Reichsregierung ohne Reich
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Reichsregierung ohne Reich
1945 - Hitlers Nachfolger
Hitler tot, der Krieg verloren - und sie machten munter weiter: Im Mai 1945 führte Karl Dönitz in Flensburg die letzte deutsche Reichsregierung. Die Truppe traf sich täglich zu Konferenzen und Korn, hisste die Reichsflagge und diskutierte über den Hitlergruß. Dann reichte es den Briten.
Eine Handvoll Männer betrat am 2. Mai 1945 im holsteinischen Eutin das provisorisch eingerichtete Besprechungszimmer. Im Landratsamt der Kreisstadt fand ein historisches Treffen statt: die erste Sitzung der letzten deutschen Reichsregierung. Zentraler Programmpunkt der Zusammenkunft: die Rede des neuen Staatsoberhauptes Karl Dönitz. Er sollte wenige Tage später das Ende des Zweiten Weltkriegs einleiten.
Das Ergebnis der ersten Kabinettssitzung fasste Dönitz' Adjutant Walter Lüdde-Neurath im Protokoll zusammen: "Die militärische Lage ist hoffnungslos", notierte der Protokollant, und: "Im gegenwärtigen Stadium muss es das Hauptziel der Regierung sein, möglichst viele deutsche Menschen vor der Vernichtung durch den Bolschewismus zu retten." Nach der Sitzung brach die sonderbare Truppe zu ihrem neuen Regierungssitz in Flensburg auf.
Dort fand in den folgenden drei Wochen eine der bizarrsten Politpossen der neueren deutschen Geschichte statt. In der Marineschule Mürwik, einem mächtigen Rotklinkerbau an der Flensburger Förde, spielte das Kabinett Dönitz Regierung in einem untergehenden Land. Mit Fanatismus, Verblendung und Starrsinn debattierten die Insolvenzverwalter über die Einrichtung eines Kirchenministeriums, den Sinn des Hitlergrußes nach dem Tod des "Führers" und wickelten den Nazi-Staat ab - unter heimlicher Freude der britischen Besatzer.
Begonnen hatte die Groteske am 30. April. Um 18.35 Uhr erreichte Großadmiral Dönitz an diesem Samstagabend ein Funkspruch von Parteisekretär Martin Bormann aus Berlin: Hitler habe ihn zu seinem Nachfolger erkoren. Dönitz antwortete noch in derselben Nacht, schwärmte vom "heroischen Kampf des deutschen Volkes" und versprach Hitler, ihn aus Berlin herauszuholen. Doch der Diktator war längst tot, wie Dönitz am nächsten Morgen erfuhr. Er selbst war jetzt Oberbefehlshaber der Wehrmacht - und Präsident des "Großdeutschen Reiches".
Der neue Reichskanzler: ein Graf
Die Regierung, die Hitler in seinem Testament vorgesehen hatte, konnte Dönitz aber nicht aufstellen: Joseph Goebbels hatte seine Kanzlerschaft nach einem Tag mit Zyankali beendet, Parteiminister Martin Bormann steckte sich einen Tag später ebenfalls eine Giftkapsel in den Mund. Dönitz baute sich also seinen eigenen Regierungsapparat. Auf einem sieben Kilometer langen Uferstreifen an der Flensburger Förde bildete er mit 350 altgedienten Bürokraten die neue Schaltzentrale des Reichs. Neun Minister halfen mit, den NS-Staat wie einen bankrotten Konzern abzuwickeln.
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Die britischen Besatzer waren über das Kuriositätenkabinett froh, denn sie wollten auch nach der Kapitulation einen offiziellen Ansprechpartner auf deutscher Seite haben. Dafür akzeptierten die Briten sogar das winzige Restreich im besetzten Schleswig: den "Sonderbereich Mürwik". Die deutsche Enklave sollte drei Wochen lang zum Schauplatz des letzten Aktes des "Dritten Reichs" werden. In den Hauptrollen: stramme Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher.
Innenminister wurde Wilhelm Stuckart, der 1942 auf der berüchtigten Wannsee-Konferenz am Plan für die Ermordung der europäischen Juden mitgefeilt hatte. Landwirtschaftsminister Herbert Backe hatte jahrelang die Aushungerungspolitik im besetzten Osteuropa vorangetrieben. Und Otto Ohlendorf, stellvertretender Staatssekretär im Wirtschaftsressort, war als Einsatzgruppenleiter im Russlandkrieg für die Ermordung Zehntausender Juden verantwortlich.
