Das Totengericht oder Jenseitsgericht
Seite 1 von 1
Das Totengericht oder Jenseitsgericht
Mit dem Begriff Totengericht (oder Jenseitsgericht) wird eine religiöse Vorstellung umschrieben, nach welcher der Mensch vor ein göttliches oder metaphysisches Gremium gestellt wird. Dort wird seine individuelle Lebensführung bewertet, was entweder direkt nach dem Tod geschieht oder bereits zu Lebzeiten (eschatologisch), in einigen Religionen − wie zum Beispiel dem Islam − auch beides.[1] Die Entscheidung über das jenseitige Schicksal erfolgt meist aufgrund ethischer Maßstäbe, dabei können aber auch gesellschaftliche Kriterien oder bestimmte Totenrituale eine Rolle spielen. Eine solche Vorstellung hat sich in vielen Religionen ausgebildet.[2] Sie ist zuerst eindeutig in der ägyptischen Mythologie nachweisbar.
Im weiteren Sinne bezeichnet der Begriff alle Auswahlverfahren, die eine Person nach ihrem Tod zu durchlaufen hat. Die Vorstellung eines Letzten Gerichtes am Ende des Weltgeschehens verschmilzt dabei häufig mit der des Totengerichtes über die einzelnen Personen.
Altägyptisches Totengericht: Das Wiegen des Herzens. Szene aus dem Totenbuch des Schreibers Ani. Links: Ani und seine Frau Tutu betreten die Götterversammlung der Unterweltsrichter. Mitte: Anubis wiegt Anis Herz gegen die Feder der Maat, beobachtet von den Göttinnen Renenutet und Meschkenet, dem Gott Schai und Anis Ba-Seele. Rechts: Ammit, die Anis Seele verschlingen wird, wenn er die Prüfung nicht besteht, der Gott Thot bereitet den Bericht darüber vor. Oben: Die als Richter fungierenden Götter Hu und Sia, Hathor, Horus, Isis und Nephthys, Nut, Geb, Tefnut, Schu, Atum und Re-Harachte.
Mittelalterliche Darstellung der christlichen Hölle aus dem Hortus deliciarum des 12. Jahrhunderts
Grundbegriffe, Konzepte, Phänomene und Methodik
Wesentliche Grundbegriffe und Konzepte
Die jeweiligen Formen des Totengerichtes und die damit verbundenen Jenseitsvorstellungen spiegeln jeweils ein bestimmtes Weltverständnis wider.[3] Von zentraler Bedeutung sind dabei philosophisch-religiöse, aber auch eher gesellschaftlich bestimmte Grundbegriffe. Sie sind jedoch häufig nicht klar umrissen und kommen je nach kulturell-religiösem Hintergrund in unterschiedlicher Ausprägung vor:
Primäre Einflussgrößen (häufig miteinander kombiniert)
Ahnenkult, bei dem die Vorstellung eines Kontinuums von Diesseits und Jenseits vorherrscht. Er kommt schon in sehr frühen, meist animistischen und schamanistischen bzw. totemistischen Religionen vor (bei allen Vorbehalten gegen diese vor allem beim Animismus und Totemismus teils zeitgebundenen Etikettierungen[4]). Ein voll ausgeprägter Ahnenkult tritt auch in sozioökonomisch wenig entwickelten, vorwiegend egalitären Gesellschaften auf. Im Mittelpunkt stehen hier die persönlichen Beziehungen der Lebenden zu den Toten, während Vorstellungen eines Totengerichts noch nicht existieren. Er kann als Kult der mythischen Ahnen, Kulturheroen, Sippen- und Familienahnen und der persönlichen Ahnen auftreten, wobei Ahnen teils geschätzt, teils gefürchtet werden können. Hier treten bereits frühe Formen von Gottheiten auf, gewöhnlich in enger Verbindung mit natürlichen Phänomenen; eine Trennung zwischen mythischen Ahnen, Geistern und Gottheiten ist nicht immer möglich. Der Ahnenkult scheint überdies vor allem stark familien- und sippenbezogen zu sein, da er offenbar die Kontinuität und den Zusammenhalt dieser kleinsten gesellschaftlichen Einheiten stärkt. Sind solche Einheiten in größeren gesellschaftlichen Strukturen eingebettet oder haben sich aufgelöst, so ist der Ahnenkult schwächer ausgeprägt (wie etwa in der westlichen Moderne).[5]
Adolf Ellegard Jensens Konzept der Dema-Gottheit bei frühen Pflanzern (Pflanzenbeuter, die noch nicht systematisch, auf größeren Flächen und vor allem Knollen anbauen) nimmt hier eine Übergangsstellung ein.[6]
Totenkult und Begräbniskult, ein vom Ahnenkult strikt zu unterscheidender Begriff. Von Totenkult spricht man, wenn der Tod als solcher im Mittelpunkt der formalen Riten steht und nicht mehr die Beziehung zu den Vorfahren. Dies ist der Fall in zunehmend geschichteten Gesellschaften, nach der Auflösung des Kontinuums von Diesseits/Jenseits.[7] Hier haben sich die religiösen Vorstellungen meist zum Polytheismus entwickelt, und es existiert ein religiöser Dualismus mit einem vom Diesseits zunehmend unabhängiger werdenden Jenseits. Der Begräbniskult kann dabei formal ritualisiert erstarren.[8]
Totengericht, wenn sich dabei entsprechende, selektiv ordnende Gerichtsvorstellungen entwickeln, entweder institutionell oder systemimmanent, häufig beides. Bei strikt ethischer Ausrichtung oft monotheistisch.
