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Ach herrje, Europa

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Beitrag  checker Mo März 19, 2012 10:32 am

François Hollande und Peter Sloterdijk diskutieren in Straßburg über die Zukunft des Kontinents

Warum wenden sich die Wähler von Europa ab? Wie soll sich ein Staatsmann gegenüber diesem Frust verhalten? Hollande gibt sich nachdenklich

Es gibt Tage, an denen läuft das alte Europa noch einmal kurz zu alter, großer Form auf. Der vergangene Freitag war so ein Tag. In der Straßburger Oper diskutierten der Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten, François Hollande, und der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk eine gute Stunde lang miteinander. Danach verließ man die Oper mit dem angenehmen Gefühl, dass das mit Europa vielleicht doch noch etwas werden könnte, zumindest wenn die Debatte gelegentlich ein solches Niveau erreichen würde. Nur leider geschieht das ja nicht allzu häufig. Was möglicherweise auch daran liegt, dass deutsche Philosophen und französische Politiker sich grundsätzlich selten austauschen. Noch rarer sind nur die Gelegenheiten, wo deutsche Politiker mit französischen Philosophen sprechen.

Das französische Nachrichtenmagazin "Nouvel Observateur" brachte Sloterdijk und Hollande im Rahmen der "Journées de Strassburg" zusammen, einer dreitägigen Debattenveranstaltung über "Diese Welt, die sich wandelt". Die Paarung hatte schon deshalb ihren speziellen Reiz, weil beide Diskutanten in jüngerer Zeit durch eher unkonventionelle Steuerreformvorschläge aufgefallen sind. Der in Karlsruhe lehrende Sloterdijk würde die Einkommensteuer gern durch eine gelebte Paradoxie ersetzen: die Selbstverpflichtung zur freiwilligen Gabe. Hollande hingegen hat in sein Wahlprogramm eine Maßnahme aufgenommen, die ohne die kritische Selbstreflexion des zahlungsbereiten Citoyens auskommt: Er will im Falle eines Wahlsieges Einnahmen jenseits von einer Million Euro satt mit 75 Prozent versteuern.

Hollande zeigte sich zu Beginn der Diskussion ausgesprochen dankbar, "mit einem Philosophen" diskutieren zu dürfen. "Das ist mal etwas anderes." Das Publikum lacht laut auf, denn es hatte am Vorabend eine wenig kultivierte Diskussion zwischen dem Präsidentschaftskandidaten und dem Parteichef der konservativen UMP, Jean-François Copé, im französischen Fernsehen erleben dürfen, in der Copé sich vorgenommen hatte, Hollande durch konsequent lautes Dazwischenquatschen aus dem Konzept zu bringen. Hier nun konnte Hollande ungestört die These entfalten, dass viele Bürger sich von Europa abgewandt hätten, weil sie das Gefühl haben, "das Volk könne nicht mehr selbst über sein eigenes Schicksal entscheiden". Deshalb erscheine den Bürgern jedes politische Versprechen suspekt. Der Effekt, so Hollande, sei ein doppelter: ein Gefühl der "Enteignung" und der "Desillusionierung". Die permanente Kluft zwischen den Versprechen der Politiker und ihren Handlungen führe zu einer Abkehr von der Politik, zum Wunsch nach Rückzug hinter alte Grenzen. Deshalb sei er überzeugt, dass es Phasen gebe, in denen "ein Volk sich eines gemeinsamen Zieles wegen einigen müsse. Dieses Ziel zu formulieren und zu erklären sei Aufgabe des Staatschefs, denn ohne ein Element der Hoffnung könne Politik nicht tragen: "Wenn es uns nicht gelingt, dem Projekt Europa einen Sinn zu verleihen, wird die Demokratie beschädigt", sagte Hollande, dem man zugute halten darf, dass er inmitten seines kräftezehrenden Wahlkampfmarathons noch die Muße hat, auf dem Ansatz einer Meta-Ebene sein Tun zu reflektieren.

