DDR Geschichte:17. Juni '53 - Streik in fast allen Großbetrieben Ost-Berlins
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DDR Geschichte:17. Juni '53 - Streik in fast allen Großbetrieben Ost-Berlins
Die DDR vor 60 Jahren: Im ganzen Land protestieren Hunderttausende gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen und für politische Freiheiten. Das Protokoll eines Tages, der das SED-Regime erschüttert.
Am 17. Juni 1953 beginnt der Berliner Rias seine Nachrichtensendung mit der Aufforderung an die "Arbeiter aller Industriezweige Ost-Berlins", sich "um 7.00 Uhr am Strausberger Platz zu einer gemeinsamen Demonstration" zu versammeln. Diese Spitzenmeldung wird in den kommenden Nachrichten stündlich wiederholt. Gegen 16 Uhr liegen Dutzende Schwerverletzte in Krankenhäusern. Mehrere Menschen wurden bei Zusammenstößen mit der DDR-Volkspolizei und Soldaten der Roten Armee getötet.
Der Volksaufstand, der um den 17. Juni 1953 die DDR erschütterte, stellte klar, dass das SED-Regime nur mit sowjetischer Unterstützung überlebensfähig war. Umgehend wurde der Repressionsapparat ausgebaut, zugleich votierten immer mehr Menschen mit ihrer Ausreise gegen den Arbeiter- und Bauernstaat.
Aus Berichten der Volkspolizei, der DDR-Staatssicherheit, der SED, des Rias, der West-Berliner Polizei sowie der "Berliner Morgenpost", des "Tagesspiegel" und aus Memoirenliteratur entsteht das Protokoll eines Tages, der nicht nur in Ost-Berlin historische Dimensionen annahm.
Magdeburg, gegen 9 Uhr
Nahezu die gesamte Belegschaft der Kombinats "Ernst Thälmann" schließt sich einem Demonstrationszug in die Innenstadt an. Die Streikenden skandieren: "Magdeburger, folgt den Berlinern!"
Bitterfeld, gegen 9 Uhr
Hunderte Chemiearbeiter versammeln sich vor der Betriebsleitung und fordern die Freilassung von vier Kollegen, die am Vortrag als "Rädelsführer" festgenommen worden waren. Die zuständigen SED-Funktionäre werden niedergeschrien, als sie die vom Politbüro vorgegebenen Parolen verkünden wollen. Der Elektromonteur Paul Othma formuliert die Forderungen der Streikenden: "Abschaffung der Normen, Senkung der Lebensmittelpreise, Entfernung aller SED-Funktionäre" – und natürlich Rücktritt der DDR-Regierung, freie Wahlen und Wiedervereinigung.
Berlin-Reinickendorf, gegen 9 Uhr
Unter dem Jubel von Tausenden West-Berlinern ziehen die Stahlarbeiter aus Hennigsdorf durch die Straßen im französischen Sektor in Richtung Ost-Berliner Innenstadt. Sie skandieren Parolen wie "Freie Wahlen!" und "Nieder mit der Regierung!", singen außerdem "Einigkeit und Recht und Freiheit" sowie die "Internationale".
Berlin-Mitte, gegen 8.50 Uhr
Bert Brecht, inzwischen in seinem Büro angekommen, befiehlt "mit der Attitüde eines Generalstäblers" zwei Mitarbeitern, im Theater-eigenen Wagen zum DDR-Funkhaus in der Nalepastraße zu fahren und der "Idiotie ein Ende zu setzen". Damit meint Brecht die Operettenmelodien, die ständig gesendet werden.
Berlin-Friedrichshain, 8.48 Uhr
Gerüchte verbreiten sich. Am Strausberger Platz sollen Russen bereits auf Demonstranten geschossen haben, heißt es. In Wirklichkeit gibt es bisher nur Rangeleien, Schießbefehl haben die Rotarmisten noch nicht.
Berlin-Mitte, 8.45 Uhr
Überall in der Ost-Berliner Innenstadt sind Panzerspähwagen der Roten Armee aufgefahren. Die sowjetische Botschaft Unter den Linden wird von Soldaten bewacht; in einer benachbarten Ruine haben sich Rotarmisten mit Maschinengewehren verschanzt. Vor den Gebäuden der DDR-Regierung und der SED stehen Volkspolizisten, in der Nähe Lastwagen mit "Freunden", also sowjetischen Soldaten. Am Brandenburger Tor sind mehrere Abteilungen der paramilitärischen Kasernierten Volkspolizei stationiert.
