Das Ende der Schweigepflicht
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Das Ende der Schweigepflicht
Mit der Gesundheitsreform sollten Krankenhäuser effizienter, billiger, transparenter werden. Die Operation ist gelungen. Aber den Patienten geht es nicht gut. Fünf Klinikärzte berichten aus ihrem Alltag
Ein Gespräch mit einem Arzt. Er erzählte aus einem kleinen Krankenhaus auf dem Land, in dem Patienten immer schlechter behandelt würden. Es ging dabei nicht um einzelne Pfuscher oder Kunstfehler, sondern um ein Phänomen, das jeden Winkel seiner Arbeit erreicht hatte: einen Dauer- konflikt zwischen dem Wohl der Patienten und dem der Klinik.
Ein Einzelfall? Ein Wald-und-Wiesen-Krankenhaus, das im Verteilungskampf um begrenzte Mittel besonders verantwortungslos handelte? Wenn man Ärzten in Deutschland zuhört, ergibt sich ein deutliches Bild: In den Krankenhäusern tobt ein Kampf ums Überleben. Nicht nur um das von Patienten, sondern auch um das der Kliniken selbst, die seit der Gesundheitsreform des Jahres 2000 in einen Wettbewerb miteinander gezwungen wurden, der sie effizienter machen sollte. Was auch gelungen ist: Die durchschnittliche Liegedauer wurde zwischen 2000 und 2010 von 9,7 Tagen auf 7,8 Tage reduziert; die Ausgaben für Krankenhausbehandlungen in Deutschland betragen seit vielen Jahren, trotz alternder Bevölkerung, um die 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Was diese Zahlen auf den Stationen bedeuten, das haben uns fünf Ärztinnen und Ärzte geschildert. (Einige medizinisch nicht relevante Details wurden so verändert, dass sie und ihre Patienten nicht wiedererkennbar sind.)
Kreiskrankenhaus, Land, Assistenzarzt
Es ist 3.30 Uhr, als Assistenzarzt mache ich gerade die vierte Nachtschicht in Folge. An diesem Morgen bin ich in der Notaufnahme, einem Flachbau, an dem lange nichts renoviert wurde. Wenn man so übermüdet vor seinem Kaffee sitzt, hört man den Summton der Neonröhren und das Piepsen der Monitore – bis ein Martinshorn die Monotonie unterbricht. Der Rettungsdienst schiebt eine Liege herein: eine etwa 70-jährige Frau. Ihr rechter Arm und das rechte Bein sind gelähmt, sie kann nicht mehr sprechen. Der Ehemann berichtet, sie sei am Abend gegen 23 Uhr zu Bett gegangen, kurz vor drei sei er von ihren röchelnden Lauten geweckt geworden. Die Lage ist schnell klar, ein Schlaganfall, ausgelöst durch ein Blutgerinnsel im Gehirn. Die einzige Möglichkeit, die Durchblutung wiederherzustellen, also den Schlaganfall ganz oder teilweise rückgängig zu machen, wäre eine Thrombolyse: die Auflösung des Gerinnsels durch ein Medikament. Das Zeitfenster ist eng. Das Mittel darf nicht später als viereinhalb Stunden nach Beginn des Schlaganfalls gespritzt werden. Aber wann genau war der? Um zu wissen, ob mit der Lyse, wie das Verfahren im Krankenhausjargon genannt wird, noch etwas zu retten ist, brauche ich einen Kernspintomografen. Unsere Klinik besitzt ein solches Gerät. Aber jetzt steht es still: Wir haben nicht genug Personal, um es rund um die Uhr zu betreiben. Für eine Verlegung in eine andere Klinik ist es zu spät. Ich hole tief Luft und gehe zurück an das Bett der Patientin. Ihr Mann sitzt zusammengesackt am Kopfende des Bettes. Ich sage: »Wir können leider nicht mehr viel tun für Ihre Frau.«
Als es hell wird, schaue ich noch mal bei ihr vorbei. Sie scheint mich wiederzuerkennen und versucht zu sprechen. Aber es kommen nur unverständliche Laute. Sie bricht sofort ab, Tränen in den Augen.
Ein paar Tage später. Ich habe mir einen Termin beim Geschäftsführer geben lassen. Das Wort »Problem« kommt bei ihm nicht vor. Er kennt nur »Herausforderungen«, die er »annehmen« und »am Ende des Tages« bewältigen wird. Seine Aufgabe ist es, die Klinik aus den roten Zahlen herauszuholen. Also spart er: Ein Teil der Schwestern wurde durch billige Stationshilfen ersetzt, der Koch wurde nach 30 Jahren gefeuert. Ich erzähle ihm die Geschichte der Schlaganfallpatientin. Betretenes Schweigen. Immerhin, denke ich.
Ich müsse verstehen, die Klinik befinde sich in einer schwierigen Phase der »Umstrukturierung«. Die Vorhaltung von Personal, das man brauchte, um den Kernspintomografen nachts zu betreiben, sei teuer, insgesamt sei die Abteilung aber »gut aufgestellt«.
Ich begreife: Die Röhre muss brummen und lückenlos gefüllt sein, damit sie sich rentiert. Also wird der Kernspintomograf nur von 8 bis 18 Uhr hochgefahren, denn dann sind die Patienten für eine reibungslose Abfertigung da. Aber nachts, wenn die Maschine für Patienten da sein müsste, steht sie still.
Aber das sage ich nicht. Ich stehe kurz vor meiner Beförderung zum Facharzt. Und der Mann mir gegenüber entscheidet mit, ob ich in ein paar Jahren Oberarzt werde.
Die Frage bleibt: Warum haben wir dieser Frau nicht geholfen? Weil an Personal gespart wird. Warum wird an Personal gespart? Weil unser Kreiskrankenhaus im Wettbewerb gegen drei andere Kreiskrankenhäuser bestehen will, die sich gegen die Zusammenlegung wehren. Lieber graben sie sich gegenseitig das Wasser ab. Um diesen sinnlosen Wettbewerb zu gewinnen, muss jedes Haus die Kosten verringern und die Einnahmen erhöhen. Und Schlaganfälle sind lukrativ: Seit Krankenhäuser nicht mehr nach Tagessätzen bezahlt werden, sondern für jeden Patienten eine Pauschale bekommen, die von seiner Diagnose abhängt, gilt die Schlaganfallbehandlung als gutes Geschäft. Bei über hundert Patienten im Jahr ist das eine wichtige Einnahmequelle für uns. Diese Fälle nachts in die eine Stunde entfernte Spezialklinik abzugeben wäre wirtschaftlicher Selbstmord. Die Frage lautet nicht: Was braucht es, um die Bevölkerung einer Region gut zu versorgen, sondern: Was ist gut für unsere Bilanz?
Wie kann man die Beiträge für die Krankenversicherungen stabil halten? Wie kann man dafür sorgen, dass die Gelder direkt in die Therapien fließen? Wie verhindern, dass die gleiche Leistung überall unterschiedlich viel kostet? Das waren die Kernfragen hinter der Gesundheitsreform des Jahres 2000. Die Antwort lautete: mehr Effizienz, Transparenz, Wettbewerb. Das Abrechnungssystem, das dies bewirken sollte, heißt DRG, Diagnosis Related Groups. Es wurde 2003 eingeführt und bedeutet, dass Krankenhäuser nicht mehr nach Liegedauer bezahlt werden, sondern eine Pauschale bekommen, die sich nach der Einlieferungsdiagnose richtet. Während das alte System einen Anreiz schuf, die Dauer des Aufenthaltes unnötig in die Länge zu ziehen, sollte das neue System Effizienz belohnen. So gibt es zurzeit 3.500 Euro für eine Blinddarmoperation. Davon müssen alle Kosten gedeckt werden. Wenn etwas übrig bleibt, kann die Klinik das Geld verwenden, um ihre Attraktivität zu steigern, beispielsweise durch modernere Zimmer.
Zwei Monate nachdem die Frau bei uns eingeliefert wurde, lasse ich mir den Entlassbrief aus der Reha kommen. Daraus geht hervor: Sie stammelt immer wieder dieselben Silben, versteht offenbar nur Bruchstücke. Ihre rechte Körperhälfte ist gelähmt, sie kann nur mit Hilfe aufgesetzt werden. Oft sitzt sie stundenlang reglos da. Vor der Entlassung wird ein Rollstuhl nach Hause geliefert, ein Toilettenstuhl, ein Pflegebett. Ihr Mann erzählte, dass sie vor dem Schlaganfall dreimal die Woche für ihre Enkel gekocht habe. Im Winter waren sie noch gemeinsam langlaufen. In einer gut ausgerüsteten Klinik hätte sie eventuell eine Chance gehabt, wieder in dieses Leben zurückzukehren. Jetzt hat sie Pflegestufe 3. Während unser Haus effizienter wurde, sind anderswo höhere Kosten entstanden.