Andere Ressorts ließ Dönitz gleich in der Hand von Hitlers Ministern: So blieb Albert Speer der Mann für die Wirtschaft, Franz Seldte leitete weiter das Arbeitsressort, für Post und Verkehr war nach wie vor Julius Dorpmüller zuständig. Eine besondere Rolle hatte Dönitz sich für den bisherigen Finanzminister ausgedacht: Lutz Graf Schwerin von Krosigk übernahm zusätzlich die Ämter als Außenminister und "Leitender Reichsminister". Damit war er Hitlers Nachfolger als Kanzler.
In Hitlers Mercedes zur Kabinettssitzung
In den ersten Maitagen stand täglich derselbe Punkt auf der Regierungsagenda: Kapitulation. Ab dem 2. Mai schwiegen die Waffen in Italien, am 3. Mai flatterte auf dem Berliner Reichstagsgebäude die rote Sowjetflagge, am 4. Mai ordnete Dönitz die Kapitulation im Nordwesten an, in Bayern und Österreich gaben die Deutschen am 5. Mai auf. Schließlich schaffte Dönitz in der Wehrmacht widerwillig den Hitlergruß ab. Dem toten Diktator blieb er trotzdem treu.
Denn die Hitler-Bilder in den Flensburger Dienstzimmern wollte Dönitz partout nicht abhängen. Als die Briten selbst die ersten Führerporträts von den Wänden nahmen, behalf sich der Staatschef mit einem Trick: Dönitz ließ die Abbildungen des Diktators entfernen, aber nur aus den offiziellen Regierungsstellen, die für den Empfang von Briten vorgesehen waren. Auch die verbotene Reichsflagge flatterte auf Anordnung des Großadmirals im eigenen Hauptquartier weiter.
Dönitz blieb überzeugter Nazi, und er gab sich gerne präsidial. Die 500 Meter zwischen seiner Wohnung und dem Regierungssitz legte er weiterhin in Hitlers dunklem Mercedes zurück. Er ließ sich auch immer noch als "Herr Großadmiral" ansprechen. Ganz anders die übrigen Kabinettsmitglieder: Die mussten sogar eigene Gläser aus ihren Büros mitbringen, wenn sie bei den Regierungsbesprechungen einen Korn mittrinken wollten.
Der Ernährungsminister verteilt Schnaps
Zum Regieren trafen sich die Männer jeden Morgen um 10 Uhr. Im "Kabinettsitzungssaal", einem alten Klassenraum der Mürwiker Fähnrichschule, übernahm Kanzler Krosigk die Moderation der Debatten: Mal diskutierten die Minister über ein neues deutsches Hoheitszeichen, ein anderes Mal zerbrachen sich die Politiker den Kopf über eine Kabinettsreform oder erwogen die Ernennung eines Kirchenministers. Am skurrilsten waren jedoch die zahlreichen Pläne, die in den Ministerien für die Nachkriegszeit geschmiedet wurden.
Verkehrsminister Dorpmüller etwa behauptete, er könne die Infrastruktur in Deutschland innerhalb von sechs Wochen wieder aufpäppeln, Innenminister Stuckart schwadronierte in einem Memorandum über den juristischen Fortbestand des Deutschen Reiches. Und Staatssekretär Otto Ohlendorf schlug sogar vor, den "Sicherheitsdienst" wieder aufzubauen. Von einem Überwachungsapparat in bewährter deutscher Form könnten schließlich auch die Siegermächte profitieren.
Dönitz kümmerte sich lieber um die deutsche Soldatenehre: Am 18. Mai verordnete er, dass Hoheitsabzeichen, Orden und Militärauszeichnungen nicht von Uniformen entfernt werden dürften. Kurz zuvor hatte der Reichspräsident seinem Armee-Strategen Alfred Jodl noch feierlich das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen, nachdem dieser die deutsche Gesamtkapitulation unterzeichnet hatte.
