die Deportationen "politisch unzuverlässiger" DDR-Bürger aus dem Grenzgebiet zur Bundesrepublik.
Bis Anfang der achtziger Jahre waren davon weit mehr als zehntausend Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder betroffen. Ohne Entschädigung oder mit läppischen Abfindungen wurden Familien in Nacht- und Nebelaktionen in zum Teil abrissreife Wohnungen weitab vom Grenzgebiet verfrachtet. Unter Strafandrohung war es den Deportierten verboten, über ihre Umsiedlung zu reden. In ihrer neuen Umgebung wurden sie deshalb oft als asozial diffamiert.
Die Aktionen, deren erste 1952 den Codenamen "Ungeziefer" trug, waren bis ins Kleinste vorbereitet. Erfahrungen hatte die DDR-Führung bereits bei den vorangegangenen Enteignungen der Besitzer von Hotels und Ferienheimen gesammelt, die ihre Häuser dem FDGB-Feriendienst opfern mussten.
"Alte Geschichte"
Nach dem Untergang der DDR wurden die Zwangsumsiedlungen zwar heftig verurteilt, zu einer Wiedergutmachung kam es in Deutschland allerdings nicht. Tausende Eingaben scheiterten daran, dass Betroffene das ihnen zugefügte Unrecht nicht - wie von der Bürokratie gefordert - präzise dokumentieren konnten. Als hätten DDR-Verwaltungen, Polizei und Stasi schriftlich Zeugnis von ihren menschenunwürdigen Taten abgelegt.
Tippachs Tochter Annemarie Csincsura möchte an die "alte Geschichte" am liebsten nicht mehr erinnert werden. Auch deshalb, weil es selbst nach der Grenzöffnung 1989 noch Stimmen gab, die meinten, ihr Vater habe sich selbst in Gefahr begeben. Die durchschossene Brieftasche mit den durchlöcherten Papieren ist für sie die einzige, schmerzliche Erinnerung an den Vater, der sich couragiert für andere einsetzte und mit dem Leben bezahlte.
In dem damals, 1951, noch im Bau befindlichen Elternhaus betreibt Annemarie Csincsura heute eine Stickerei. Ihrem Vater, dem Schneidermeister, macht die ehemalige Lehrerin damit alle Ehre.
Quelle
In der thüringischen Gemeinde Großburschla fand Anfang April 1951 eine Beerdigung statt, die viele Trauergäste erschaudern ließ. Bewacht von verbissen dreinblickenden Männern in Zivil, die keiner kannte, hatten sich auf dem Friedhof des rund 1400 Einwohner zählenden Dorfes nördlich von Eisenach so viele Menschen eingefunden wie nie zuvor bei einer Trauerfeier. Wenige Tage war es her, dass der Schneidermeister des Ortes erschossen worden war - von einem Grenzpolizisten.
Paul Tippach war zu einem Opfer des DDR-Grenzregimes geworden, noch bevor der SED-Staat überhaupt damit begonnen hatte, die Grenze zum Westen komplett abzuriegeln. Sein Heimatdorf Großburschla ragte damals wie eine Nase in das Territorium der Bundesrepublik hinein und war - abgesehen von einem schmalen Zugang zum Osten - fast vollständig von 26 Kilometern Zonengrenze umgeben.
Etwa jeder zehnte Einwohner des Dorfes arbeitete zu dieser Zeit im benachbarten Hessen. Das war schon seit Generationen so gewesen, doch inzwischen lagen ihre Arbeitsstätten auf westdeutschem Gebiet. Um dahin zu gelangen, mussten die Bewohner von Großburschla eine Brücke über die Werra passieren, die von der DDR-Grenzpolizei bewacht wurde. Durchsuchungen, Verhöre und sonstige Schikanen bei der Kontrolle auf dem Weg von der Arbeit nach Hause sollten den Grenzgängern ihren täglichen Ausflug vergällen.
"Paul, sieh dir das an"
Am Nachmittag des 7. April 1951, einem Sonnabend, nahmen die Grenzer ihren Auftrag wieder einmal besonders ernst: Sie filzten die zurückkehrenden Arbeiter, bis es zu Rangeleien kam. Schneidermeister Tippach verfolgte das Geschehen aus der oberen Etage eines Fachwerkhauses, das direkt an der Brücke stand.
"Paul, sieh dir an, was deine Genossen mit uns machen, wie sie mit uns umspringen", hörte er die Arbeiter rufen. Der 42-jährige ehemalige Sozialdemokrat Tippach war seit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD Mitglied der örtlichen SED-Parteileitung. Er ging hinunter zur Brücke, stellte die Grenzer zur Rede und forderte sie auf, sich zu mäßigen. Der Kommandeur ging dazwischen und ließ Tippach wegen "unerlaubten Eingreifens in das Grenzregime" festnehmen und zur Wache in der Königsgasse bringen.
Nach kurzer Zeit stand dort Tippachs Ehefrau vor der Tür. Sie wollte Geld von ihrem Mann holen, um die Handwerker daheim zu bezahlen. In zwei Tagen sollte Richtfest für das neue Einfamilienhaus der Tippachs sein. Der Schneidermeister ging zur Tür, um seiner Frau, die im fünften Monat schwanger war, das Geld zu bringen, und griff zur Brieftasche. Der Offizier forderte den Festgenommenen auf, dazubleiben. Als sich Tippach dennoch seiner Frau zuwandte, befahl er zu schießen.