Halle, gegen 8.35 Uhr
Mehrere hundert Arbeiter des VEB Lokomotiven- und Waggonbau Ammendorf ziehen zum Verwaltungsgebäude und fordern die Werksleitung zum Gespräch. Kein Vertreter der SED erscheint.
Berlin-Köpenick, 8.30 Uhr
Die Belegschaft des Funkwerkes trifft sich unter Leitung des Entwicklungsingenieurs Siegfried Berger zu einer Betriebsversammlung. Sie beschließen drei Forderungen: Rücktritt der Regierung, freie und geheime Wahlen sowie die sofortige Wiedervereinigung Deutschlands. Es ist der erste am 17. Juni verabschiedete Katalog konkreter Forderungen.
Berlin-Mitte, 8.25 Uhr
Die Grenzpolizei der DDR schließt alle Kontrollpunkte zwischen Ost- und West-Berlin. Weil die Demarkationslinie zwischen dem sowjetischen und den drei westlichen Sektoren aber nur an der Grenze zu Brandenburg mit Zäunen und Stacheldraht befestigt ist, lässt sich diese Sperre nicht durchsetzen. Die West-Berliner U-Bahnen fahren noch unter Ost-Berlin hindurch, die grenzüberschreitenden S-Bahnen stellen nach und nach den Betrieb ein.
Leipzig, gegen 8.20 Uhr
Mehrere tausend Demonstranten ziehen durch die Stadt. Alle Großbaustellen haben sich angeschlossen. Die Straßenbahnen fahren nicht mehr, auf dem Ring um die Innenstadt stockt der Verkehr.
Dresden, 8.15 Uhr
Im Elektromaschinen-Konzern VEB Sachsenwerk wendet sich der SED-Sekretär per Betriebsfunk an die Belegschaft. Er räumt ein, es habe "Überspitzungen" in der Politik der Regierung gegeben, die aber zurückgenommen würden. Gleichzeitig lehnte er jedes weitere Zugeständnis vehement ab. Die kurze Ansprache konsterniert die Belegschaft, die nun die Arbeit niederlegt und vor das Verwaltungsgebäude zieht.
Berlin-Weißensee, gegen 8.10 Uhr
Bert Brecht fährt mit seinen Vertrauten Richtung Innenstadt, zur Probebühne des Berliner Ensembles. Auf der Fahrt hört der Schriftsteller, dass auf allen DDR-Sendern nur Operettenmusik läuft, und bekommt einen Wutanfall.
Leuna, gegen 8 Uhr
In dem riesigen Chemiewerk der Stadt in Sachsen-Anhalt legen rund 20.000 Beschäftigte die Arbeit nieder und streben Richtung Zentralverwaltung. Sie fordern in Sprechchören "Rücktritt der Regierung!" und "Freie Wahlen!".
Berlin-Mitte, 7.40 Uhr
Am Molkenmarkt hinter dem Roten Rathaus kommt es zu Rangeleien zwischen DDR-Uniformierten und Demonstranten. Zum ersten Mal an diesem Tag gibt es das Kommando zum Knüppeleinsatz. Es kommt zu ersten Befehlsverweigerungen von Uniformierten, die nicht gegen Arbeiter vorgehen wollen.
Moskau, 9.36 Uhr Ortszeit (7.36 Uhr MEZ)
Im Kreml trifft ein aktueller Bericht von Semjonow und Gretschko ein. Sie betonen, dass bereits 450 Rotarmisten an Brennpunkten des sowjetischen Sektors im Einsatz seien. Allerdings sollen "die sowjetischen Truppen eine aktive Rolle bei der Sicherung der Ordnung nur im äußersten Notfall übernehmen".
Ost-Berlin, gegen 7.15 Uhr
In fast allen Großbetrieben im sowjetischen Sektor der Stadt befindet sich die Frühschicht im Streik. Vielfach bilden sich spontan Demonstrationszüge in die Innenstadt, in anderen Fabriken werden Arbeiterversammlungen angesetzt.