Zu den gefragtesten Politikern gehörte in diesen Wochen Ernährungsminister Herbert Backe: Sein Fachressort war dafür zuständig, die Verwaltungsangestellten mit Schnaps aus dem Lagerbestand des Ministeriums zu versorgen. Die beschwipsten Regierungsmitarbeiter produzierten trotzdem Protokolle und Denkschriften im Akkord und legten den Alliierten permanent Vorschläge und Statistiken vor. Dass die pausenlose Produktion von Dokumenten sinnlos geworden war, realisierte schließlich auch das Kabinett: Mitte Mai diskutierten die Minister erstmals über einen geschlossenen Rücktritt, ließen die Idee aber wieder fallen. Das Regieren ging weiter.
"Heute starb das Deutsche Reich"
Nur einer wollte seinen Posten als Minister am liebsten loswerden: Albert Speer. Er bemäkelte, dass Kanzler Krosigk offenbar sämtliche Kabinettssitzungen nachholen wolle, die in zwölf Jahren Diktatur ausgefallen seien. Speer betonte immer wieder, dass er eine Reichsregierung für überflüssig halte, außerdem störte ihn die Zusammenarbeit mit den betrunkenen Beamten. Am 15. Mai bat er von Krosigk schließlich um seine Entlassung - vergeblich. Doch nun reichte es auch den Siegermächten.
Am selben Tag nahmen die Alliierten Ernährungsminister Backe und Verkehrsminister Dorpmüller fest, Wehrmachts-Chef Keitel war schon seit dem 13. Mai in Haft. Zehn Tage später bestellten die Briten Dönitz und zwei seiner engsten Mitarbeiter in ihr Flensburger Hauptquartier. Es sollte der letzte Ausflug der deutschen Staatsspitze werden.
Die Delegation ließ sich am folgenden Morgen in drei Wehrmachts-Limousinen zum Flensburger Hafen fahren, wo der Alliierte Kontrollrat auf dem deutschen Passagierschiff "Patria" residierte. Dönitz stapfte an diesem sonnigen 23. Mai in voller Uniform die Gangway hoch, in der Hand hielt er seinen Admiralsstab mit goldener Spitze. In einer Lounge trat US-Generalmajor Lowell Rooks vor die Deutschen, in seinen Händen hielt er ein Stück Papier: den Haftbefehl für das gesamte Kabinett.
Quelle
Hier noch einige Bildchen zu diesem Artikel:
Von Krosigk: Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk war innerhalb der Regierung Dönitz Leitender Reichsminister. Er hatte zudem die Posten Reichsminister der Finanzen und des Auswärtigen inne. Das Bild zeigt ihn am 23. Mai 1945 bei seiner Gefangennahme durch die Briten. Von Krosigk wurde 1949 im Rahmen der Nürnberger Prozesse als Kriegsverbrecher verurteilt. Nach seiner Haftentlassung 1951 arbeitete er als Publizist.
Unterzeichnung der Kapitulation: Am 7. Mai 1945 unterschreibt Generaloberst Alfred Jodl als Beauftragter des neuen Staatsoberhauptes Dönitz im französischen Reims die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht.
Kapitulation in Reims: Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im französischen Reims gibt Generaloberst Alfred Jodl, links, am 7. Mai 1945 vor Vertretern der alliierten Streitkräfte eine Erklärung ab. Rechts neben Jodl: Major Wilhelm Oxenius, verdeckt Admiral Hans-Georg von Friedeburg. In der hinteren Reihe 2. von links Frederick Morgan, rechts daneben François Sevez, Bedell Smith und Ivan Susloparov.
Karl Dönitz mit Adolf Hitler: Am 30. November 1944 empfängt Hitler Karl Dönitz, den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, im "Führerbunker". Kurz vor dem militärischen und politischen Zusammenbruch des "Dritten Reichs" und seinem Selbstmord übertrug Hitler Dönitz die Leitung des Deutschen Staates. Einen Tag nach Hitlers Tod übernimmt Dönitz das Amt des Reichspräsidenten am 1. Mai 1945.
Signatur im Bundesarchiv: Bild 183-V00538-3
Auf dem Weg zur Kapitulation: Die deutsche Delegation betritt am 8. Mai 1945 das Gelände des sowjetischen Hauptquartiers in Berlin-Karlshorst - vorne links Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, neben ihm Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg. In der Nacht zum 9. Mai unterschreibt Keitel als seine letzte Amtshandlung die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte - wie bereits zwei Tage zuvor Generaloberst Jodl in Reims im Beisein der Vertreter der westlichen Alliierten.