Professor Peter Ringleb, Neurologische Universitätsklinik Heidelberg und Schlaganfallexperte: »Eine Kernspintomografie für Schlaganfallpatienten mit unbestimmtem Symptombeginn rund um die Uhr vorzuhalten ist bisher nicht Standard. Auch weil bisher nicht sicher geklärt ist, ob eine Kernspin-basierte Lyse tatsächlich die beste Therapie ist. Sicher ist: Die Heilungsaussichten sind besser, wenn ein Patient in eine spezialisierte Schlaganfall-Abteilung verlegt wird. Das geschieht – auch aus ökonomischen Gründen – leider nicht immer.«
Es gibt noch eine Herausforderung, die unser Geschäftsführer bewältigen muss: In den letzten Jahren haben mehr als 15 Kollegen unsere Klinik verlassen. Sie gehen, weil sie Ärzte sein wollen und keine BWLer.
Über ein Jahr lang fand sich für die Assistenzarztstelle in der Inneren Medizin kein deutschsprachiger Bewerber. Man behalf sich mit einem sogenannten Gastarzt. Er kommt aus Osteuropa, ist Mitte 40, seine fachlichen Kenntnisse sind mager, seine Deutschkenntnisse ebenso. Niemand hat sich Zeit genommen für seine Weiterbildung. Obwohl er kaum zu verstehen ist, besetzt er die Notaufnahme oft allein.
An diesem Vormittag trifft er auf eine Frau Mitte 80. Am Morgen war sie in ihrem Pflegeheim apathisch und verwirrt im Bett gefunden worden. Sie hat Diabetes, die Niere arbeitet auf Sparflamme, sie nimmt eine Menge Tabletten. Die Schwester wird mir später schildern, wie der Kollege versucht hat, mit der Patientin zu kommunizieren. Vergeblich: Sie versteht seinen Akzent nicht, und er hat Probleme mit ihrem Dialekt. Blutdruck, Blutzucker, EKG sind in Ordnung. Jetzt müsste eine gute Anamnese her: Wie ging es ihr gestern? Hatte sie Schmerzen oder einen Infekt? Ist sie gestürzt? Weil er wenig Hoffnung hat, eine Antwort zu bekommen, kümmert er sich lieber um den nächsten Patienten.
Eine halbe Stunde später schaut der Oberarzt vorbei. Jetzt wäre es seine Aufgabe, das, womit der Assistenzarzt überfordert ist, zu ergänzen. Aber er hat keine Zeit, bereits im Gehen sagt er: »Dann machen Sie halt eine Lumbalpunktion!« Es könnte ja auch eine Meningitis sein, das müsse man klären. Die Lumbalpunktion, bei der eine lange Nadel in der Höhe der Lendenwirbelsäule von hinten in den Kanal des Rückenmarks gestochen wird, gelingt erst beim dritten Versuch und verursacht, wenn sie von einem Ungeübten wie meinem Kollegen durchgeführt wird, fürchterliche Schmerzen. Als die Frau am Nachmittag auf meine Station verlegt wird, stöhnt sie immer noch leise.
An ihrer Adresse erkenne ich das Heim, in dem sie lebt. Ich kenne den Hausarzt, der das Heim betreut. Ich rufe ihn an und lasse mir die Liste ihrer Medikamente geben. Lyrica, ein Mittel gegen Nervenschmerzen, nimmt sie in höherer Dosis, als es ihre schlechte Nierenfunktion erlaubt. Falsch dosiert, verursacht es Bewusstseinsstörungen und Verwirrtheit, also genau die Symptome, derentwegen sie eingeliefert wurde.
Ich lasse ihr eine Infusion anhängen und setze das Medikament ab. Am nächsten Tag ist sie wieder wach und klar bei Sinnen.
Rettungswagen, Grossstadt, Notärztin
Ein Ambulanzfahrzeug mit einer alten Frau irrt stundenlang durch die Stadt. Keiner will sie aufnehmen. Sie ist – wie alle alten Patienten – ein »schlechtes Risiko«. Im neuen System hängt das Betriebsergebnis davon ab, wie schnell man den Patienten wieder loswird. Die Folge: Alle wollen junge Patienten, die schnell wieder auf den Beinen sind.
Ich arbeite als Notärztin auf einem Rettungswagen. Morgens wird eine Liste mit freien Betten an den Stützpunkt gefaxt. Wenn ich ein paar Stunden später einen alten, womöglich bettlägerigen Patienten bekomme, kann es sein, dass alle belegt sind.
Meistens nimmt eine Krankenschwester ab: »Was habt ihr denn?« Dann folgt eine Art Verkaufsgespräch.
»85-Jährige, Verdacht auf Schlaganfall.«
Man möchte nichts verheimlichen, aber man muss auch nicht alles sagen. Zum Beispiel würde ich es niemals von mir aus ansprechen, wenn die Patientin im Heim lebt – wegen der schlechteren Rehabilitierungsaussichten. Nur wenn die Schwester danach fragt, gebe ich es zu. Dann ist die Antwort fast immer, dass leider kein Bett frei sei. Jederzeit willkommen sind: Knochenbrüche, Herzinfarktpatienten unter 75. Das sind »gute Risiken«. Die werden mir normalerweise beim ersten Anruf abgenommen.
Wenn ich für die Heimpatientin kein Bett finde, fahre ich irgendwann ein Haus an, von dem ich nach dem Bettenplan vom Morgen vermute, dass es doch noch nicht voll ist. Dort kann es passieren, dass man persönlich für den Patienten verantwortlich gemacht wird. In einem städtischen Krankenhaus ist es besonders unangenehm: Sie gehen grob und geringschätzig mit diesen alten Leuten um, und als Ärztin muss man schon fragen, wenn man sich die Hände waschen will.
Das Problem vieler öffentlicher Kliniken ist, dass die jungen Patienten eher zu den privaten gehen. Diese werben im Internet mit der Ausstattung, dem Essen. Das zieht Leute an, die es sich aussuchen können, die schnell wieder entlassen werden können und ein Plus in der Bilanz hinterlassen. Viele private Kliniken sitzen zudem eher in den Randbezirken und beteiligen sich gar nicht an der Notversorgung. Oder sie machen nur Hüftgelenke auf Bestellung. Kommt eine Oma mit Oberschenkelhalsbruch, sagen sie, dass sie sie leider mangels Nachtwache nicht aufnehmen können. Aber einer muss es ja machen. Dann geht der Fall an die nächste, meist öffentliche Klinik, die dabei immer ärmer wird. Es ist wie bei den Banken: Die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert.
Wer nicht kostendeckend arbeitet, kämpft im DRG-System ums Überleben. 2003 prognostizierte Karl Lauterbach, damals im Institut für Gesundheitsökonomie, bis 2010 werde jede vierte Klinik von Fusion, Verkauf oder Schließung betroffen sein. Tatsächlich hat sich zwischen 2004 und 2010 die Zahl der Krankenhäuser von 2166 auf 2064 reduziert; die Zahl der Kliniken in privater Trägerschaft ist von 444 auf 570 gestiegen.
Gemeinnützige Krankenhaus, Stadt, Unfallchirurg
Vor etwa sieben Jahren hörte ich das Wort zum ersten Mal: Zielleistungsvereinbarungen. Das sind Bonusverträge, wie sie unser Haus damals leitenden Ärzten anbot. Dabei wird ein Teil des Gehaltes – etwa zehn Prozent – vom Erreichen eines bestimmten Ziels abhängig gemacht. Ich bin Unfallchirurg, und mein Ziel sollte der Aufbau einer Ambulanz sein. Ich unterschrieb.
Vier Jahre später hatte ich wieder einen Termin beim Geschäftsführer. Diesmal hatte er ein anderes Ziel vorgesehen: Am Jahresende würde ich 5.000 Euro bekommen, wenn ich dafür sorgte, dass die Zahl der »Case-Mix-Punkte« in meinem Bereich – der Wirbelsäulenchirurgie – jährlich um zwei Prozent steigt. (Im DRG-System gibt es für jede therapeutische Maßnahme eine bestimmte Punktezahl, aus der sich die Summe errechnet, die das Krankenhaus von der Kasse bekommt.) Ich sagte, dass ich keinen Sinn darin sähe, einen solchen Vertrag zu unterschreiben, weil ich weder die Zahl der Patienten noch ihre Krankheiten oder ihre Therapien beeinflussen könne, lehnte dankend ab und ging.
Allerdings haben schätzungsweise 80 Prozent der Chef- und Oberärzte in meinem Krankenhaus eine derartige Zielleistungsvereinbarung unterschrieben. Konkret heißt das, dass sie jedes Jahr entweder mehr Patienten brauchen oder mehr Diagnosen stellen müssen, die viele Punkte bringen.
Eine extrem punkteträchtige Operation ist zum Beispiel die Vertebroplastie, das Einspritzen von Knochenzement in die Wirbelsäule. Sie wird vor allem bei älteren Patientinnen mit osteoporotischen Brüchen gemacht. Die Operation ist eigentlich nur dann notwendig, wenn die Wirbelkörper stark deformiert sind oder eine konservative Behandlung nichts gebracht hat. Andernfalls helfen Schmerzmittel und Krankengymnastik ebenso gut. Allerdings gibt es dafür kaum Punkte. Die Risiken einer Operation trägt der Patient. Der Zement kann die Nerven schädigen; es kann zu Infektionen kommen. Sicher ist: Man sollte keinen Menschen einer Operation aussetzen, wenn man dasselbe Ergebnis mit Krankengymnastik erreichen kann.