Berlin-Oberschöneweide, 7.10 Uhr
Aus dem Funkhaus Nalepastraße verbreitet das DDR-Politprogramm "Radio Berlin I" Ungewohntes: "Es muss endgültig und radikal Schluss gemacht werden mit jeglicher Methode des Administrierens in der Normenfrage. Die Forderungen der Bauarbeiter nach Verbesserung der Arbeitsorganisation, nach Überprüfung tatsächlich falsch berechneter Normen müssen unbedingt beachtet werden." Das scheinbare Verständnis für die Forderungen der Arbeiter bleibt eine einmalige Ausnahme. Kurz darauf sind nur noch leichte Melodien zu hören.
Berlin-Friedrichshain, gegen 7 Uhr
Auf dem Strausberger Platz haben sich mehr als 3000 Arbeiter versammelt. Die Volkpolizei versucht mit mehreren hundert Mann, weitere ständig nachströmende Demonstranten abzudrängen, was misslingt.
Jessen (Sachsen-Anhalt), gegen 7 Uhr
Auf dem Marktplatz der Kreisstadt haben sich rund 250 Landwirte versammelt, um gegen die Zwangskollektivierung zu protestieren. Sie ziehen vor das Gebäude der Kreisverwaltung und fordern die Freilassung aller gefangenen Bauern.
Berlin-Friedrichshain, 6.47 Uhr
Etwa tausend Demonstranten sind über die Stalinallee auf dem Weg zum Strausberger Platz, meldet die Volkspolizei. Aus anderen Richtungen kommen weitere Ost-Berliner, insgesamt mehrere tausend. Es schüttet in Strömen.
Jena, gegen 6.30 Uhr
Die Frühschicht beim VEB Carl Zeiss legt die Arbeit nieder. Die Beschäftigten beschließen, zum Zweigwerk VEB Schott zu ziehen und die Kollegen dort ebenfalls für einen Ausstand zu gewinnen.
Berlin-Friedrichshain, 6.25 Uhr
Die Belegschaft des Bremsenwerkes Berlin hat die Arbeit ausnahmslos niedergelegt.
Hennigsdorf bei Berlin, gegen 6.15 Uhr
Etwa 10.000 Arbeiter aus der Nacht- und der Frühschicht des VEB Stahl- und Walzwerk versammeln sich in ihrer Fabrik. Sie wollen in die Ost-Berliner Innenstadt marschieren und gegen die DDR-Regierung demonstrieren.
Leipzig, gegen 6 Uhr
In zahlreichen Betrieben weigern sich die Frühschichten, die Arbeit aufzunehmen. Im VEB Ifa-Getriebewerk formiert sich ein Protestzug, der Losungen wie "Nieder mit der Volkspolizei" oder "Wir fordern ein besseres Leben!" skandiert.
Washington D.C., gegen 0 Uhr Ortszeit (6 Uhr MEZ)
US-Präsident Dwight D. Eisenhower geht zu Bett. Er ist informiert über "Unruhen in Berlin", hat sich aber damit nicht weiter beschäftigt. Viel wichtiger ist dem früheren Fünfsterne-General die international hochumstrittene Todesstrafe für die beiden sowjetischen Atomspione Julius und Ethel Rosenberg, die am 19. Juni vollstreckt werden soll.
Berlin-Lichtenberg, 5.45 Uhr
Vor dem VEB Wälzlager stehen etwa 150 protestierende Arbeiter. Die Nachtschicht verlässt trotz Aufforderung durch die Betriebsleitung ihre Arbeitsplätze nicht, tut aber sonst nichts.
Berlin-Schöneberg, 5.36 Uhr
West-Berlins DGB-Chef Ernst Scharnowski, ein überzeugter Antikommunist, ruft über den Rias die Ost-Berliner Arbeiter auf, weiterzustreiken: "Ihr könnt Eure Forderungen, gestützt auf die in der sowjetischen Besatzungszone geltenden Grundrechte der Verfassung, mit vollem Recht verlangen. Eure Regierung hat selber diese Grundrechte beschlossen und damit auch für euch die Freiheit zum Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse gestartet." Treffpunkt für die Demonstranten soll um 7 Uhr morgens der Strausberger Platz sein.
Berlin-Lichtenberg, 5.15 Uhr
Die Frühschicht des VEB "Fortschritt" marschiert zu einem Zweigwerk, um die Kollegen dort zum Streik aufzufordern.