"Unbedingter Gehorsam": Nach Hitlers Tod wird am 1. Mai 1945 mit diesem Tagesbefehl die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Großadmiral Karl Dönitz bekanntgegeben. Dem von Hitler bestimmten Nachfolger sei "unbedingter Gehorsam zu leisten". Unterzeichnet wurde der Befehl von Generaloberst Georg Lindemann. ( Gilt heute noch in Braunschweiger Behörden)
Kanzler Goebbels: NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, hier 1936 auf Hitlers Berghof, war am 29. April 1945 am Ziel seiner politischen Träume angelangt, als ihn Hitler zum Reichskanzler ernannte. Zwei Tage später, am 1. Mai 1945, nahm sich Goebbels das Leben.
Albert Speer: Am 8. Februar 1942 hält Albert Speer seine erste Rede vor dem Reichskriegsministerium nach seiner Ernennung zum Reichsminister. In der Hitler-Nachfolgeregierung um Karl Dönitz war er Wirtschaftsminister, hielt die letzte Reichsregierung aber für überflüssig. Am 15. Mai bat er vergeblich um seine Entlassung, am 23. Mai wurde er von den britischen Alliierten schließlich verhaftet.
Otto Meissner: Adolf Hitler gratuliert dem Staatsminister und Leiter der Präsidialkanzlei, Otto Meissner, im März 1940 zum 60. Geburtstag. Meissner erhielt nach Hitlers Tod noch im Mai 1945 eine Schenkung vom "Führer" - 100.000 Reichsmark für treue Dienste. In der Regierung Dönitz behielt Meissner seine Ämter. Auch er wurde von den britischen Alliierten am 23. Mai 1945 in Flensburg verhaftet und nach Nürnberg überstellt. Der Prozess gegen ihn endete 1949 mit einem Freispruch. Ein weiteres Verfahren wurde 1952 - ein Jahr vor seinem Tod - eingestellt.
Otto Ohlendorf: Der stellvertretende Staatssekretär im Wirtschaftsministerium der Reichsregierung Dönitz, Otto Ohlendorf, aufgenommen um 1945, agierte de facto als Reichswirtschaftsminister, obwohl Albert Speer offiziell dieses Amt innehatte. Ohlendorf wurde 1948 zum Tod durch den Strang verurteilt und 1951 hingerichtet.
Verhaftung: Alfred Jodl, Albert Speer und Karl Dönitz, von links, werden am 23. Mai 1945 durch englische Soldaten in Flensburg begleitet. Mit der Verhaftung der Kabinettsmitglieder findet die Regierung Dönitz ihr Ende. Die "New York Times" titelte am nächsten Tag: "Heute starb das Deutsche Reich."
Signatur im Bundesarchiv: Bild 146-1985-079-31
Auf der Anklagebank: Die Nazigrößen Hermann Göring, Rudolf Hess, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel und Ernst Kaltenbrunner in der Gerichtssitzung vom 1. Januar 1946 in Nürnberg. Hinter ihnen sitzen Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach und Fritz Sauckel. Sie alle hatten im Gefängnis noch eifrig an den Rollen gefeilt, die sie hier spielen wollten. Dönitz wurde schließlich wegen "Durchführung eines Angriffskrieges" zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Wilhelm Stuckart: Der Staatssekretär im Reichsinnenministerium war maßgeblich am Entwurf der "Nürnberger Rassengesetze" beteiligt, mit denen die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie juristisch zu legitimieren versuchten. Stuckart, seit 1936 Mitglied in der SS, wurde in der Regierung Dönitz zum Reichsinnenminister und Kulturminister berufen.
In den Nürnberger Prozessen wurde Stuckart zwar als Kriegsverbrecher verurteilt, bekam aber aus gesundheitlichen Gründen eine milde Haftstrafe. Seine Inhaftierung während des Prozesses wurde auf die Strafe angerechnet, sodass er nach der Urteilsverkündung entlassen wurde. In der Bundesrepublik wurde er als "Mitläufer" eingestuft.
Regierungssitz: Die Marineschule Mürwik in Flensburg, hier ein Bild vom 29. April 2005, war im Mai 1945 Sitz der letzten geschäftsführenden, aber nicht anerkannten Regierung des "Dritten Reichs" um Reichspräsident Dönitz.