Einmal pro Woche gibt es auf unserer Station eine Röntgenkonferenz, bei der alle Operationen besprochen werden. Ein Kollege stellte eine Patientin vor, die zur Vertebroplastie vorgesehen war. Es war eine 70-jährige Dame, die seit 48 Stunden im Haus war und seit sieben Tagen Rückenschmerzen hatte. Keiner hatte versucht, sie konservativ zu behandeln. Akute Gefahr drohte nicht. Ich fand die Operation verfrüht.
»Ist die vorbehandelt?«, fragte ich.
»Nein«, sagte der Kollege, »aber sie hat starke Schmerzen und wünscht den Eingriff.«
Juristisch ist er damit auf der sicheren Seite. Würde er die Frau mit Schmerzmitteln und Krankengymnastik behandeln und anschließend fragen, ob sie sich operieren lassen wolle, würde sie erfahrungsgemäß ablehnen.
Aber das sagte ich nicht. Es hat keinen Sinn, eine Grundsatzdiskussion vom Zaun zu brechen. DRG-Punkte sammeln ist die höchste Maxime unseres Hauses, und viele Entscheidungsträger haben sich ihr per Bonusvertrag unterworfen. Mit den Verträgen hat sich auch die Stimmung in den Konferenzen geändert. Die meisten haben sich daran gewöhnt, dass in dieser Grauzone, in der es auch für die unsinnigste Indikation eine Studie gibt, manchmal medizinisch fragwürdige Entscheidungen getroffen werden. Ich glaube, den jüngeren Kollegen fällt das gar nicht mehr auf. Sie kennen es ja nicht anders.
Natürlich treffen auch Ärzte mit Bonusverträgen in den allermeisten Fällen die medizinisch beste Entscheidung. Aber trotzdem haben diese Verträge dazu geführt, dass der Patient, ohne es zu wissen, einem Arzt gegenübersitzt, der in einem Konflikt zwischen wirtschaftlichen Interessen und Patientenwohl steht. Es ist ein System, das funktioniert, wenn alle Menschen in allen Fällen das Richtige tun. Und das Ärzten Geld dafür anbietet, dass sie ihre Entscheidungen zugunsten des Betriebsergebnisses auslegen. Meistens ist das nicht schlimm, denn meistens geht es ja gut.
Aber nicht immer. Wie bei dem Mann Mitte 50, der vor ein paar Wochen in unsere allgemeine Sprechstunde kam. Er erzählt, dass er letzten Sommer mit seinem Enkel im Garten gespielt hat. Dann knackt es im Knie, und mit Schmerzen und Problemen beim Beugen wird er schließlich in sein Kreiskrankenhaus überwiesen. Die Kollegen dort finden einen angerissenen Meniskus und minimale Verschleißerscheinungen. Vier Wochen später wird der Meniskus durch eine Kniespiegelung teilweise entfernt. Jeder Orthopäde weiß, dass Patienten mit Verschleißerscheinungen danach länger andauernde Beschwerden haben können. Meistens verschwinden sie mit der Zeit und einer guten Bewegungstherapie.
Es ist also nicht ungewöhnlich, dass der Patient sechs Wochen später mit Schmerzen in das Krankenhaus zurückkommt. Der Kollege macht eine zweite Kniespiegelung. Er sieht abermals Verschleißerscheinungen und schlägt dem Mann vor, ein künstliches Kniegelenk einzubauen. Sechs Wochen nach dem Unfall! Ohne es mit Krankengymnastik, Kältebehandlung oder entzündungshemmenden Medikamenten überhaupt versucht zu haben. Das ist schnell. Sehr schnell. Und in diesem Fall ist es auch nicht gut gegangen.
Der Patient entwickelt nach der Operation eine Thrombose, die nicht aufzulösen ist. Als er schließlich zu mir kommt, hat er eine bleibende Bewegungseinschränkung des Beines. Das heißt, er hinkt. Ob sein Chirurg eine Zielleistungsvereinbarung unterschrieben hat, weiß ich nicht. Die Operation fand in einem kleinen Krankenhaus statt. Es steht unter dem Druck, jedes Jahr eine Mindestanzahl an Hüft- und Knieprothesen zu operieren, sonst dürfen sie diese Behandlung nicht mehr durchführen. Nur wer viel operiert, operiert auch gut, das ist die Idee.
In manchen Bereichen – Frühgeburten oder Krebstherapie zum Beispiel – ist es medizinisch sinnvoll, Zentren zu bilden. Aber bei Gelenkoperationen bringt es nichts. Es treibt die kleineren Häuser in die Pleite, denn kein Krankenhaus kann davon leben, alle zwei Wochen einen Unfallverletzten zusammenzuflicken. So wurde bei den Gelenkprothesen ein Wettbewerb zwischen Großen und Kleinen entfesselt.
Das DRG-System beinhaltet im Kern die Aufforderung, Ressourcen sparsam einzusetzen. Das ist natürlich legitim. An diesem Tag hat die Konkurrenz, die durch Mindestmengen entfesselt wurde, dazu geführt, dass ich einem Mann, neun Monate nachdem er sich beim Spielen mit seinem Enkel das Knie verknackst hatte, eine »Bescheinigung zur Schwerbehindertenanerkennung« ausstellen musste.
Privates Krankenhaus, Land, Stationsarzt
Am Anfang dachte ich, ich bin im Paradies gelandet. Zum Vorstellungsgespräch hatte man mir ein Hotel spendiert. Die Klinik ist modern und sauber. Statt einer muffigen Pforte mit einem mies gelaunten Pförtner gibt es eine helle Rezeption mit lächelnden Angestellten, wie man sie in einem Hotel der Oberklasse erwartet. Eine hübsche junge Frau eskortiert mich zum Büro der Chefsekretärin. Das Gespräch mit meinem künftigen Chefarzt verläuft in entspannter Atmosphäre. Dann klopft es an der Tür: der Geschäftsführer der Klinik. Der Chefarzt verabschiedet sich und verlässt eilig sein eigenes Büro. Mein Gegenüber kommt schnell zur Sache. »Sie wissen, dass wir als private Einrichtung nicht den Tarifverträgen unterliegen...« Und dann stellt er mir die Frage, mit der ich schon gerechnet habe: »Was wollen Sie denn verdienen?« Natürlich kenne ich die Zahl, die mir der Headhunter am Telefon genannt hat. Eine fast obszön hohe Zahl. Und ich schaffe es tatsächlich, sie auszusprechen.
»Können wir machen«, sagt er. »Dienste werden extra bezahlt.«
Ich verschlucke mich fast.
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«
»Was die Wohnungssuche angeht...«
»Da helfen wir Ihnen natürlich. Wir möchten, dass Sie zum nächsten Ersten anfangen. Was glauben Sie denn, was Ihr Umzug kosten wird?«
Inzwischen bin ich aus dem Alter raus, in dem man mal eben seine zwei Ikea-Regale in einen Kastenwagen packen kann.
»3.000 Euro vielleicht?«, sage ich. Fast mein neues Netto-Monatsgehalt!
»Schicken Sie uns die Rechnung! Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«
Ich muss nachdenken. Jetzt bloß nicht unverschämt werden. Andererseits... »Wie sieht es denn mit Fortbildungen aus?«
»Wenn es dem Haus dient, sind wir da in der Regel kulant. An was hätten Sie gedacht?«
»Medizinische Ethik zum Beispiel...«
Er lächelt.
»Da liefern Sie mir ein Stichwort... Sie wissen, dass wir gezwungen sind, wirtschaftlich zu arbeiten. Sie kennen das System. Sie wissen, wie wichtig es ist, darauf zu achten, dass die Patienten nicht zu lange bei uns bleiben.«
Bald weiß ich tatsächlich, was er meint.
Ein paar Monate später: Es ist ein hektischer Vormittag, der Anruf kommt ungelegen. Dieser Anruf kommt immer ungelegen. »Hier ist Medical Controlling, hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«
In einer öffentlichen Klinik rollen die Ärzte mit den Augen, wenn eine Kollegin aus der Buchhaltung etwas von ihnen will. Hier nicht. Ich sage: »Was kann ich für Sie tun?«
Die junge Frau am anderen Ende der Leitung nennt mir einen Patientennamen. »Wann wird der denn entlassen?«
Wenn ich das wüsste. Der Patient ist schwer krank, alt und alleinlebend. Eigentlich hätte er gestern entlassen werden sollen, aber dann bekam er Fieber. »Bekommt er Infusionen?«
»Jetzt nicht mehr. Es geht ihm ja schon wieder etwas besser, er kann trinken...«
»Was ist mit Antibiotika?«
»Kriegt er. Werden wir aber heute auf Tabletten umstellen.«
»Geben Sie es weiter intravenös! Dann können wir den Aufenthalt länger rechtfertigen!«
»Aber Tabletten...«
»...sind nach Ansicht der Kasse kein Grund für eine stationäre Behandlung. Und wir müssen jeden Tag begründen. Der Patient hat die mittlere Verweildauer schon lange überschritten, seit gestern auch die obere Grenzverweildauer, das heißt, wir sind im Zuschlag...«
Mit dem Medical Controlling legt man sich besser nicht an. Natürlich dürfen die sich streng genommen nicht in die Behandlung einmischen, schließlich sind sie keine Ärzte. Andererseits – ein paar Tage intravenöse Antibiose werden dem Patienten wohl nicht schaden, auch wenn der Nutzen nicht erwiesen ist. Verzweiflungsantibiose nennen wir das.