Leipzig, gegen 5 Uhr
Der junge Schriftsteller Erich Loest wartet am Hauptbahnhof auf seinen Zug nach Berlin. Er soll als Vertreter des Leipziger Chefs des Schriftstellerverbandes an einer Sitzung in Ost-Berlin teilnehmen. Die SED-Parteizeitung "Neues Deutschland" ist noch nicht ausgeliefert. Loest, SED-Mitglied und überzeugter Kommunist, wundert sich über Rangeleien und Grüppchen, die diskutierend im Bahnhof herumstehen.
Berlin-Karlshorst, kurz vor 5 Uhr
Der Ingenieur Siegfried Berger wacht in seinem Haus auf, weil eine größere Zahl sowjetischer Panzer und Spähwagen unter dem Fenster seines Schlafzimmers vorbeirattert. Ihre Peitschenantennen schlagen gegen die Oberleitungen der Straßenbahn und erzeugen einen Funkenregen. Berger ist Abteilungsleiter Entwicklung im Funkwerk Köpenick.
Rund um Berlin, 3.30 Uhr
In allen sowjetischen Garnisonen um die Viermächte-Stadt werden die Soldaten vor Morgengrauen geweckt und machen ihre Fahrzeuge bereit.
Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), 3.15 Uhr
Die örtliche Volkspolizei richtet einen Krisenstab ein, um den erwartbaren Protesten entgegentreten zu können.
Dresden, gegen 3 Uhr
Die Bezirksleitung der SED bekommt telefonisch eine Warnung aus Ost-Berlin. Es sei damit zu rechnen, "dass im Laufe der Nacht oder den frühen Morgenstunden bestimmte Kräfte aus Berlin in den Betrieben versuchen werden, Unruhe zu stiften".
Berlin-Karlshorst, gegen 2 Uhr
Im sowjetischen Hauptquartier in der DDR treffen sich Ulbricht, Ministerpräsident Otto Grotewohl und Stasi-Chef Wilhelm Zaisser mit dem sowjetischen Hochkommissar Wladimir Semjonow und dem Befehlshaber der Roten Armee in der DDR, Andrei Gretschko. Gemeinsam machen sie Pläne für ein militärisches Eingreifen in Ost-Berlin.
Berlin-Mitte, 1 Uhr
In einer turbulenten nächtlichen Sitzung hat das Politbüro der SED über den Umgang mit den Demonstranten beraten. Generalsekretär Walter Ulbricht, dessen ungeschicktem Agieren die meisten übrigen Spitzenfunktionäre die Schuld für die Eskalation geben, wird heftig kritisiert. FDJ-Chef Erich Honecker hält fest: "Alle fallen über Walter her. Er wird wohl unterliegen."
Bonn, 0.30 Uhr
Während im Kanzleramt immer neue, beunruhigende Nachrichten aus Ost-Berlin eintreffen, ist Bundeskanzler Konrad Adenauer mit einem ganz anderen politischen Vorgang beschäftigt: Er scheitert mit dem Versuch, das seit 1949 geltende Verhältnis- durch ein Mehrheitswahlrecht zu ersetzen. Sein Koalitionspartner FDP, die oppositionelle SPD und sogar Teile der CDU sind strikt dagegen. Adenauer droht indirekt mit Rücktritt, kann sich aber nicht durchsetzen.
Berlin-Mitte, 0.20 Uhr
Das Präsidium der Volkspolizei ordnet an, dass die Leiter aller Inspektionen um 6 Uhr anwesend sein sollen. Eine Stunde später hat volle Alarmstufe zu gelten.
Berlin-Weißensee, gegen 0.15 Uhr
Im Haus von Bert Brecht sitzen einige enge Vertraute mit dem Dichter zusammen. Der Vorzeige-Intellektuelle der DDR begrüßt zu ihrer Überraschung den Streik in Ost-Berlin als "endliches Handeln der Arbeiter", ist aber mit dem Verlauf unzufrieden, weil sie keine Räte und Komitees gegründet haben. Brecht fordert im privaten Kreis, "die Streikenden zu bewaffnen".
Berlin-Lichtenberg, gegen 0.10 Uhr
Im VEB Wälzlager hat die Nachtschicht die Arbeit niedergelegt. Bereits am Tag zuvor war es an zwei Ost-Berliner Großbaustellen – in der Stalinallee und im Krankenhaus Friedrichshain – zu Arbeitsniederlegungen und anschließenden Protesten gekommen. Obwohl das Politbüro die heftig umstrittene Normenerhöhung (die für Lohn zu erbringende Arbeitsleistung) zurücknahm, wurden Rufe nach Rücktritt der Regierung und freien Wahlen laut. In Sprechchören kündigten Demonstranten für den 17. Juni einen Generalstreik an.
