Vorwärts immer, retro nimmer
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Vorwärts immer, retro nimmer
James Blake gilt als Pop-Wunderkind. Jetzt hat er sein zweites Album aufgenommen. Und behauptet, es sei sein erstes
Ein Mann läuft durch den Schnee. Die Hände in den Taschen seines schwarzen Wintermantels, blickt James Blake uns resigniert entgegen. Neben ihm reckt sich ein kahler Strauch ins Bild. So stehen wir gerade selber in der weißen Nachosterlandschaft. Man hält "Overgrown", Blakes zweites Album, in den Fingern, schaut die Hülle an und denkt: Ja, das schafft nur die Popmusik, dass junge Leute arglos Platten aufnehmen, für die man sie als Visionäre feiert, wenn die Platten dann erscheinen.
Auf das Album wurde sehnsüchtig gewartet, jedenfalls im Internet. Nichts wurde in den zuständigen Foren so erbittert diskutiert wie der Entwurf des Covers. Zur Debatte stand ein Foto von James Blake vor einem Ölschinken, vor Hirsch und Wasserfall. Die Online-Kommentare reichten von frühlingshafter Zustimmung über ästhetische Einwände bis hin zur triumphierenden Schadenfreude darüber, dass der sensible Sänger nun endgültig in der guten Stube angekommen sei. Statt dessen also: Einsamkeit im Permafrost der Gegenwart.
Zwei Jahre ist es her, dass James Blake als Debütant begrüßt wurde. Ein damals 22-jähriger Engländer, der anrührend zu ausgefalleneren Klangcollagen sang. Sein erstes Album hieß "James Blake", und für das Titelfoto hatte ihn die Kamera in einen digitalen Geist verwandelt. Die Stücke hörten sich so weltfern an, dass sie weltweit Gehör fanden. Vor allem "Limit To Your Love", im Original von Feist aus Kanada, klang bei ihm nicht mehr wie ein landläufiger Song, sondern wie ein vertontes Rätsel.
In "Never Learnt To Share" versuchte sich ein Einzelkind zu öffnen. Wie bei allen Platten, die in die Geschichte eingingen, waren die Kritiker sich uneins: Für die einen war "James Blake" ein Meisterwerk des experimentalelektronischen Kunstlieds. Für die anderen ein Kniefall vor dem Volk, das elektronische Musikexperimente nur erträgt, wenn jemand dazu singt. Das Album wurde 400.000Mal gekauft, für ein noch namenloses Genre eine Sensation. Für das, was Blake tat, kam damals ein neues Wort auf: "Post-Dubstep". Was jeden, der bereits vom Dubstep nichts bemerkt hatte, zwar zusätzlich verwirrte, aber auch nicht weiter kümmerte.
James Blake sitzt in einem Hotel in London und nimmt das Wort "Dubstep" in den Mund wie eine saure Frucht. Ja, ohne seine Ausflüge ins Londoner Nachtleben, in die Kultur der Bassmusik, sänge er vielleicht Klavierballaden. Nein, der Dubstep sei ihm als Begriff zu eng und auch wieder zu weit, weil er heute für alles stehe und für nichts mehr. Damit, sagt er, wäre das erledigt, bevor "Overgrown" erscheint und alle wieder davon anfangen. James Blake wirkt überhaupt, als habe er sich in die Popmusik verirrt. Er nippt am Tee und rückt sich einiges zurecht, höflich, aber entschieden: "'James Blake' kam mir zu keiner Zeit vor wie ein Album. Es war lediglich eine Collage." Eine Vorarbeit für das von ihm persönlich abgesegnete Debüt.
Es gibt ein Stück auf seinem ordentlichen ersten Album, es heißt "Take A Fall For Me", wo sich zwei Welten treffen. Blake stimmt eine herzerweichende Klage an über die Aussichtslosigkeit der Liebe, man hört demolierte Hochzeitsglocken. Dann meldet sich Robert Diggs zu Wort, bekannt unter dem Namen RZA vom Wu-Tang Clan aus Brooklyn in New York. Der alte Rapper gibt dem jungen Sänger Weisheiten mit auf den Weg wie: "Sex rettet den Leib, Wahrheit rettet den Geist." Während die beiden sich so austauschen, knirscht die Musik, als liefen sie gemeinsam über einen Kiesweg. Blake spaziert, Diggs schlurft.