Immerhin ist der Mann nicht an unserer Behandlung gestorben. Selbst das kann man hier leider nicht ausschließen.
Wie bei der Patientin, die mit einem Speiseröhrenkarzinom zu uns kam. Sie ist Ende 40, geschieden und todkrank. Ihre Eltern sind alt. Es gibt niemanden, der sie vor unserer Behandlung schützen kann.
Der Krebs hat bereits in die Wirbelsäule und die Leber gestreut. Sie hat nur noch Wochen zu leben.
Zu uns kommt sie zur Strahlentherapie. Anfangs läuft alles komplikationslos. Die Metastasen werden kleiner, die Lähmungserscheinungen bilden sich zurück.
Aber die Bestrahlung hat ihr Immunsystem geschwächt. Plötzlich entwickelt sie eine Blutvergiftung mit hohem Fieber und ist kaum noch ansprechbar. Ein solcher Verlauf ist nicht ungewöhnlich: Oft genug ist es eine Sepsis, an der diese schwer kranken Menschen schließlich sterben.
Wir haben sie fast schon aufgegeben, als es ihr plötzlich besser geht. Zumindest ein bisschen. Das Fieber ist gesunken, man kann wieder mit ihr sprechen. Sie ist dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Das einzig Vernünftige wäre, sie jetzt in Ruhe zu lassen. Ich schlage meinem Chef vor, sie nach Hause oder in ein Hospiz zu entlassen.
Er: »Die Strahlentherapie ist noch nicht beendet, und sie liegt schon viel zu lange bei uns.« Ich verstehe: Wenn die Patientin deutlich weniger Bestrahlungen erhält als ursprünglich geplant, dann gibt es dafür auch deutlich weniger Geld.
Also wird sie weiter bestrahlt.
Jede weitere Bestrahlung schwächt ihren sowieso schon stark angegriffenen Körper noch mehr und macht sie anfälliger für weitere Infektionen. Wenn wir sie weiter bestrahlen, dann bringen wir sie möglicherweise um. Aber sterben darf sie erst, wenn die Strahlentherapie beendet ist.
Sie ist zu krank, um sich zu wehren. Ihre Familie durchschaut das Problem nicht. Wie auch? Sie vertrauen uns ja. Ich könnte ihr abraten. Aber das würde mein Chef merken, und dann hätte ich ein Problem. Außerdem komme ich in dem Moment nicht darauf, das zu tun: Wer in dieser Klinik arbeitet, macht sich bald ihre Denkweise zu eigen.
Erst später habe ich verstanden, was wir da getan haben: Wir haben dieser Frau ihre letzten Wochen versaut. Sie verbringt sie in halb wachem Zustand, kaum ansprechbar für ihre Familie. Als sie die unnötige Therapie abgeschlossen hat, ist sie schwach und aufgedunsen, sie kann das Bett nicht mehr verlassen. Und jetzt?
»Machen wir sie palliativ«, sagt der Chef. Finanziell ist sie für uns uninteressant geworden, nun darf sie in Ruhe sterben.
Kurz darauf verlasse ich die Klinik.
Abdominalchirurgisches Zentrum, Großstadt, Oberarzt
Als 2003 die Fallpauschalen eingeführt wurden, lautete einer der Hauptgründe, so könnten komplizierte intensivmedizinische Behandlungen adäquat honoriert werden. Eine solche Operation ist beispielsweise die Totale Duodenpankreatektomie, auch Whipple genannt. Bei Bauchspeicheldrüsenkrebs ist sie die einzige Chance auf Heilung. Es ist beinahe ein Ausweiden des Oberbauches. Oft werden dabei Magen, Gallenblase, Bauchspeicheldrüse, Zwölffingerdarm entfernt. Die Belastungen sind hoch. Aber wenn die Operation glückt, können die Patienten mit leichten Einschränkungen Monate oder Jahre weiterleben. Einige wenige werden sogar geheilt. Als ich Oberarzt für Intensivmedizin wurde, vor 20 Jahren, haben Chirurgen diese und andere große Operationen nur bei denen gemacht, die sie aushalten: Menschen unter 70. Dann wurde die Altersgrenze immer weiter nach oben gesetzt. Hinzu kommt, dass die intensivmedizinische Behandlung nach solchen Eingriffen im DRG-System sehr hoch bewertet ist. Wirtschaftlich lohnt sich die Sache also.
Ein typischer Verlauf bei Menschen über 75 sieht so aus: Der Patient wird operiert. Mit Glück kann er nach der Operation alleine atmen und seinen Angehörigen noch einmal in die Augen blicken. Aber spätestens nach zwei, drei Tagen entzündet sich eine der vielen Nähte, die im Bauch gemacht wurden, und es tritt Dünndarmflüssigkeit oder Gallenflüssigkeit in den Bauchraum aus, was wiederum eine Bauchfellentzündung verursacht, die bei älteren Patienten häufig zu Blutvergiftung und Organversagen führt. 80 Prozent erwachen danach nicht mehr aus dem künstlichen Koma, in das wir sie versetzen müssen. So liegen und leiden diese Menschen dann oft wochenlang auf der Intensivstation. Weder sie noch ihre Familien wurden darauf vorbereitet. Auch für die Ärzte und Schwestern auf der Station ist es ungeheuer belastend, solche Verläufe zu begleiten.
Die Indikation stellen die Operateure. Sie sehen die Patienten sechs Stunden im OP. Von der Qual, die dann folgt, wollen sie nichts wissen. Manchmal wird in den gemeinsamen Schmerzkonferenzen darüber diskutiert. Es gibt viele, die denken, dass sie damit den Menschen nicht mehr gerecht werden, und die dieses System, das abwechselnd medizinisch und wirtschaftlich argumentiert, verdammen. Aber es gibt auch die, die es stützen, und das sind in der Regel die Entscheidungsträger. Wenn jemand sagt, lass gut sein, der Mann ist alt, er hat sein Leben gelebt, machen wir eine schonende Schmerztherapie, statt ihm die letzten zwei Jahre radikal zu verkürzen, sagen sie: Die Whipple ist aber nach der Leitlinie die einzige Heilungschance. Das trifft zu: bei 60-Jährigen. Aber ich kenne keinen Patienten über 80, der sich von einer derart verstümmelnden Operation auch nur annähernd erholt hätte.
Als in der Schweiz über die Einführung des DRG-Systems diskutiert wurde, meldete sich der Volkswirtschaftsprofessor Mathias Binswanger zu Wort. Er beschreibt in seinem Buch »Sinnlose Wettbewerbe«, wie in Bereichen der Gesellschaft, in denen es keinen Markt gibt, künstliche Wettbewerbe inszeniert werden. In der Hoffnung auf Effizienz würden Qualitätskennzahlen definiert, die aber an den Bedürfnissen der Kunden vorbeigingen. Das führe zu perversen Anreizen, die absurde Resultate ergäben und die Motivation von Mitarbeitern zerstörten, die mit Fleiß und Akribie messbare Dinge produzierten, die keiner brauche. Binswanger bezweifelt sogar, dass durch die Einführung von Wettbewerbskriterien im Gesundheitssystem Kosten gespart würden. Diese würden oft nur in das nächstgrößere System verlagert: von der Klinik in Rehabilitationszentren und in den ambulanten Bereich; von der Kranken- in die Pflegeversicherung.
Kreiskrankenhaus, Land, Assistenzarzt, ein Paar Monate später
Die alte Dame ist vor ein paar Tagen die Treppe heruntergefallen und hat sich einen Brustwirbel gebrochen. Sie ist schon über 80. Trotz ihres Alters versorgt sie immer noch ihren geistig behinderten Sohn, »meinen Bub«, wie sie sagt; der Bub dürfte um die 60 sein. Ich habe gestern nur kurz ihre Akte angeschaut und sie begrüßt; untersucht habe ich sie noch nicht. Sicher hat sie jede Menge Fragen. Es ist 17 Uhr, eigentlich Dienstschluss. Wenn ich jetzt in ihr Zimmer ginge, würde das ein längeres Gespräch nach sich ziehen. Ich könnte sie sicher ein bisschen trösten und beruhigen: Es gibt gute Chancen, dass sie wieder voll mobil wird, wir könnten über die Sozialstation eine Kurzzeitpflege für den Sohn in die Wege leiten. Schön wäre das: Die Patientin würde besser schlafen, und ich würde zufrieden nach Hause gehen. Stattdessen mache ich Qualitätsmanagement. Für jede Lungenentzündung, jeden Schlaganfall, jeden Herzkatheter müssen endlos Formulare am Computer ausgefüllt werden. Als ich neulich eine ironische Bemerkung darüber gemacht habe, wurde ich vom Oberarzt angeblafft: Das sei ganz wichtig für die Prozessoptimierung, eine Investition in die zukünftige Behandlungsqualität. Diese Frau braucht nur meine Zeit, Fürsorge und ein bisschen soliden Sachverstand; alles Dinge, die die Verwaltung nicht interessieren, weil man sie nicht standardisieren und abrechnen kann. Aber ich habe mir abgewöhnt, das zu kritisieren. So wie ich es auch keinem Kollegen erzählt habe, dass ich neulich in der Zeitung gesehen habe, dass die Schlaganfallpatientin, die das Pech hatte, nachts in unserem Haus behandelt zu werden, jetzt gestorben ist.