Quelle
Am 17. Juni 1953 beginnt der Berliner Rias seine Nachrichtensendung mit der Aufforderung an die "Arbeiter aller Industriezweige Ost-Berlins", sich "um 7.00 Uhr am Strausberger Platz zu einer gemeinsamen Demonstration" zu versammeln. Diese Spitzenmeldung wird in den kommenden Nachrichten stündlich wiederholt. Gegen 16 Uhr liegen Dutzende Schwerverletzte in Krankenhäusern. Mehrere Menschen wurden bei Zusammenstößen mit der DDR-Volkspolizei und Soldaten der Roten Armee getötet.
Der Volksaufstand, der um den 17. Juni 1953 die DDR erschütterte, stellte klar, dass das SED-Regime nur mit sowjetischer Unterstützung überlebensfähig war. Umgehend wurde der Repressionsapparat ausgebaut, zugleich votierten immer mehr Menschen mit ihrer Ausreise gegen den Arbeiter- und Bauernstaat.
Aus Berichten der Volkspolizei, der DDR-Staatssicherheit, der SED, des Rias, der West-Berliner Polizei sowie der "Berliner Morgenpost", des "Tagesspiegel" und aus Memoirenliteratur entsteht das Protokoll eines Tages, der nicht nur in Ost-Berlin historische Dimensionen annahm.
Magdeburg, gegen 9 Uhr
Nahezu die gesamte Belegschaft der Kombinats "Ernst Thälmann" schließt sich einem Demonstrationszug in die Innenstadt an. Die Streikenden skandieren: "Magdeburger, folgt den Berlinern!"
Bitterfeld, gegen 9 Uhr
Hunderte Chemiearbeiter versammeln sich vor der Betriebsleitung und fordern die Freilassung von vier Kollegen, die am Vortrag als "Rädelsführer" festgenommen worden waren. Die zuständigen SED-Funktionäre werden niedergeschrien, als sie die vom Politbüro vorgegebenen Parolen verkünden wollen. Der Elektromonteur Paul Othma formuliert die Forderungen der Streikenden: "Abschaffung der Normen, Senkung der Lebensmittelpreise, Entfernung aller SED-Funktionäre" – und natürlich Rücktritt der DDR-Regierung, freie Wahlen und Wiedervereinigung.
Berlin-Reinickendorf, gegen 9 Uhr
Unter dem Jubel von Tausenden West-Berlinern ziehen die Stahlarbeiter aus Hennigsdorf durch die Straßen im französischen Sektor in Richtung Ost-Berliner Innenstadt. Sie skandieren Parolen wie "Freie Wahlen!" und "Nieder mit der Regierung!", singen außerdem "Einigkeit und Recht und Freiheit" sowie die "Internationale".
Berlin-Mitte, gegen 8.50 Uhr
Bert Brecht, inzwischen in seinem Büro angekommen, befiehlt "mit der Attitüde eines Generalstäblers" zwei Mitarbeitern, im Theater-eigenen Wagen zum DDR-Funkhaus in der Nalepastraße zu fahren und der "Idiotie ein Ende zu setzen". Damit meint Brecht die Operettenmelodien, die ständig gesendet werden.
Berlin-Friedrichshain, 8.48 Uhr
Gerüchte verbreiten sich. Am Strausberger Platz sollen Russen bereits auf Demonstranten geschossen haben, heißt es. In Wirklichkeit gibt es bisher nur Rangeleien, Schießbefehl haben die Rotarmisten noch nicht.
Berlin-Mitte, 8.45 Uhr
Überall in der Ost-Berliner Innenstadt sind Panzerspähwagen der Roten Armee aufgefahren. Die sowjetische Botschaft Unter den Linden wird von Soldaten bewacht; in einer benachbarten Ruine haben sich Rotarmisten mit Maschinengewehren verschanzt. Vor den Gebäuden der DDR-Regierung und der SED stehen Volkspolizisten, in der Nähe Lastwagen mit "Freunden", also sowjetischen Soldaten. Am Brandenburger Tor sind mehrere Abteilungen der paramilitärischen Kasernierten Volkspolizei stationiert.