Man hat sich an die finsteren Gesellen der Clubkultur gewöhnt, an zwielichtige Helden, die vom Keller in die Hitparaden aufgestiegen sind. Schon deshalb muss man, um von Blakes Musik zu reden, immer wieder von James Blake erzählen: 1989, als die Popmusikgeschichte aufhört und in ihre ewigen Wiederholungen eintritt, wird er geboren. Im bürgerlichen Londoner Nordwesten wächst er auf. James Litherland, sein Vater, hatte in der Jazz-Blues-Rockband Colosseum mitgewirkt, Ende der Sechziger. Der Sohn wird mit sechs Jahren ans Klavier gesetzt und auf eine Privatschule geschickt. Früh nimmt James sich vor, nichts mehr zu spielen, was es bereits gibt. So dehnt er seine Studien an der Londoner Goldsmith-Universität nachts auf die Clubs aus. Jungle inspiriert ihn, später Dubstep.
Im Sommer 2009 erscheint die erste Single von James Blake. "Air & Lack Thereof" wird einhellig gelobt. Die folgenden Pressungen, "Klavierwerke" und "CMYK", werden bejubelt als eine Art Dubstep höherer Ordnung. Dann erscheint "James Blake", er singt zwischen zwei fremden Liedern eigene Gedichte; er erklärt, ein Nachfahr des Poeten William Blake zu sein. Er wird als Wunderkind gehandelt, sein Geschäftserfolg kränkt die Musikkritiker, die geschäftsübliche Mäkelei setzt ein. "Dem Lob folgt die Kritik. Der Kritik folgt die Selbsterkenntnis. Und der Selbsterkenntnis folgt die Schreibblockade", sagt James Blake und lächelt.
Aber jetzt ist "Overgrown" ja da, und man muss sagen: Alles, was James Blake zuletzt zur Last gelegt wurde, tut er auf diesem Album wieder, nur noch konsequenter. Alles, was einem schon auf "James Blake" behagt hatte, wird umso schöner. "I don't wanna be a star", klagt er im Titelstück. Mal singt er mit sich selbst, mal mit dem Synthesizer im Duett. Und seine Stimme kann ein reines Instrument sein oder eben eine klare Stimme, die uns etwas sagen möchte, allerdings so weinerlich, dass man nur schwer versteht, worum es geht. Aber das macht nichts. Die Musik erzählt. Zunächst von ihrer Herkunft, aus den Clubs, woher die Beats und Bässe stammen, und den Seminaren, wo man weniger über das Musizieren lernt als über musikalische Ideen, über Raum und Zeit. "Time passes in the constant state", wimmert James Blake in "Overgrown": Die Zeit vergeht beim Singen, aber alles bleibt dabei beim Alten.
Man kann hören, was er sonst so hört, wenn er nicht selbst spielt. Nämlich nicht nur Dubstep und Klaviermusik, sondern auch Blues und Folk. Bei ihm wird daraus dann etwas, das man Post-Soul nennen könnte, wenn James Blake einen dafür nicht töten würde. Sein Album fährt da fort, wo vor zwei Jahren zunächst Schluss war, bei "The Wilhelm Scream", einem Song seines Vaters, von James Blake lediglich in merkwürdige Sounds verpackt.
"Heute weiß ich, was ich damals wollte. Songs schreiben, sie spielen und singen. Musiker sind Menschen, die von anderen Menschen leben, von der Resonanz. Erst daraus wird Musik. Ein Sender braucht einen Empfänger", sagt James Blake. Wenn 24-Jährige heute Lieder machen, richten sie sich häufig nach den Liedern ihrer Väter – und verwandeln sich dabei in nostalgieselige ältere Männer. "Overgrown" beweist endlich, dass es auch vorwärts geht, und zwar nicht, weil James Blake an irgendwelchen Filtern schraubt und sich in eine Cyberkathedrale stellt: Er nimmt das ewige Recht der Jugend wahr und legt neu fest, was einen Song auszeichnet. Melodien wären wünschenswert, Refrains nicht zwingend. Jeder Song sollte wie ein soziales Netzwerk wirken, wo der Sänger, einsam in der Kälte, sich und seine Seele offenbart. Hier und heute.