Quelle
Ein Gespräch mit einem Arzt. Er erzählte aus einem kleinen Krankenhaus auf dem Land, in dem Patienten immer schlechter behandelt würden. Es ging dabei nicht um einzelne Pfuscher oder Kunstfehler, sondern um ein Phänomen, das jeden Winkel seiner Arbeit erreicht hatte: einen Dauer- konflikt zwischen dem Wohl der Patienten und dem der Klinik.
Ein Einzelfall? Ein Wald-und-Wiesen-Krankenhaus, das im Verteilungskampf um begrenzte Mittel besonders verantwortungslos handelte? Wenn man Ärzten in Deutschland zuhört, ergibt sich ein deutliches Bild: In den Krankenhäusern tobt ein Kampf ums Überleben. Nicht nur um das von Patienten, sondern auch um das der Kliniken selbst, die seit der Gesundheitsreform des Jahres 2000 in einen Wettbewerb miteinander gezwungen wurden, der sie effizienter machen sollte. Was auch gelungen ist: Die durchschnittliche Liegedauer wurde zwischen 2000 und 2010 von 9,7 Tagen auf 7,8 Tage reduziert; die Ausgaben für Krankenhausbehandlungen in Deutschland betragen seit vielen Jahren, trotz alternder Bevölkerung, um die 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Was diese Zahlen auf den Stationen bedeuten, das haben uns fünf Ärztinnen und Ärzte geschildert. (Einige medizinisch nicht relevante Details wurden so verändert, dass sie und ihre Patienten nicht wiedererkennbar sind.)
Kreiskrankenhaus, Land, Assistenzarzt
Es ist 3.30 Uhr, als Assistenzarzt mache ich gerade die vierte Nachtschicht in Folge. An diesem Morgen bin ich in der Notaufnahme, einem Flachbau, an dem lange nichts renoviert wurde. Wenn man so übermüdet vor seinem Kaffee sitzt, hört man den Summton der Neonröhren und das Piepsen der Monitore – bis ein Martinshorn die Monotonie unterbricht. Der Rettungsdienst schiebt eine Liege herein: eine etwa 70-jährige Frau. Ihr rechter Arm und das rechte Bein sind gelähmt, sie kann nicht mehr sprechen. Der Ehemann berichtet, sie sei am Abend gegen 23 Uhr zu Bett gegangen, kurz vor drei sei er von ihren röchelnden Lauten geweckt geworden. Die Lage ist schnell klar, ein Schlaganfall, ausgelöst durch ein Blutgerinnsel im Gehirn. Die einzige Möglichkeit, die Durchblutung wiederherzustellen, also den Schlaganfall ganz oder teilweise rückgängig zu machen, wäre eine Thrombolyse: die Auflösung des Gerinnsels durch ein Medikament. Das Zeitfenster ist eng. Das Mittel darf nicht später als viereinhalb Stunden nach Beginn des Schlaganfalls gespritzt werden. Aber wann genau war der? Um zu wissen, ob mit der Lyse, wie das Verfahren im Krankenhausjargon genannt wird, noch etwas zu retten ist, brauche ich einen Kernspintomografen. Unsere Klinik besitzt ein solches Gerät. Aber jetzt steht es still: Wir haben nicht genug Personal, um es rund um die Uhr zu betreiben. Für eine Verlegung in eine andere Klinik ist es zu spät. Ich hole tief Luft und gehe zurück an das Bett der Patientin. Ihr Mann sitzt zusammengesackt am Kopfende des Bettes. Ich sage: »Wir können leider nicht mehr viel tun für Ihre Frau.«
Als es hell wird, schaue ich noch mal bei ihr vorbei. Sie scheint mich wiederzuerkennen und versucht zu sprechen. Aber es kommen nur unverständliche Laute. Sie bricht sofort ab, Tränen in den Augen.
Ein paar Tage später. Ich habe mir einen Termin beim Geschäftsführer geben lassen. Das Wort »Problem« kommt bei ihm nicht vor. Er kennt nur »Herausforderungen«, die er »annehmen« und »am Ende des Tages« bewältigen wird. Seine Aufgabe ist es, die Klinik aus den roten Zahlen herauszuholen. Also spart er: Ein Teil der Schwestern wurde durch billige Stationshilfen ersetzt, der Koch wurde nach 30 Jahren gefeuert. Ich erzähle ihm die Geschichte der Schlaganfallpatientin. Betretenes Schweigen. Immerhin, denke ich.
Ich müsse verstehen, die Klinik befinde sich in einer schwierigen Phase der »Umstrukturierung«. Die Vorhaltung von Personal, das man brauchte, um den Kernspintomografen nachts zu betreiben, sei teuer, insgesamt sei die Abteilung aber »gut aufgestellt«.
Ich begreife: Die Röhre muss brummen und lückenlos gefüllt sein, damit sie sich rentiert. Also wird der Kernspintomograf nur von 8 bis 18 Uhr hochgefahren, denn dann sind die Patienten für eine reibungslose Abfertigung da. Aber nachts, wenn die Maschine für Patienten da sein müsste, steht sie still.
Aber das sage ich nicht. Ich stehe kurz vor meiner Beförderung zum Facharzt. Und der Mann mir gegenüber entscheidet mit, ob ich in ein paar Jahren Oberarzt werde.
Die Frage bleibt: Warum haben wir dieser Frau nicht geholfen? Weil an Personal gespart wird. Warum wird an Personal gespart? Weil unser Kreiskrankenhaus im Wettbewerb gegen drei andere Kreiskrankenhäuser bestehen will, die sich gegen die Zusammenlegung wehren. Lieber graben sie sich gegenseitig das Wasser ab. Um diesen sinnlosen Wettbewerb zu gewinnen, muss jedes Haus die Kosten verringern und die Einnahmen erhöhen. Und Schlaganfälle sind lukrativ: Seit Krankenhäuser nicht mehr nach Tagessätzen bezahlt werden, sondern für jeden Patienten eine Pauschale bekommen, die von seiner Diagnose abhängt, gilt die Schlaganfallbehandlung als gutes Geschäft. Bei über hundert Patienten im Jahr ist das eine wichtige Einnahmequelle für uns. Diese Fälle nachts in die eine Stunde entfernte Spezialklinik abzugeben wäre wirtschaftlicher Selbstmord. Die Frage lautet nicht: Was braucht es, um die Bevölkerung einer Region gut zu versorgen, sondern: Was ist gut für unsere Bilanz?
Wie kann man die Beiträge für die Krankenversicherungen stabil halten? Wie kann man dafür sorgen, dass die Gelder direkt in die Therapien fließen? Wie verhindern, dass die gleiche Leistung überall unterschiedlich viel kostet? Das waren die Kernfragen hinter der Gesundheitsreform des Jahres 2000. Die Antwort lautete: mehr Effizienz, Transparenz, Wettbewerb. Das Abrechnungssystem, das dies bewirken sollte, heißt DRG, Diagnosis Related Groups. Es wurde 2003 eingeführt und bedeutet, dass Krankenhäuser nicht mehr nach Liegedauer bezahlt werden, sondern eine Pauschale bekommen, die sich nach der Einlieferungsdiagnose richtet. Während das alte System einen Anreiz schuf, die Dauer des Aufenthaltes unnötig in die Länge zu ziehen, sollte das neue System Effizienz belohnen. So gibt es zurzeit 3.500 Euro für eine Blinddarmoperation. Davon müssen alle Kosten gedeckt werden. Wenn etwas übrig bleibt, kann die Klinik das Geld verwenden, um ihre Attraktivität zu steigern, beispielsweise durch modernere Zimmer.
Zwei Monate nachdem die Frau bei uns eingeliefert wurde, lasse ich mir den Entlassbrief aus der Reha kommen. Daraus geht hervor: Sie stammelt immer wieder dieselben Silben, versteht offenbar nur Bruchstücke. Ihre rechte Körperhälfte ist gelähmt, sie kann nur mit Hilfe aufgesetzt werden. Oft sitzt sie stundenlang reglos da. Vor der Entlassung wird ein Rollstuhl nach Hause geliefert, ein Toilettenstuhl, ein Pflegebett. Ihr Mann erzählte, dass sie vor dem Schlaganfall dreimal die Woche für ihre Enkel gekocht habe. Im Winter waren sie noch gemeinsam langlaufen. In einer gut ausgerüsteten Klinik hätte sie eventuell eine Chance gehabt, wieder in dieses Leben zurückzukehren. Jetzt hat sie Pflegestufe 3. Während unser Haus effizienter wurde, sind anderswo höhere Kosten entstanden.
Professor Peter Ringleb, Neurologische Universitätsklinik Heidelberg und Schlaganfallexperte: »Eine Kernspintomografie für Schlaganfallpatienten mit unbestimmtem Symptombeginn rund um die Uhr vorzuhalten ist bisher nicht Standard. Auch weil bisher nicht sicher geklärt ist, ob eine Kernspin-basierte Lyse tatsächlich die beste Therapie ist. Sicher ist: Die Heilungsaussichten sind besser, wenn ein Patient in eine spezialisierte Schlaganfall-Abteilung verlegt wird. Das geschieht – auch aus ökonomischen Gründen – leider nicht immer.«
Es gibt noch eine Herausforderung, die unser Geschäftsführer bewältigen muss: In den letzten Jahren haben mehr als 15 Kollegen unsere Klinik verlassen. Sie gehen, weil sie Ärzte sein wollen und keine BWLer.