Halle, gegen 8.35 Uhr
Mehrere hundert Arbeiter des VEB Lokomotiven- und Waggonbau Ammendorf ziehen zum Verwaltungsgebäude und fordern die Werksleitung zum Gespräch. Kein Vertreter der SED erscheint.
Berlin-Köpenick, 8.30 Uhr
Die Belegschaft des Funkwerkes trifft sich unter Leitung des Entwicklungsingenieurs Siegfried Berger zu einer Betriebsversammlung. Sie beschließen drei Forderungen: Rücktritt der Regierung, freie und geheime Wahlen sowie die sofortige Wiedervereinigung Deutschlands. Es ist der erste am 17. Juni verabschiedete Katalog konkreter Forderungen.
Berlin-Mitte, 8.25 Uhr
Die Grenzpolizei der DDR schließt alle Kontrollpunkte zwischen Ost- und West-Berlin. Weil die Demarkationslinie zwischen dem sowjetischen und den drei westlichen Sektoren aber nur an der Grenze zu Brandenburg mit Zäunen und Stacheldraht befestigt ist, lässt sich diese Sperre nicht durchsetzen. Die West-Berliner U-Bahnen fahren noch unter Ost-Berlin hindurch, die grenzüberschreitenden S-Bahnen stellen nach und nach den Betrieb ein.
Leipzig, gegen 8.20 Uhr
Mehrere tausend Demonstranten ziehen durch die Stadt. Alle Großbaustellen haben sich angeschlossen. Die Straßenbahnen fahren nicht mehr, auf dem Ring um die Innenstadt stockt der Verkehr.
Dresden, 8.15 Uhr
Im Elektromaschinen-Konzern VEB Sachsenwerk wendet sich der SED-Sekretär per Betriebsfunk an die Belegschaft. Er räumt ein, es habe "Überspitzungen" in der Politik der Regierung gegeben, die aber zurückgenommen würden. Gleichzeitig lehnte er jedes weitere Zugeständnis vehement ab. Die kurze Ansprache konsterniert die Belegschaft, die nun die Arbeit niederlegt und vor das Verwaltungsgebäude zieht.
Berlin-Weißensee, gegen 8.10 Uhr
Bert Brecht fährt mit seinen Vertrauten Richtung Innenstadt, zur Probebühne des Berliner Ensembles. Auf der Fahrt hört der Schriftsteller, dass auf allen DDR-Sendern nur Operettenmusik läuft, und bekommt einen Wutanfall.
Leuna, gegen 8 Uhr
In dem riesigen Chemiewerk der Stadt in Sachsen-Anhalt legen rund 20.000 Beschäftigte die Arbeit nieder und streben Richtung Zentralverwaltung. Sie fordern in Sprechchören "Rücktritt der Regierung!" und "Freie Wahlen!".
Berlin-Mitte, 7.40 Uhr
Am Molkenmarkt hinter dem Roten Rathaus kommt es zu Rangeleien zwischen DDR-Uniformierten und Demonstranten. Zum ersten Mal an diesem Tag gibt es das Kommando zum Knüppeleinsatz. Es kommt zu ersten Befehlsverweigerungen von Uniformierten, die nicht gegen Arbeiter vorgehen wollen.
Moskau, 9.36 Uhr Ortszeit (7.36 Uhr MEZ)
Im Kreml trifft ein aktueller Bericht von Semjonow und Gretschko ein. Sie betonen, dass bereits 450 Rotarmisten an Brennpunkten des sowjetischen Sektors im Einsatz seien. Allerdings sollen "die sowjetischen Truppen eine aktive Rolle bei der Sicherung der Ordnung nur im äußersten Notfall übernehmen".
Ost-Berlin, gegen 7.15 Uhr
In fast allen Großbetrieben im sowjetischen Sektor der Stadt befindet sich die Frühschicht im Streik. Vielfach bilden sich spontan Demonstrationszüge in die Innenstadt, in anderen Fabriken werden Arbeiterversammlungen angesetzt.
Berlin-Oberschöneweide, 7.10 Uhr
Aus dem Funkhaus Nalepastraße verbreitet das DDR-Politprogramm "Radio Berlin I" Ungewohntes: "Es muss endgültig und radikal Schluss gemacht werden mit jeglicher Methode des Administrierens in der Normenfrage. Die Forderungen der Bauarbeiter nach Verbesserung der Arbeitsorganisation, nach Überprüfung tatsächlich falsch berechneter Normen müssen unbedingt beachtet werden." Das scheinbare Verständnis für die Forderungen der Arbeiter bleibt eine einmalige Ausnahme. Kurz darauf sind nur noch leichte Melodien zu hören.