Wie sich das doch alles ähnelt mit der BRD GmbH
Hitler tot, der Krieg verloren - und sie machten munter weiter: Im Mai 1945 führte Karl Dönitz in Flensburg die letzte deutsche Reichsregierung. Die Truppe traf sich täglich zu Konferenzen und Korn, hisste die Reichsflagge und diskutierte über den Hitlergruß. Dann reichte es den Briten.
Eine Handvoll Männer betrat am 2. Mai 1945 im holsteinischen Eutin das provisorisch eingerichtete Besprechungszimmer. Im Landratsamt der Kreisstadt fand ein historisches Treffen statt: die erste Sitzung der letzten deutschen Reichsregierung. Zentraler Programmpunkt der Zusammenkunft: die Rede des neuen Staatsoberhauptes Karl Dönitz. Er sollte wenige Tage später das Ende des Zweiten Weltkriegs einleiten.
Das Ergebnis der ersten Kabinettssitzung fasste Dönitz' Adjutant Walter Lüdde-Neurath im Protokoll zusammen: "Die militärische Lage ist hoffnungslos", notierte der Protokollant, und: "Im gegenwärtigen Stadium muss es das Hauptziel der Regierung sein, möglichst viele deutsche Menschen vor der Vernichtung durch den Bolschewismus zu retten." Nach der Sitzung brach die sonderbare Truppe zu ihrem neuen Regierungssitz in Flensburg auf.
Dort fand in den folgenden drei Wochen eine der bizarrsten Politpossen der neueren deutschen Geschichte statt. In der Marineschule Mürwik, einem mächtigen Rotklinkerbau an der Flensburger Förde, spielte das Kabinett Dönitz Regierung in einem untergehenden Land. Mit Fanatismus, Verblendung und Starrsinn debattierten die Insolvenzverwalter über die Einrichtung eines Kirchenministeriums, den Sinn des Hitlergrußes nach dem Tod des "Führers" und wickelten den Nazi-Staat ab - unter heimlicher Freude der britischen Besatzer.
Begonnen hatte die Groteske am 30. April. Um 18.35 Uhr erreichte Großadmiral Dönitz an diesem Samstagabend ein Funkspruch von Parteisekretär Martin Bormann aus Berlin: Hitler habe ihn zu seinem Nachfolger erkoren. Dönitz antwortete noch in derselben Nacht, schwärmte vom "heroischen Kampf des deutschen Volkes" und versprach Hitler, ihn aus Berlin herauszuholen. Doch der Diktator war längst tot, wie Dönitz am nächsten Morgen erfuhr. Er selbst war jetzt Oberbefehlshaber der Wehrmacht - und Präsident des "Großdeutschen Reiches".
Der neue Reichskanzler: ein Graf
Die Regierung, die Hitler in seinem Testament vorgesehen hatte, konnte Dönitz aber nicht aufstellen: Joseph Goebbels hatte seine Kanzlerschaft nach einem Tag mit Zyankali beendet, Parteiminister Martin Bormann steckte sich einen Tag später ebenfalls eine Giftkapsel in den Mund. Dönitz baute sich also seinen eigenen Regierungsapparat. Auf einem sieben Kilometer langen Uferstreifen an der Flensburger Förde bildete er mit 350 altgedienten Bürokraten die neue Schaltzentrale des Reichs. Neun Minister halfen mit, den NS-Staat wie einen bankrotten Konzern abzuwickeln.
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Die britischen Besatzer waren über das Kuriositätenkabinett froh, denn sie wollten auch nach der Kapitulation einen offiziellen Ansprechpartner auf deutscher Seite haben. Dafür akzeptierten die Briten sogar das winzige Restreich im besetzten Schleswig: den "Sonderbereich Mürwik". Die deutsche Enklave sollte drei Wochen lang zum Schauplatz des letzten Aktes des "Dritten Reichs" werden. In den Hauptrollen: stramme Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher.
Innenminister wurde Wilhelm Stuckart, der 1942 auf der berüchtigten Wannsee-Konferenz am Plan für die Ermordung der europäischen Juden mitgefeilt hatte. Landwirtschaftsminister Herbert Backe hatte jahrelang die Aushungerungspolitik im besetzten Osteuropa vorangetrieben. Und Otto Ohlendorf, stellvertretender Staatssekretär im Wirtschaftsressort, war als Einsatzgruppenleiter im Russlandkrieg für die Ermordung Zehntausender Juden verantwortlich.