Über ein Jahr lang fand sich für die Assistenzarztstelle in der Inneren Medizin kein deutschsprachiger Bewerber. Man behalf sich mit einem sogenannten Gastarzt. Er kommt aus Osteuropa, ist Mitte 40, seine fachlichen Kenntnisse sind mager, seine Deutschkenntnisse ebenso. Niemand hat sich Zeit genommen für seine Weiterbildung. Obwohl er kaum zu verstehen ist, besetzt er die Notaufnahme oft allein.
An diesem Vormittag trifft er auf eine Frau Mitte 80. Am Morgen war sie in ihrem Pflegeheim apathisch und verwirrt im Bett gefunden worden. Sie hat Diabetes, die Niere arbeitet auf Sparflamme, sie nimmt eine Menge Tabletten. Die Schwester wird mir später schildern, wie der Kollege versucht hat, mit der Patientin zu kommunizieren. Vergeblich: Sie versteht seinen Akzent nicht, und er hat Probleme mit ihrem Dialekt. Blutdruck, Blutzucker, EKG sind in Ordnung. Jetzt müsste eine gute Anamnese her: Wie ging es ihr gestern? Hatte sie Schmerzen oder einen Infekt? Ist sie gestürzt? Weil er wenig Hoffnung hat, eine Antwort zu bekommen, kümmert er sich lieber um den nächsten Patienten.
Eine halbe Stunde später schaut der Oberarzt vorbei. Jetzt wäre es seine Aufgabe, das, womit der Assistenzarzt überfordert ist, zu ergänzen. Aber er hat keine Zeit, bereits im Gehen sagt er: »Dann machen Sie halt eine Lumbalpunktion!« Es könnte ja auch eine Meningitis sein, das müsse man klären. Die Lumbalpunktion, bei der eine lange Nadel in der Höhe der Lendenwirbelsäule von hinten in den Kanal des Rückenmarks gestochen wird, gelingt erst beim dritten Versuch und verursacht, wenn sie von einem Ungeübten wie meinem Kollegen durchgeführt wird, fürchterliche Schmerzen. Als die Frau am Nachmittag auf meine Station verlegt wird, stöhnt sie immer noch leise.
An ihrer Adresse erkenne ich das Heim, in dem sie lebt. Ich kenne den Hausarzt, der das Heim betreut. Ich rufe ihn an und lasse mir die Liste ihrer Medikamente geben. Lyrica, ein Mittel gegen Nervenschmerzen, nimmt sie in höherer Dosis, als es ihre schlechte Nierenfunktion erlaubt. Falsch dosiert, verursacht es Bewusstseinsstörungen und Verwirrtheit, also genau die Symptome, derentwegen sie eingeliefert wurde.
Ich lasse ihr eine Infusion anhängen und setze das Medikament ab. Am nächsten Tag ist sie wieder wach und klar bei Sinnen.
Rettungswagen, Grossstadt, Notärztin
Ein Ambulanzfahrzeug mit einer alten Frau irrt stundenlang durch die Stadt. Keiner will sie aufnehmen. Sie ist – wie alle alten Patienten – ein »schlechtes Risiko«. Im neuen System hängt das Betriebsergebnis davon ab, wie schnell man den Patienten wieder loswird. Die Folge: Alle wollen junge Patienten, die schnell wieder auf den Beinen sind.
Ich arbeite als Notärztin auf einem Rettungswagen. Morgens wird eine Liste mit freien Betten an den Stützpunkt gefaxt. Wenn ich ein paar Stunden später einen alten, womöglich bettlägerigen Patienten bekomme, kann es sein, dass alle belegt sind.
Meistens nimmt eine Krankenschwester ab: »Was habt ihr denn?« Dann folgt eine Art Verkaufsgespräch.
»85-Jährige, Verdacht auf Schlaganfall.«
Man möchte nichts verheimlichen, aber man muss auch nicht alles sagen. Zum Beispiel würde ich es niemals von mir aus ansprechen, wenn die Patientin im Heim lebt – wegen der schlechteren Rehabilitierungsaussichten. Nur wenn die Schwester danach fragt, gebe ich es zu. Dann ist die Antwort fast immer, dass leider kein Bett frei sei. Jederzeit willkommen sind: Knochenbrüche, Herzinfarktpatienten unter 75. Das sind »gute Risiken«. Die werden mir normalerweise beim ersten Anruf abgenommen.
Wenn ich für die Heimpatientin kein Bett finde, fahre ich irgendwann ein Haus an, von dem ich nach dem Bettenplan vom Morgen vermute, dass es doch noch nicht voll ist. Dort kann es passieren, dass man persönlich für den Patienten verantwortlich gemacht wird. In einem städtischen Krankenhaus ist es besonders unangenehm: Sie gehen grob und geringschätzig mit diesen alten Leuten um, und als Ärztin muss man schon fragen, wenn man sich die Hände waschen will.
Das Problem vieler öffentlicher Kliniken ist, dass die jungen Patienten eher zu den privaten gehen. Diese werben im Internet mit der Ausstattung, dem Essen. Das zieht Leute an, die es sich aussuchen können, die schnell wieder entlassen werden können und ein Plus in der Bilanz hinterlassen. Viele private Kliniken sitzen zudem eher in den Randbezirken und beteiligen sich gar nicht an der Notversorgung. Oder sie machen nur Hüftgelenke auf Bestellung. Kommt eine Oma mit Oberschenkelhalsbruch, sagen sie, dass sie sie leider mangels Nachtwache nicht aufnehmen können. Aber einer muss es ja machen. Dann geht der Fall an die nächste, meist öffentliche Klinik, die dabei immer ärmer wird. Es ist wie bei den Banken: Die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert.
Wer nicht kostendeckend arbeitet, kämpft im DRG-System ums Überleben. 2003 prognostizierte Karl Lauterbach, damals im Institut für Gesundheitsökonomie, bis 2010 werde jede vierte Klinik von Fusion, Verkauf oder Schließung betroffen sein. Tatsächlich hat sich zwischen 2004 und 2010 die Zahl der Krankenhäuser von 2166 auf 2064 reduziert; die Zahl der Kliniken in privater Trägerschaft ist von 444 auf 570 gestiegen.
Gemeinnützige Krankenhaus, Stadt, Unfallchirurg
Vor etwa sieben Jahren hörte ich das Wort zum ersten Mal: Zielleistungsvereinbarungen. Das sind Bonusverträge, wie sie unser Haus damals leitenden Ärzten anbot. Dabei wird ein Teil des Gehaltes – etwa zehn Prozent – vom Erreichen eines bestimmten Ziels abhängig gemacht. Ich bin Unfallchirurg, und mein Ziel sollte der Aufbau einer Ambulanz sein. Ich unterschrieb.
Vier Jahre später hatte ich wieder einen Termin beim Geschäftsführer. Diesmal hatte er ein anderes Ziel vorgesehen: Am Jahresende würde ich 5.000 Euro bekommen, wenn ich dafür sorgte, dass die Zahl der »Case-Mix-Punkte« in meinem Bereich – der Wirbelsäulenchirurgie – jährlich um zwei Prozent steigt. (Im DRG-System gibt es für jede therapeutische Maßnahme eine bestimmte Punktezahl, aus der sich die Summe errechnet, die das Krankenhaus von der Kasse bekommt.) Ich sagte, dass ich keinen Sinn darin sähe, einen solchen Vertrag zu unterschreiben, weil ich weder die Zahl der Patienten noch ihre Krankheiten oder ihre Therapien beeinflussen könne, lehnte dankend ab und ging.
Allerdings haben schätzungsweise 80 Prozent der Chef- und Oberärzte in meinem Krankenhaus eine derartige Zielleistungsvereinbarung unterschrieben. Konkret heißt das, dass sie jedes Jahr entweder mehr Patienten brauchen oder mehr Diagnosen stellen müssen, die viele Punkte bringen.
Eine extrem punkteträchtige Operation ist zum Beispiel die Vertebroplastie, das Einspritzen von Knochenzement in die Wirbelsäule. Sie wird vor allem bei älteren Patientinnen mit osteoporotischen Brüchen gemacht. Die Operation ist eigentlich nur dann notwendig, wenn die Wirbelkörper stark deformiert sind oder eine konservative Behandlung nichts gebracht hat. Andernfalls helfen Schmerzmittel und Krankengymnastik ebenso gut. Allerdings gibt es dafür kaum Punkte. Die Risiken einer Operation trägt der Patient. Der Zement kann die Nerven schädigen; es kann zu Infektionen kommen. Sicher ist: Man sollte keinen Menschen einer Operation aussetzen, wenn man dasselbe Ergebnis mit Krankengymnastik erreichen kann.
Einmal pro Woche gibt es auf unserer Station eine Röntgenkonferenz, bei der alle Operationen besprochen werden. Ein Kollege stellte eine Patientin vor, die zur Vertebroplastie vorgesehen war. Es war eine 70-jährige Dame, die seit 48 Stunden im Haus war und seit sieben Tagen Rückenschmerzen hatte. Keiner hatte versucht, sie konservativ zu behandeln. Akute Gefahr drohte nicht. Ich fand die Operation verfrüht.