"Mörder!"
Noch ehe der Schneidermeister die Wache verlassen konnte, wurde auf ihn gefeuert. Die Kugel durchschlug den Körper und die Brieftasche, die er gerade aus der Tasche zog. Tippach schleppte sich mit letzter Kraft noch ein paar Schritte auf den Wachhabenden zu und sagte: "Ihr Mörder, Ihr habt mich erschossen.“ Dann fiel er zu Boden und verblutete.
Der Arzt, der erst nach zwei Stunden kam, konnte nur noch den Tod feststellen. Doch den Bürgern, die vor der Wache "Mörder!" und "Bluthunde!" riefen, durfte er das nicht mitteilen. Kopfschüttelnd sagte er nur: "Es ist sehr ernst."
Noch am selben Tag wurde der Tote - in einem Pkw zwischen zwei Grenzern sitzend - auf dem einzigen möglichen Weg dicht an der Zonengrenze entlang über Schnellmannsdorf und Creuzburg nach Eisenach gebracht. Fünf Tage später war die Beerdigung. Als der Sarg mit dem Toten eintraf, bildeten die Einwohner bis zum Friedhof ein dichtes Spalier. Die Polizei hatte den ganzen Ort umstellt.
"Was hast du getan?"
Auch Gemeindepfarrer Hans Müller hatte sich sorgfältig auf diesen Termin vorbereitet: Er wollte verhindern, dass seine ohnehin zensierte Begräbnisrede verboten wurde. Die Würdigung des angesehenen Mitbürgers ergänzte er mit einem Spruch zum Brudermord Kains aus dem 1. Buch Moses: "Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde."
Die schwangere Ehefrau Tippachs und die zwölfjährige Tochter Annemarie standen nach dem schockierenden Ereignis nun allein da mit einem halbfertigen Haus. Jeder im Ort wusste, welches Unrecht ihnen angetan worden war. Die Witwe beklagte das Verbrechen an ihrem Mann bis hoch zu Präsident Wilhelm Pieck. Von dort kam die lakonische Antwort, dass dieser wegen seines "unvernünftigen Verhaltens" selber schuld sei.
Der Parteisekretär des Ortes hingegen bescheinigte seinem ermordeten Stellvertreter, dass er "der beste Aktivist der hiesigen Ortsgruppe war und als solcher sein Leben lassen musste." Aus Protest legte er seine Funktion nieder. Weitere Folgen hatte der Vorfall augenscheinlich nicht: Der Mord sollte schnell vergessen werden. Auch im Ort sprach bald niemand mehr davon - aus Angst vor Zwangsaussiedelungen. Fast vierzig Jahre blieb das so. Der Grenzer namens Ludwig, der den Schuss abgegeben hatte, war klammheimlich zur Verkehrspolizei versetzt worden.
Pläne zur Deportation
Intern aber, in der höchsten Führungsebene des Regimes, schlug der Mord hohe Wellen: Das SED-Politbüro ließ Pläne ausarbeiten, die solche Vorfälle künftig vermeiden sollten. Schon im Jahr darauf begannen die Deportationen "politisch unzuverlässiger" DDR-Bürger aus dem Grenzgebiet zur Bundesrepublik.
Bis Anfang der achtziger Jahre waren davon weit mehr als zehntausend Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder betroffen. Ohne Entschädigung oder mit läppischen Abfindungen wurden Familien in Nacht- und Nebelaktionen in zum Teil abrissreife Wohnungen weitab vom Grenzgebiet verfrachtet. Unter Strafandrohung war es den Deportierten verboten, über ihre Umsiedlung zu reden. In ihrer neuen Umgebung wurden sie deshalb oft als asozial diffamiert.
Die Aktionen, deren erste 1952 den Codenamen "Ungeziefer" trug, waren bis ins Kleinste vorbereitet. Erfahrungen hatte die DDR-Führung bereits bei den vorangegangenen Enteignungen der Besitzer von Hotels und Ferienheimen gesammelt, die ihre Häuser dem FDGB-Feriendienst opfern mussten.
"Alte Geschichte"
Nach dem Untergang der DDR wurden die Zwangsumsiedlungen zwar heftig verurteilt, zu einer Wiedergutmachung kam es in Deutschland allerdings nicht. Tausende Eingaben scheiterten daran, dass Betroffene das ihnen zugefügte Unrecht nicht - wie von der Bürokratie gefordert - präzise dokumentieren konnten. Als hätten DDR-Verwaltungen, Polizei und Stasi schriftlich Zeugnis von ihren menschenunwürdigen Taten abgelegt.
Tippachs Tochter Annemarie Csincsura möchte an die "alte Geschichte" am liebsten nicht mehr erinnert werden. Auch deshalb, weil es selbst nach der Grenzöffnung 1989 noch Stimmen gab, die meinten, ihr Vater habe sich selbst in Gefahr begeben. Die durchschossene Brieftasche mit den durchlöcherten Papieren ist für sie die einzige, schmerzliche Erinnerung an den Vater, der sich couragiert für andere einsetzte und mit dem Leben bezahlte.
In dem damals, 1951, noch im Bau befindlichen Elternhaus betreibt Annemarie Csincsura heute eine Stickerei. Ihrem Vater, dem Schneidermeister, macht die ehemalige Lehrerin damit alle Ehre.
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