Andere Ressorts ließ Dönitz gleich in der Hand von Hitlers Ministern: So blieb Albert Speer der Mann für die Wirtschaft, Franz Seldte leitete weiter das Arbeitsressort, für Post und Verkehr war nach wie vor Julius Dorpmüller zuständig. Eine besondere Rolle hatte Dönitz sich für den bisherigen Finanzminister ausgedacht: Lutz Graf Schwerin von Krosigk übernahm zusätzlich die Ämter als Außenminister und "Leitender Reichsminister". Damit war er Hitlers Nachfolger als Kanzler.
In Hitlers Mercedes zur Kabinettssitzung
In den ersten Maitagen stand täglich derselbe Punkt auf der Regierungsagenda: Kapitulation. Ab dem 2. Mai schwiegen die Waffen in Italien, am 3. Mai flatterte auf dem Berliner Reichstagsgebäude die rote Sowjetflagge, am 4. Mai ordnete Dönitz die Kapitulation im Nordwesten an, in Bayern und Österreich gaben die Deutschen am 5. Mai auf. Schließlich schaffte Dönitz in der Wehrmacht widerwillig den Hitlergruß ab. Dem toten Diktator blieb er trotzdem treu.
Denn die Hitler-Bilder in den Flensburger Dienstzimmern wollte Dönitz partout nicht abhängen. Als die Briten selbst die ersten Führerporträts von den Wänden nahmen, behalf sich der Staatschef mit einem Trick: Dönitz ließ die Abbildungen des Diktators entfernen, aber nur aus den offiziellen Regierungsstellen, die für den Empfang von Briten vorgesehen waren. Auch die verbotene Reichsflagge flatterte auf Anordnung des Großadmirals im eigenen Hauptquartier weiter.
Dönitz blieb überzeugter Nazi, und er gab sich gerne präsidial. Die 500 Meter zwischen seiner Wohnung und dem Regierungssitz legte er weiterhin in Hitlers dunklem Mercedes zurück. Er ließ sich auch immer noch als "Herr Großadmiral" ansprechen. Ganz anders die übrigen Kabinettsmitglieder: Die mussten sogar eigene Gläser aus ihren Büros mitbringen, wenn sie bei den Regierungsbesprechungen einen Korn mittrinken wollten.
Der Ernährungsminister verteilt Schnaps
Zum Regieren trafen sich die Männer jeden Morgen um 10 Uhr. Im "Kabinettsitzungssaal", einem alten Klassenraum der Mürwiker Fähnrichschule, übernahm Kanzler Krosigk die Moderation der Debatten: Mal diskutierten die Minister über ein neues deutsches Hoheitszeichen, ein anderes Mal zerbrachen sich die Politiker den Kopf über eine Kabinettsreform oder erwogen die Ernennung eines Kirchenministers. Am skurrilsten waren jedoch die zahlreichen Pläne, die in den Ministerien für die Nachkriegszeit geschmiedet wurden.
Verkehrsminister Dorpmüller etwa behauptete, er könne die Infrastruktur in Deutschland innerhalb von sechs Wochen wieder aufpäppeln, Innenminister Stuckart schwadronierte in einem Memorandum über den juristischen Fortbestand des Deutschen Reiches. Und Staatssekretär Otto Ohlendorf schlug sogar vor, den "Sicherheitsdienst" wieder aufzubauen. Von einem Überwachungsapparat in bewährter deutscher Form könnten schließlich auch die Siegermächte profitieren.
Dönitz kümmerte sich lieber um die deutsche Soldatenehre: Am 18. Mai verordnete er, dass Hoheitsabzeichen, Orden und Militärauszeichnungen nicht von Uniformen entfernt werden dürften. Kurz zuvor hatte der Reichspräsident seinem Armee-Strategen Alfred Jodl noch feierlich das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen, nachdem dieser die deutsche Gesamtkapitulation unterzeichnet hatte.