»Ist die vorbehandelt?«, fragte ich.
»Nein«, sagte der Kollege, »aber sie hat starke Schmerzen und wünscht den Eingriff.«
Juristisch ist er damit auf der sicheren Seite. Würde er die Frau mit Schmerzmitteln und Krankengymnastik behandeln und anschließend fragen, ob sie sich operieren lassen wolle, würde sie erfahrungsgemäß ablehnen.
Aber das sagte ich nicht. Es hat keinen Sinn, eine Grundsatzdiskussion vom Zaun zu brechen. DRG-Punkte sammeln ist die höchste Maxime unseres Hauses, und viele Entscheidungsträger haben sich ihr per Bonusvertrag unterworfen. Mit den Verträgen hat sich auch die Stimmung in den Konferenzen geändert. Die meisten haben sich daran gewöhnt, dass in dieser Grauzone, in der es auch für die unsinnigste Indikation eine Studie gibt, manchmal medizinisch fragwürdige Entscheidungen getroffen werden. Ich glaube, den jüngeren Kollegen fällt das gar nicht mehr auf. Sie kennen es ja nicht anders.
Natürlich treffen auch Ärzte mit Bonusverträgen in den allermeisten Fällen die medizinisch beste Entscheidung. Aber trotzdem haben diese Verträge dazu geführt, dass der Patient, ohne es zu wissen, einem Arzt gegenübersitzt, der in einem Konflikt zwischen wirtschaftlichen Interessen und Patientenwohl steht. Es ist ein System, das funktioniert, wenn alle Menschen in allen Fällen das Richtige tun. Und das Ärzten Geld dafür anbietet, dass sie ihre Entscheidungen zugunsten des Betriebsergebnisses auslegen. Meistens ist das nicht schlimm, denn meistens geht es ja gut.
Aber nicht immer. Wie bei dem Mann Mitte 50, der vor ein paar Wochen in unsere allgemeine Sprechstunde kam. Er erzählt, dass er letzten Sommer mit seinem Enkel im Garten gespielt hat. Dann knackt es im Knie, und mit Schmerzen und Problemen beim Beugen wird er schließlich in sein Kreiskrankenhaus überwiesen. Die Kollegen dort finden einen angerissenen Meniskus und minimale Verschleißerscheinungen. Vier Wochen später wird der Meniskus durch eine Kniespiegelung teilweise entfernt. Jeder Orthopäde weiß, dass Patienten mit Verschleißerscheinungen danach länger andauernde Beschwerden haben können. Meistens verschwinden sie mit der Zeit und einer guten Bewegungstherapie.
Es ist also nicht ungewöhnlich, dass der Patient sechs Wochen später mit Schmerzen in das Krankenhaus zurückkommt. Der Kollege macht eine zweite Kniespiegelung. Er sieht abermals Verschleißerscheinungen und schlägt dem Mann vor, ein künstliches Kniegelenk einzubauen. Sechs Wochen nach dem Unfall! Ohne es mit Krankengymnastik, Kältebehandlung oder entzündungshemmenden Medikamenten überhaupt versucht zu haben. Das ist schnell. Sehr schnell. Und in diesem Fall ist es auch nicht gut gegangen.
Der Patient entwickelt nach der Operation eine Thrombose, die nicht aufzulösen ist. Als er schließlich zu mir kommt, hat er eine bleibende Bewegungseinschränkung des Beines. Das heißt, er hinkt. Ob sein Chirurg eine Zielleistungsvereinbarung unterschrieben hat, weiß ich nicht. Die Operation fand in einem kleinen Krankenhaus statt. Es steht unter dem Druck, jedes Jahr eine Mindestanzahl an Hüft- und Knieprothesen zu operieren, sonst dürfen sie diese Behandlung nicht mehr durchführen. Nur wer viel operiert, operiert auch gut, das ist die Idee.
In manchen Bereichen – Frühgeburten oder Krebstherapie zum Beispiel – ist es medizinisch sinnvoll, Zentren zu bilden. Aber bei Gelenkoperationen bringt es nichts. Es treibt die kleineren Häuser in die Pleite, denn kein Krankenhaus kann davon leben, alle zwei Wochen einen Unfallverletzten zusammenzuflicken. So wurde bei den Gelenkprothesen ein Wettbewerb zwischen Großen und Kleinen entfesselt.
Das DRG-System beinhaltet im Kern die Aufforderung, Ressourcen sparsam einzusetzen. Das ist natürlich legitim. An diesem Tag hat die Konkurrenz, die durch Mindestmengen entfesselt wurde, dazu geführt, dass ich einem Mann, neun Monate nachdem er sich beim Spielen mit seinem Enkel das Knie verknackst hatte, eine »Bescheinigung zur Schwerbehindertenanerkennung« ausstellen musste.
Privates Krankenhaus, Land, Stationsarzt
Am Anfang dachte ich, ich bin im Paradies gelandet. Zum Vorstellungsgespräch hatte man mir ein Hotel spendiert. Die Klinik ist modern und sauber. Statt einer muffigen Pforte mit einem mies gelaunten Pförtner gibt es eine helle Rezeption mit lächelnden Angestellten, wie man sie in einem Hotel der Oberklasse erwartet. Eine hübsche junge Frau eskortiert mich zum Büro der Chefsekretärin. Das Gespräch mit meinem künftigen Chefarzt verläuft in entspannter Atmosphäre. Dann klopft es an der Tür: der Geschäftsführer der Klinik. Der Chefarzt verabschiedet sich und verlässt eilig sein eigenes Büro. Mein Gegenüber kommt schnell zur Sache. »Sie wissen, dass wir als private Einrichtung nicht den Tarifverträgen unterliegen...« Und dann stellt er mir die Frage, mit der ich schon gerechnet habe: »Was wollen Sie denn verdienen?« Natürlich kenne ich die Zahl, die mir der Headhunter am Telefon genannt hat. Eine fast obszön hohe Zahl. Und ich schaffe es tatsächlich, sie auszusprechen.
»Können wir machen«, sagt er. »Dienste werden extra bezahlt.«
Ich verschlucke mich fast.
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«
»Was die Wohnungssuche angeht...«
»Da helfen wir Ihnen natürlich. Wir möchten, dass Sie zum nächsten Ersten anfangen. Was glauben Sie denn, was Ihr Umzug kosten wird?«
Inzwischen bin ich aus dem Alter raus, in dem man mal eben seine zwei Ikea-Regale in einen Kastenwagen packen kann.
»3.000 Euro vielleicht?«, sage ich. Fast mein neues Netto-Monatsgehalt!
»Schicken Sie uns die Rechnung! Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«
Ich muss nachdenken. Jetzt bloß nicht unverschämt werden. Andererseits... »Wie sieht es denn mit Fortbildungen aus?«
»Wenn es dem Haus dient, sind wir da in der Regel kulant. An was hätten Sie gedacht?«
»Medizinische Ethik zum Beispiel...«
Er lächelt.
»Da liefern Sie mir ein Stichwort... Sie wissen, dass wir gezwungen sind, wirtschaftlich zu arbeiten. Sie kennen das System. Sie wissen, wie wichtig es ist, darauf zu achten, dass die Patienten nicht zu lange bei uns bleiben.«
Bald weiß ich tatsächlich, was er meint.
Ein paar Monate später: Es ist ein hektischer Vormittag, der Anruf kommt ungelegen. Dieser Anruf kommt immer ungelegen. »Hier ist Medical Controlling, hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«
In einer öffentlichen Klinik rollen die Ärzte mit den Augen, wenn eine Kollegin aus der Buchhaltung etwas von ihnen will. Hier nicht. Ich sage: »Was kann ich für Sie tun?«
Die junge Frau am anderen Ende der Leitung nennt mir einen Patientennamen. »Wann wird der denn entlassen?«
Wenn ich das wüsste. Der Patient ist schwer krank, alt und alleinlebend. Eigentlich hätte er gestern entlassen werden sollen, aber dann bekam er Fieber. »Bekommt er Infusionen?«
»Jetzt nicht mehr. Es geht ihm ja schon wieder etwas besser, er kann trinken...«
»Was ist mit Antibiotika?«
»Kriegt er. Werden wir aber heute auf Tabletten umstellen.«
»Geben Sie es weiter intravenös! Dann können wir den Aufenthalt länger rechtfertigen!«
»Aber Tabletten...«
»...sind nach Ansicht der Kasse kein Grund für eine stationäre Behandlung. Und wir müssen jeden Tag begründen. Der Patient hat die mittlere Verweildauer schon lange überschritten, seit gestern auch die obere Grenzverweildauer, das heißt, wir sind im Zuschlag...«
Mit dem Medical Controlling legt man sich besser nicht an. Natürlich dürfen die sich streng genommen nicht in die Behandlung einmischen, schließlich sind sie keine Ärzte. Andererseits – ein paar Tage intravenöse Antibiose werden dem Patienten wohl nicht schaden, auch wenn der Nutzen nicht erwiesen ist. Verzweiflungsantibiose nennen wir das.