Berlin-Friedrichshain, gegen 7 Uhr
Auf dem Strausberger Platz haben sich mehr als 3000 Arbeiter versammelt. Die Volkpolizei versucht mit mehreren hundert Mann, weitere ständig nachströmende Demonstranten abzudrängen, was misslingt.
Jessen (Sachsen-Anhalt), gegen 7 Uhr
Auf dem Marktplatz der Kreisstadt haben sich rund 250 Landwirte versammelt, um gegen die Zwangskollektivierung zu protestieren. Sie ziehen vor das Gebäude der Kreisverwaltung und fordern die Freilassung aller gefangenen Bauern.
Berlin-Friedrichshain, 6.47 Uhr
Etwa tausend Demonstranten sind über die Stalinallee auf dem Weg zum Strausberger Platz, meldet die Volkspolizei. Aus anderen Richtungen kommen weitere Ost-Berliner, insgesamt mehrere tausend. Es schüttet in Strömen.
Jena, gegen 6.30 Uhr
Die Frühschicht beim VEB Carl Zeiss legt die Arbeit nieder. Die Beschäftigten beschließen, zum Zweigwerk VEB Schott zu ziehen und die Kollegen dort ebenfalls für einen Ausstand zu gewinnen.
Berlin-Friedrichshain, 6.25 Uhr
Die Belegschaft des Bremsenwerkes Berlin hat die Arbeit ausnahmslos niedergelegt.
Hennigsdorf bei Berlin, gegen 6.15 Uhr
Etwa 10.000 Arbeiter aus der Nacht- und der Frühschicht des VEB Stahl- und Walzwerk versammeln sich in ihrer Fabrik. Sie wollen in die Ost-Berliner Innenstadt marschieren und gegen die DDR-Regierung demonstrieren.
Leipzig, gegen 6 Uhr
In zahlreichen Betrieben weigern sich die Frühschichten, die Arbeit aufzunehmen. Im VEB Ifa-Getriebewerk formiert sich ein Protestzug, der Losungen wie "Nieder mit der Volkspolizei" oder "Wir fordern ein besseres Leben!" skandiert.
Washington D.C., gegen 0 Uhr Ortszeit (6 Uhr MEZ)
US-Präsident Dwight D. Eisenhower geht zu Bett. Er ist informiert über "Unruhen in Berlin", hat sich aber damit nicht weiter beschäftigt. Viel wichtiger ist dem früheren Fünfsterne-General die international hochumstrittene Todesstrafe für die beiden sowjetischen Atomspione Julius und Ethel Rosenberg, die am 19. Juni vollstreckt werden soll.
Berlin-Lichtenberg, 5.45 Uhr
Vor dem VEB Wälzlager stehen etwa 150 protestierende Arbeiter. Die Nachtschicht verlässt trotz Aufforderung durch die Betriebsleitung ihre Arbeitsplätze nicht, tut aber sonst nichts.
Berlin-Schöneberg, 5.36 Uhr
West-Berlins DGB-Chef Ernst Scharnowski, ein überzeugter Antikommunist, ruft über den Rias die Ost-Berliner Arbeiter auf, weiterzustreiken: "Ihr könnt Eure Forderungen, gestützt auf die in der sowjetischen Besatzungszone geltenden Grundrechte der Verfassung, mit vollem Recht verlangen. Eure Regierung hat selber diese Grundrechte beschlossen und damit auch für euch die Freiheit zum Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse gestartet." Treffpunkt für die Demonstranten soll um 7 Uhr morgens der Strausberger Platz sein.
Berlin-Lichtenberg, 5.15 Uhr
Die Frühschicht des VEB "Fortschritt" marschiert zu einem Zweigwerk, um die Kollegen dort zum Streik aufzufordern.
Leipzig, gegen 5 Uhr
Der junge Schriftsteller Erich Loest wartet am Hauptbahnhof auf seinen Zug nach Berlin. Er soll als Vertreter des Leipziger Chefs des Schriftstellerverbandes an einer Sitzung in Ost-Berlin teilnehmen. Die SED-Parteizeitung "Neues Deutschland" ist noch nicht ausgeliefert. Loest, SED-Mitglied und überzeugter Kommunist, wundert sich über Rangeleien und Grüppchen, die diskutierend im Bahnhof herumstehen.