Zu den gefragtesten Politikern gehörte in diesen Wochen Ernährungsminister Herbert Backe: Sein Fachressort war dafür zuständig, die Verwaltungsangestellten mit Schnaps aus dem Lagerbestand des Ministeriums zu versorgen. Die beschwipsten Regierungsmitarbeiter produzierten trotzdem Protokolle und Denkschriften im Akkord und legten den Alliierten permanent Vorschläge und Statistiken vor. Dass die pausenlose Produktion von Dokumenten sinnlos geworden war, realisierte schließlich auch das Kabinett: Mitte Mai diskutierten die Minister erstmals über einen geschlossenen Rücktritt, ließen die Idee aber wieder fallen. Das Regieren ging weiter.
"Heute starb das Deutsche Reich"
Nur einer wollte seinen Posten als Minister am liebsten loswerden: Albert Speer. Er bemäkelte, dass Kanzler Krosigk offenbar sämtliche Kabinettssitzungen nachholen wolle, die in zwölf Jahren Diktatur ausgefallen seien. Speer betonte immer wieder, dass er eine Reichsregierung für überflüssig halte, außerdem störte ihn die Zusammenarbeit mit den betrunkenen Beamten. Am 15. Mai bat er von Krosigk schließlich um seine Entlassung - vergeblich. Doch nun reichte es auch den Siegermächten.
Am selben Tag nahmen die Alliierten Ernährungsminister Backe und Verkehrsminister Dorpmüller fest, Wehrmachts-Chef Keitel war schon seit dem 13. Mai in Haft. Zehn Tage später bestellten die Briten Dönitz und zwei seiner engsten Mitarbeiter in ihr Flensburger Hauptquartier. Es sollte der letzte Ausflug der deutschen Staatsspitze werden.
Die Delegation ließ sich am folgenden Morgen in drei Wehrmachts-Limousinen zum Flensburger Hafen fahren, wo der Alliierte Kontrollrat auf dem deutschen Passagierschiff "Patria" residierte. Dönitz stapfte an diesem sonnigen 23. Mai in voller Uniform die Gangway hoch, in der Hand hielt er seinen Admiralsstab mit goldener Spitze. In einer Lounge trat US-Generalmajor Lowell Rooks vor die Deutschen, in seinen Händen hielt er ein Stück Papier: den Haftbefehl für das gesamte Kabinett.
Quelle
Hier noch einige Bildchen zu diesem Artikel:
Von Krosigk: Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk war innerhalb der Regierung Dönitz Leitender Reichsminister. Er hatte zudem die Posten Reichsminister der Finanzen und des Auswärtigen inne. Das Bild zeigt ihn am 23. Mai 1945 bei seiner Gefangennahme durch die Briten. Von Krosigk wurde 1949 im Rahmen der Nürnberger Prozesse als Kriegsverbrecher verurteilt. Nach seiner Haftentlassung 1951 arbeitete er als Publizist.
Unterzeichnung der Kapitulation: Am 7. Mai 1945 unterschreibt Generaloberst Alfred Jodl als Beauftragter des neuen Staatsoberhauptes Dönitz im französischen Reims die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht.
Kapitulation in Reims: Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im französischen Reims gibt Generaloberst Alfred Jodl, links, am 7. Mai 1945 vor Vertretern der alliierten Streitkräfte eine Erklärung ab. Rechts neben Jodl: Major Wilhelm Oxenius, verdeckt Admiral Hans-Georg von Friedeburg. In der hinteren Reihe 2. von links Frederick Morgan, rechts daneben François Sevez, Bedell Smith und Ivan Susloparov.
Karl Dönitz mit Adolf Hitler: Am 30. November 1944 empfängt Hitler Karl Dönitz, den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, im "Führerbunker". Kurz vor dem militärischen und politischen Zusammenbruch des "Dritten Reichs" und seinem Selbstmord übertrug Hitler Dönitz die Leitung des Deutschen Staates. Einen Tag nach Hitlers Tod übernimmt Dönitz das Amt des Reichspräsidenten am 1. Mai 1945.
Signatur im Bundesarchiv: Bild 183-V00538-3
Auf dem Weg zur Kapitulation: Die deutsche Delegation betritt am 8. Mai 1945 das Gelände des sowjetischen Hauptquartiers in Berlin-Karlshorst - vorne links Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, neben ihm Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg. In der Nacht zum 9. Mai unterschreibt Keitel als seine letzte Amtshandlung die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte - wie bereits zwei Tage zuvor Generaloberst Jodl in Reims im Beisein der Vertreter der westlichen Alliierten.