Immerhin ist der Mann nicht an unserer Behandlung gestorben. Selbst das kann man hier leider nicht ausschließen.
Wie bei der Patientin, die mit einem Speiseröhrenkarzinom zu uns kam. Sie ist Ende 40, geschieden und todkrank. Ihre Eltern sind alt. Es gibt niemanden, der sie vor unserer Behandlung schützen kann.
Der Krebs hat bereits in die Wirbelsäule und die Leber gestreut. Sie hat nur noch Wochen zu leben.
Zu uns kommt sie zur Strahlentherapie. Anfangs läuft alles komplikationslos. Die Metastasen werden kleiner, die Lähmungserscheinungen bilden sich zurück.
Aber die Bestrahlung hat ihr Immunsystem geschwächt. Plötzlich entwickelt sie eine Blutvergiftung mit hohem Fieber und ist kaum noch ansprechbar. Ein solcher Verlauf ist nicht ungewöhnlich: Oft genug ist es eine Sepsis, an der diese schwer kranken Menschen schließlich sterben.
Wir haben sie fast schon aufgegeben, als es ihr plötzlich besser geht. Zumindest ein bisschen. Das Fieber ist gesunken, man kann wieder mit ihr sprechen. Sie ist dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Das einzig Vernünftige wäre, sie jetzt in Ruhe zu lassen. Ich schlage meinem Chef vor, sie nach Hause oder in ein Hospiz zu entlassen.
Er: »Die Strahlentherapie ist noch nicht beendet, und sie liegt schon viel zu lange bei uns.« Ich verstehe: Wenn die Patientin deutlich weniger Bestrahlungen erhält als ursprünglich geplant, dann gibt es dafür auch deutlich weniger Geld.
Also wird sie weiter bestrahlt.
Jede weitere Bestrahlung schwächt ihren sowieso schon stark angegriffenen Körper noch mehr und macht sie anfälliger für weitere Infektionen. Wenn wir sie weiter bestrahlen, dann bringen wir sie möglicherweise um. Aber sterben darf sie erst, wenn die Strahlentherapie beendet ist.
Sie ist zu krank, um sich zu wehren. Ihre Familie durchschaut das Problem nicht. Wie auch? Sie vertrauen uns ja. Ich könnte ihr abraten. Aber das würde mein Chef merken, und dann hätte ich ein Problem. Außerdem komme ich in dem Moment nicht darauf, das zu tun: Wer in dieser Klinik arbeitet, macht sich bald ihre Denkweise zu eigen.
Erst später habe ich verstanden, was wir da getan haben: Wir haben dieser Frau ihre letzten Wochen versaut. Sie verbringt sie in halb wachem Zustand, kaum ansprechbar für ihre Familie. Als sie die unnötige Therapie abgeschlossen hat, ist sie schwach und aufgedunsen, sie kann das Bett nicht mehr verlassen. Und jetzt?
»Machen wir sie palliativ«, sagt der Chef. Finanziell ist sie für uns uninteressant geworden, nun darf sie in Ruhe sterben.
Kurz darauf verlasse ich die Klinik.
Abdominalchirurgisches Zentrum, Großstadt, Oberarzt
Als 2003 die Fallpauschalen eingeführt wurden, lautete einer der Hauptgründe, so könnten komplizierte intensivmedizinische Behandlungen adäquat honoriert werden. Eine solche Operation ist beispielsweise die Totale Duodenpankreatektomie, auch Whipple genannt. Bei Bauchspeicheldrüsenkrebs ist sie die einzige Chance auf Heilung. Es ist beinahe ein Ausweiden des Oberbauches. Oft werden dabei Magen, Gallenblase, Bauchspeicheldrüse, Zwölffingerdarm entfernt. Die Belastungen sind hoch. Aber wenn die Operation glückt, können die Patienten mit leichten Einschränkungen Monate oder Jahre weiterleben. Einige wenige werden sogar geheilt. Als ich Oberarzt für Intensivmedizin wurde, vor 20 Jahren, haben Chirurgen diese und andere große Operationen nur bei denen gemacht, die sie aushalten: Menschen unter 70. Dann wurde die Altersgrenze immer weiter nach oben gesetzt. Hinzu kommt, dass die intensivmedizinische Behandlung nach solchen Eingriffen im DRG-System sehr hoch bewertet ist. Wirtschaftlich lohnt sich die Sache also.
Ein typischer Verlauf bei Menschen über 75 sieht so aus: Der Patient wird operiert. Mit Glück kann er nach der Operation alleine atmen und seinen Angehörigen noch einmal in die Augen blicken. Aber spätestens nach zwei, drei Tagen entzündet sich eine der vielen Nähte, die im Bauch gemacht wurden, und es tritt Dünndarmflüssigkeit oder Gallenflüssigkeit in den Bauchraum aus, was wiederum eine Bauchfellentzündung verursacht, die bei älteren Patienten häufig zu Blutvergiftung und Organversagen führt. 80 Prozent erwachen danach nicht mehr aus dem künstlichen Koma, in das wir sie versetzen müssen. So liegen und leiden diese Menschen dann oft wochenlang auf der Intensivstation. Weder sie noch ihre Familien wurden darauf vorbereitet. Auch für die Ärzte und Schwestern auf der Station ist es ungeheuer belastend, solche Verläufe zu begleiten.
Die Indikation stellen die Operateure. Sie sehen die Patienten sechs Stunden im OP. Von der Qual, die dann folgt, wollen sie nichts wissen. Manchmal wird in den gemeinsamen Schmerzkonferenzen darüber diskutiert. Es gibt viele, die denken, dass sie damit den Menschen nicht mehr gerecht werden, und die dieses System, das abwechselnd medizinisch und wirtschaftlich argumentiert, verdammen. Aber es gibt auch die, die es stützen, und das sind in der Regel die Entscheidungsträger. Wenn jemand sagt, lass gut sein, der Mann ist alt, er hat sein Leben gelebt, machen wir eine schonende Schmerztherapie, statt ihm die letzten zwei Jahre radikal zu verkürzen, sagen sie: Die Whipple ist aber nach der Leitlinie die einzige Heilungschance. Das trifft zu: bei 60-Jährigen. Aber ich kenne keinen Patienten über 80, der sich von einer derart verstümmelnden Operation auch nur annähernd erholt hätte.
Als in der Schweiz über die Einführung des DRG-Systems diskutiert wurde, meldete sich der Volkswirtschaftsprofessor Mathias Binswanger zu Wort. Er beschreibt in seinem Buch »Sinnlose Wettbewerbe«, wie in Bereichen der Gesellschaft, in denen es keinen Markt gibt, künstliche Wettbewerbe inszeniert werden. In der Hoffnung auf Effizienz würden Qualitätskennzahlen definiert, die aber an den Bedürfnissen der Kunden vorbeigingen. Das führe zu perversen Anreizen, die absurde Resultate ergäben und die Motivation von Mitarbeitern zerstörten, die mit Fleiß und Akribie messbare Dinge produzierten, die keiner brauche. Binswanger bezweifelt sogar, dass durch die Einführung von Wettbewerbskriterien im Gesundheitssystem Kosten gespart würden. Diese würden oft nur in das nächstgrößere System verlagert: von der Klinik in Rehabilitationszentren und in den ambulanten Bereich; von der Kranken- in die Pflegeversicherung.
Kreiskrankenhaus, Land, Assistenzarzt, ein Paar Monate später
Die alte Dame ist vor ein paar Tagen die Treppe heruntergefallen und hat sich einen Brustwirbel gebrochen. Sie ist schon über 80. Trotz ihres Alters versorgt sie immer noch ihren geistig behinderten Sohn, »meinen Bub«, wie sie sagt; der Bub dürfte um die 60 sein. Ich habe gestern nur kurz ihre Akte angeschaut und sie begrüßt; untersucht habe ich sie noch nicht. Sicher hat sie jede Menge Fragen. Es ist 17 Uhr, eigentlich Dienstschluss. Wenn ich jetzt in ihr Zimmer ginge, würde das ein längeres Gespräch nach sich ziehen. Ich könnte sie sicher ein bisschen trösten und beruhigen: Es gibt gute Chancen, dass sie wieder voll mobil wird, wir könnten über die Sozialstation eine Kurzzeitpflege für den Sohn in die Wege leiten. Schön wäre das: Die Patientin würde besser schlafen, und ich würde zufrieden nach Hause gehen. Stattdessen mache ich Qualitätsmanagement. Für jede Lungenentzündung, jeden Schlaganfall, jeden Herzkatheter müssen endlos Formulare am Computer ausgefüllt werden. Als ich neulich eine ironische Bemerkung darüber gemacht habe, wurde ich vom Oberarzt angeblafft: Das sei ganz wichtig für die Prozessoptimierung, eine Investition in die zukünftige Behandlungsqualität. Diese Frau braucht nur meine Zeit, Fürsorge und ein bisschen soliden Sachverstand; alles Dinge, die die Verwaltung nicht interessieren, weil man sie nicht standardisieren und abrechnen kann. Aber ich habe mir abgewöhnt, das zu kritisieren. So wie ich es auch keinem Kollegen erzählt habe, dass ich neulich in der Zeitung gesehen habe, dass die Schlaganfallpatientin, die das Pech hatte, nachts in unserem Haus behandelt zu werden, jetzt gestorben ist.
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