Sloterdijk tat dann, was des Philosophen ist, und liftete die Debatte mittels zweier Zitate in luftigere Sphären. Laut Nietzsche sei der "Mensch, der versprechen kann", Ermöglichungsgrund jeder höheren Form menschlicher Zivilisation. Von Hannah Arendt wiederum stamme der Satz, die einzige Möglichkeit, die Zukunft zu kennen, sei, ein Versprechen zu machen und es einzuhalten. Zwischen diesen Sentenzen bestimmte Sloterdijk Politik als Wette auf die Unwahrscheinlichkeit, ein Versprechen einhalten zu wollen, und Geschichte bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein als den Versuch, die Kategorie des Zufalls aus der Politik zu eliminieren. Die derzeitige Epoche sei aber eher durch eine "Rückkehr ins Reich des Zufalls" geprägt. Für den Politiker in dieser Zeit bestehe die Herausforderung darin, ein "Versprechen zu machen, das nicht in den kollektiven Zynismus führt". Hollande, so Sloterdijk wohlwollend, scheine sich dessen bewusst zu sein, auch wenn er momentan den Gepflogenheiten des französischen Wahlkampfes unterworfen sei. Was unter diesem Vorzeichen geschehe, so der deutsche Philosoph, müsse man dann aber vielleicht doch nicht allzu ernst nehmen. Wenn man den russischen Philosophen Michail Bachtin lese, wisse man ja, dass es eine Verbindung zwischen Karneval und Politik gebe. Diese sei nun in den gelegentlich delirierenden Äußerungen der Kandidaten vor der ersten Runde der Wahl wieder zu erkennen. Ab der zweiten Runde werde es dann ernst, hofft Sloterdijk noch.

Hollande griff die Frage nach der Rolle des Staatsmanns, der Versprechen macht, auf. Er sei weder "Cowboy", noch könne er viel mit "Metaphern aus dem maritimen Bereich" anfangen. Solche Bilder strapaziert in diesem Wahlkampf Nicolas Sarkozy gern: der Kapitän, der im Sturm Kurs hält. Ihm läge an einer "Rehabilitierung des Versprechens", so Hollande, denn das "republikanische Versprechen" bestehe nun einmal darin, dass die nächste Generation besser leben könne als die vorherige, deshalb sei es notwendig, sich als Nation ein gemeinsames Ziel zu setzen. Obama sei es in seiner letzten Kampagne gelungen, solche Hoffnungen zu wecken. Nun sei der französische Traum "nicht unbedingt, Milliardär zu werden", sondern bescheidener, er bestehe aus dem Recht auf Zugang zur Republik, im Ideal der Gleichheit. Deshalb, so Hollande, lege er in seinem Programm so viel wert auf die Stärkung der Schulen.

Hollande entschuldigte sich dafür, dass er gelegentlich in seinen eigenen Wahlkampftonfall zurückfalle, "aber das ist halt eine Sache, die mich gerade beschäftigt". Was ihre Steuerkonzepte betrifft, konnten sich die Diskutanten erwartungsgemäß nicht annähern. Sloterdijk öffnete noch das Fass, wieso Europa eigentlich seinen historischen Elan verloren habe. Der Philosoph vermutet, dass sich Europas größte Tugend, die Fähigkeit zum Selbstzweifel, inzwischen gegen den Fragenden wendet. Die schwungvollen Europäer seien irgendwann mitsamt ihrem Elan nach Amerika ausgewandert. Dort glaube man nach wie vor an das "Versprechen aller Versprechen", die "neue Weltordnung". Die große Herausforderung Europas liege in der Rückbesinnung auf seine Kräfte. Man habe die beachtliche Leistung vollbracht, nach der Selbstzerstörung in zwei Kriegen eine "postheroische Gesellschaft" aufzurichten. Was uns heute fehlt, sagt Sloterdijk, "sind die Helden des Postheroischen".

François Hollande, der seit dreißig Jahren Politik macht, ohne dabei besonders aufgefallen zu sein, wäre für eine solche Rolle vielleicht nicht der schlechteste Kandidat. Er kann zuhören. Es fällt angenehm auf, dass er als "Enarch" - als Absolvent französischer Elite-Universitäten - die Kunst der Debatte beherrscht.

Peter Sloterdijk, der ein exzellentes Französisch nuschelt, gab dem Sozialisten dann noch den Ratschlag eines Humanisten mit auf den Weg zurück in den Straßenkarneval des Wahlkampfes: François Hollande möge doch damit aufhören, "die Reichen" allein als Bösewichte zu zeichnen. Die seien auch Teil der Menschheit.

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