James Blake: Overgrown (Polydor)
Quelle
Ein Mann läuft durch den Schnee. Die Hände in den Taschen seines schwarzen Wintermantels, blickt James Blake uns resigniert entgegen. Neben ihm reckt sich ein kahler Strauch ins Bild. So stehen wir gerade selber in der weißen Nachosterlandschaft. Man hält "Overgrown", Blakes zweites Album, in den Fingern, schaut die Hülle an und denkt: Ja, das schafft nur die Popmusik, dass junge Leute arglos Platten aufnehmen, für die man sie als Visionäre feiert, wenn die Platten dann erscheinen.
Auf das Album wurde sehnsüchtig gewartet, jedenfalls im Internet. Nichts wurde in den zuständigen Foren so erbittert diskutiert wie der Entwurf des Covers. Zur Debatte stand ein Foto von James Blake vor einem Ölschinken, vor Hirsch und Wasserfall. Die Online-Kommentare reichten von frühlingshafter Zustimmung über ästhetische Einwände bis hin zur triumphierenden Schadenfreude darüber, dass der sensible Sänger nun endgültig in der guten Stube angekommen sei. Statt dessen also: Einsamkeit im Permafrost der Gegenwart.
Zwei Jahre ist es her, dass James Blake als Debütant begrüßt wurde. Ein damals 22-jähriger Engländer, der anrührend zu ausgefalleneren Klangcollagen sang. Sein erstes Album hieß "James Blake", und für das Titelfoto hatte ihn die Kamera in einen digitalen Geist verwandelt. Die Stücke hörten sich so weltfern an, dass sie weltweit Gehör fanden. Vor allem "Limit To Your Love", im Original von Feist aus Kanada, klang bei ihm nicht mehr wie ein landläufiger Song, sondern wie ein vertontes Rätsel.
In "Never Learnt To Share" versuchte sich ein Einzelkind zu öffnen. Wie bei allen Platten, die in die Geschichte eingingen, waren die Kritiker sich uneins: Für die einen war "James Blake" ein Meisterwerk des experimentalelektronischen Kunstlieds. Für die anderen ein Kniefall vor dem Volk, das elektronische Musikexperimente nur erträgt, wenn jemand dazu singt. Das Album wurde 400.000Mal gekauft, für ein noch namenloses Genre eine Sensation. Für das, was Blake tat, kam damals ein neues Wort auf: "Post-Dubstep". Was jeden, der bereits vom Dubstep nichts bemerkt hatte, zwar zusätzlich verwirrte, aber auch nicht weiter kümmerte.
James Blake sitzt in einem Hotel in London und nimmt das Wort "Dubstep" in den Mund wie eine saure Frucht. Ja, ohne seine Ausflüge ins Londoner Nachtleben, in die Kultur der Bassmusik, sänge er vielleicht Klavierballaden. Nein, der Dubstep sei ihm als Begriff zu eng und auch wieder zu weit, weil er heute für alles stehe und für nichts mehr. Damit, sagt er, wäre das erledigt, bevor "Overgrown" erscheint und alle wieder davon anfangen. James Blake wirkt überhaupt, als habe er sich in die Popmusik verirrt. Er nippt am Tee und rückt sich einiges zurecht, höflich, aber entschieden: "'James Blake' kam mir zu keiner Zeit vor wie ein Album. Es war lediglich eine Collage." Eine Vorarbeit für das von ihm persönlich abgesegnete Debüt.
Es gibt ein Stück auf seinem ordentlichen ersten Album, es heißt "Take A Fall For Me", wo sich zwei Welten treffen. Blake stimmt eine herzerweichende Klage an über die Aussichtslosigkeit der Liebe, man hört demolierte Hochzeitsglocken. Dann meldet sich Robert Diggs zu Wort, bekannt unter dem Namen RZA vom Wu-Tang Clan aus Brooklyn in New York. Der alte Rapper gibt dem jungen Sänger Weisheiten mit auf den Weg wie: "Sex rettet den Leib, Wahrheit rettet den Geist." Während die beiden sich so austauschen, knirscht die Musik, als liefen sie gemeinsam über einen Kiesweg. Blake spaziert, Diggs schlurft.