Berlin-Karlshorst, kurz vor 5 Uhr
Der Ingenieur Siegfried Berger wacht in seinem Haus auf, weil eine größere Zahl sowjetischer Panzer und Spähwagen unter dem Fenster seines Schlafzimmers vorbeirattert. Ihre Peitschenantennen schlagen gegen die Oberleitungen der Straßenbahn und erzeugen einen Funkenregen. Berger ist Abteilungsleiter Entwicklung im Funkwerk Köpenick.
Rund um Berlin, 3.30 Uhr
In allen sowjetischen Garnisonen um die Viermächte-Stadt werden die Soldaten vor Morgengrauen geweckt und machen ihre Fahrzeuge bereit.
Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), 3.15 Uhr
Die örtliche Volkspolizei richtet einen Krisenstab ein, um den erwartbaren Protesten entgegentreten zu können.
Dresden, gegen 3 Uhr
Die Bezirksleitung der SED bekommt telefonisch eine Warnung aus Ost-Berlin. Es sei damit zu rechnen, "dass im Laufe der Nacht oder den frühen Morgenstunden bestimmte Kräfte aus Berlin in den Betrieben versuchen werden, Unruhe zu stiften".
Berlin-Karlshorst, gegen 2 Uhr
Im sowjetischen Hauptquartier in der DDR treffen sich Ulbricht, Ministerpräsident Otto Grotewohl und Stasi-Chef Wilhelm Zaisser mit dem sowjetischen Hochkommissar Wladimir Semjonow und dem Befehlshaber der Roten Armee in der DDR, Andrei Gretschko. Gemeinsam machen sie Pläne für ein militärisches Eingreifen in Ost-Berlin.
Berlin-Mitte, 1 Uhr
In einer turbulenten nächtlichen Sitzung hat das Politbüro der SED über den Umgang mit den Demonstranten beraten. Generalsekretär Walter Ulbricht, dessen ungeschicktem Agieren die meisten übrigen Spitzenfunktionäre die Schuld für die Eskalation geben, wird heftig kritisiert. FDJ-Chef Erich Honecker hält fest: "Alle fallen über Walter her. Er wird wohl unterliegen."
Bonn, 0.30 Uhr
Während im Kanzleramt immer neue, beunruhigende Nachrichten aus Ost-Berlin eintreffen, ist Bundeskanzler Konrad Adenauer mit einem ganz anderen politischen Vorgang beschäftigt: Er scheitert mit dem Versuch, das seit 1949 geltende Verhältnis- durch ein Mehrheitswahlrecht zu ersetzen. Sein Koalitionspartner FDP, die oppositionelle SPD und sogar Teile der CDU sind strikt dagegen. Adenauer droht indirekt mit Rücktritt, kann sich aber nicht durchsetzen.
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Das Präsidium der Volkspolizei ordnet an, dass die Leiter aller Inspektionen um 6 Uhr anwesend sein sollen. Eine Stunde später hat volle Alarmstufe zu gelten.
Berlin-Weißensee, gegen 0.15 Uhr
Im Haus von Bert Brecht sitzen einige enge Vertraute mit dem Dichter zusammen. Der Vorzeige-Intellektuelle der DDR begrüßt zu ihrer Überraschung den Streik in Ost-Berlin als "endliches Handeln der Arbeiter", ist aber mit dem Verlauf unzufrieden, weil sie keine Räte und Komitees gegründet haben. Brecht fordert im privaten Kreis, "die Streikenden zu bewaffnen".
Berlin-Lichtenberg, gegen 0.10 Uhr
Im VEB Wälzlager hat die Nachtschicht die Arbeit niedergelegt. Bereits am Tag zuvor war es an zwei Ost-Berliner Großbaustellen – in der Stalinallee und im Krankenhaus Friedrichshain – zu Arbeitsniederlegungen und anschließenden Protesten gekommen. Obwohl das Politbüro die heftig umstrittene Normenerhöhung (die für Lohn zu erbringende Arbeitsleistung) zurücknahm, wurden Rufe nach Rücktritt der Regierung und freien Wahlen laut. In Sprechchören kündigten Demonstranten für den 17. Juni einen Generalstreik an.
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