"Unbedingter Gehorsam": Nach Hitlers Tod wird am 1. Mai 1945 mit diesem Tagesbefehl die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Großadmiral Karl Dönitz bekanntgegeben. Dem von Hitler bestimmten Nachfolger sei "unbedingter Gehorsam zu leisten". Unterzeichnet wurde der Befehl von Generaloberst Georg Lindemann. ( Gilt heute noch in Braunschweiger Behörden)
Kanzler Goebbels: NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, hier 1936 auf Hitlers Berghof, war am 29. April 1945 am Ziel seiner politischen Träume angelangt, als ihn Hitler zum Reichskanzler ernannte. Zwei Tage später, am 1. Mai 1945, nahm sich Goebbels das Leben.
Albert Speer: Am 8. Februar 1942 hält Albert Speer seine erste Rede vor dem Reichskriegsministerium nach seiner Ernennung zum Reichsminister. In der Hitler-Nachfolgeregierung um Karl Dönitz war er Wirtschaftsminister, hielt die letzte Reichsregierung aber für überflüssig. Am 15. Mai bat er vergeblich um seine Entlassung, am 23. Mai wurde er von den britischen Alliierten schließlich verhaftet.
Otto Meissner: Adolf Hitler gratuliert dem Staatsminister und Leiter der Präsidialkanzlei, Otto Meissner, im März 1940 zum 60. Geburtstag. Meissner erhielt nach Hitlers Tod noch im Mai 1945 eine Schenkung vom "Führer" - 100.000 Reichsmark für treue Dienste. In der Regierung Dönitz behielt Meissner seine Ämter. Auch er wurde von den britischen Alliierten am 23. Mai 1945 in Flensburg verhaftet und nach Nürnberg überstellt. Der Prozess gegen ihn endete 1949 mit einem Freispruch. Ein weiteres Verfahren wurde 1952 - ein Jahr vor seinem Tod - eingestellt.
Otto Ohlendorf: Der stellvertretende Staatssekretär im Wirtschaftsministerium der Reichsregierung Dönitz, Otto Ohlendorf, aufgenommen um 1945, agierte de facto als Reichswirtschaftsminister, obwohl Albert Speer offiziell dieses Amt innehatte. Ohlendorf wurde 1948 zum Tod durch den Strang verurteilt und 1951 hingerichtet.
Verhaftung: Alfred Jodl, Albert Speer und Karl Dönitz, von links, werden am 23. Mai 1945 durch englische Soldaten in Flensburg begleitet. Mit der Verhaftung der Kabinettsmitglieder findet die Regierung Dönitz ihr Ende. Die "New York Times" titelte am nächsten Tag: "Heute starb das Deutsche Reich."
Signatur im Bundesarchiv: Bild 146-1985-079-31
Auf der Anklagebank: Die Nazigrößen Hermann Göring, Rudolf Hess, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel und Ernst Kaltenbrunner in der Gerichtssitzung vom 1. Januar 1946 in Nürnberg. Hinter ihnen sitzen Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach und Fritz Sauckel. Sie alle hatten im Gefängnis noch eifrig an den Rollen gefeilt, die sie hier spielen wollten. Dönitz wurde schließlich wegen "Durchführung eines Angriffskrieges" zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Wilhelm Stuckart: Der Staatssekretär im Reichsinnenministerium war maßgeblich am Entwurf der "Nürnberger Rassengesetze" beteiligt, mit denen die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie juristisch zu legitimieren versuchten. Stuckart, seit 1936 Mitglied in der SS, wurde in der Regierung Dönitz zum Reichsinnenminister und Kulturminister berufen.
In den Nürnberger Prozessen wurde Stuckart zwar als Kriegsverbrecher verurteilt, bekam aber aus gesundheitlichen Gründen eine milde Haftstrafe. Seine Inhaftierung während des Prozesses wurde auf die Strafe angerechnet, sodass er nach der Urteilsverkündung entlassen wurde. In der Bundesrepublik wurde er als "Mitläufer" eingestuft.
Regierungssitz: Die Marineschule Mürwik in Flensburg, hier ein Bild vom 29. April 2005, war im Mai 1945 Sitz der letzten geschäftsführenden, aber nicht anerkannten Regierung des "Dritten Reichs" um Reichspräsident Dönitz.
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