Man hat sich an die finsteren Gesellen der Clubkultur gewöhnt, an zwielichtige Helden, die vom Keller in die Hitparaden aufgestiegen sind. Schon deshalb muss man, um von Blakes Musik zu reden, immer wieder von James Blake erzählen: 1989, als die Popmusikgeschichte aufhört und in ihre ewigen Wiederholungen eintritt, wird er geboren. Im bürgerlichen Londoner Nordwesten wächst er auf. James Litherland, sein Vater, hatte in der Jazz-Blues-Rockband Colosseum mitgewirkt, Ende der Sechziger. Der Sohn wird mit sechs Jahren ans Klavier gesetzt und auf eine Privatschule geschickt. Früh nimmt James sich vor, nichts mehr zu spielen, was es bereits gibt. So dehnt er seine Studien an der Londoner Goldsmith-Universität nachts auf die Clubs aus. Jungle inspiriert ihn, später Dubstep.
Im Sommer 2009 erscheint die erste Single von James Blake. "Air & Lack Thereof" wird einhellig gelobt. Die folgenden Pressungen, "Klavierwerke" und "CMYK", werden bejubelt als eine Art Dubstep höherer Ordnung. Dann erscheint "James Blake", er singt zwischen zwei fremden Liedern eigene Gedichte; er erklärt, ein Nachfahr des Poeten William Blake zu sein. Er wird als Wunderkind gehandelt, sein Geschäftserfolg kränkt die Musikkritiker, die geschäftsübliche Mäkelei setzt ein. "Dem Lob folgt die Kritik. Der Kritik folgt die Selbsterkenntnis. Und der Selbsterkenntnis folgt die Schreibblockade", sagt James Blake und lächelt.
Aber jetzt ist "Overgrown" ja da, und man muss sagen: Alles, was James Blake zuletzt zur Last gelegt wurde, tut er auf diesem Album wieder, nur noch konsequenter. Alles, was einem schon auf "James Blake" behagt hatte, wird umso schöner. "I don't wanna be a star", klagt er im Titelstück. Mal singt er mit sich selbst, mal mit dem Synthesizer im Duett. Und seine Stimme kann ein reines Instrument sein oder eben eine klare Stimme, die uns etwas sagen möchte, allerdings so weinerlich, dass man nur schwer versteht, worum es geht. Aber das macht nichts. Die Musik erzählt. Zunächst von ihrer Herkunft, aus den Clubs, woher die Beats und Bässe stammen, und den Seminaren, wo man weniger über das Musizieren lernt als über musikalische Ideen, über Raum und Zeit. "Time passes in the constant state", wimmert James Blake in "Overgrown": Die Zeit vergeht beim Singen, aber alles bleibt dabei beim Alten.
Man kann hören, was er sonst so hört, wenn er nicht selbst spielt. Nämlich nicht nur Dubstep und Klaviermusik, sondern auch Blues und Folk. Bei ihm wird daraus dann etwas, das man Post-Soul nennen könnte, wenn James Blake einen dafür nicht töten würde. Sein Album fährt da fort, wo vor zwei Jahren zunächst Schluss war, bei "The Wilhelm Scream", einem Song seines Vaters, von James Blake lediglich in merkwürdige Sounds verpackt.
"Heute weiß ich, was ich damals wollte. Songs schreiben, sie spielen und singen. Musiker sind Menschen, die von anderen Menschen leben, von der Resonanz. Erst daraus wird Musik. Ein Sender braucht einen Empfänger", sagt James Blake. Wenn 24-Jährige heute Lieder machen, richten sie sich häufig nach den Liedern ihrer Väter – und verwandeln sich dabei in nostalgieselige ältere Männer. "Overgrown" beweist endlich, dass es auch vorwärts geht, und zwar nicht, weil James Blake an irgendwelchen Filtern schraubt und sich in eine Cyberkathedrale stellt: Er nimmt das ewige Recht der Jugend wahr und legt neu fest, was einen Song auszeichnet. Melodien wären wünschenswert, Refrains nicht zwingend. Jeder Song sollte wie ein soziales Netzwerk wirken, wo der Sänger, einsam in der Kälte, sich und seine Seele offenbart. Hier und heute.
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