Jüngstes Gericht mit Endzeitvorstellungen (Eschatologie). Es besteht die Vorstellung eines linearen, gelegentlich auch zyklischen Weltbildes (wie im Hinduismus und Buddhismus, teilweise auch im Zoroastrismus).
Spezifisch religiös und kosmologisch definierte Konzepte
Sterben und Tod, Leben nach dem Tod, Unsterblichkeit
Verhältnis Diesseits/Jenseits, Unterwelt/Totenreich und Himmel bzw. Paradies, Auferstehung, Fruchtbarkeit und Sterbender Gott
Gott und Götter, Geister und Dämonen, Magie
Seele(n), Seelenwanderung, Karma
Gnade, Schuld, Sünde, Erlösung und Rechtfertigung
Prädestination, göttliche Allmacht und Allwissenheit
Apokalypse und Eschatologie
Mythos, Kosmologie, Zeit (zyklisch, linear)
Eher philosophisch definierte Konzepte
Allgemeine Weltsicht/Weltbild
Ethik und Moral, Pflicht, Tugend
Gewissen und Freier Wille, Verantwortung, Schuld (Ethik)
Gerechtigkeit
Theodizee
Gut-Böse-Dualismus
Eher gesellschaftlich definierte Konzepte
Sozialer Status, Ökonomie und Sozialstruktur
Macht, Gewalt, Herrschaft
Recht und Gesetz, Schuld (Strafrecht), Urteil (Recht), Strafe, Vergeltungsprinzip
Sitte und Brauchtum
Ritual, Opfer, Kult, Bestattungsform, Grabbeigaben.
In Verbindung mit Bestattungsritualen gibt es weitere emotionale Phänomene, die typisch sind für die Mythenbildung des Menschen als religiösen Wesens (Homo religiosus):
Transzendenz, der Symbolismus des Denkens sowie die Angst vor dem Tod und dem Danach, verbunden mit der Hoffnung auf ein befriedigendes Weiterleben nach dem Tod (Heilserwartung), oder das Streben nach Glück. Der Gehorsam gegenüber religiösen Institutionen stützt sich auf deren Propagieren des Willens der Götter zusammen mit dem Glauben an metaphysische Entitäten und ihren Einfluss auf Lebende und Tote.[9]
Das religiöse Bewusstsein: Entstehung, Phänomene und Denkfiguren
Mit der Entstehung des religiösen Bewusstseins gehen häufig auch bildhafte Vorstellungen über das Diesseits/Jenseits, den Tod, die Hölle bzw. Unterwelt, das Paradies, die Seelenwanderung, über Gerechtigkeit und weitere Begleiterscheinungen einher.[10]
Die Vorstellung vom Tod als endgültigem Schlusspunkt ist relativ jung; sie setzt komplizierte metaphysische Überlegungen voraus. In Asien ist sie vom 6. vorchristlichen Jahrhundert an im Buddhismus belegt, im Mittelmeerraum erst beim griechischen Philosophen Epikur. Davor hatte das religiöse Denken seinen Schwerpunkt in der Todesfurcht, dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit sowie der Trauer um den Verlust nahestehender Menschen. Dem versuchte man durch Grabbeigaben zu begegnen − möglicherweise schon ab dem Mittelpaläolithikum.[11] Diese vorwiegend gefühlsmäßige Reaktion war vermutlich mit dem Wunsch verbunden, trotz der Verwesung des Körpers möge etwas weiter bestehen.[12] Es stellt sich die Frage nach der Stellung des religiösen Bewusstseins in der Vorgeschichte.
Der belgische Religionswissenschaftler Julien Ries konzipierte in Anlehnung an Autoren wie Mircea Eliade und den Archäologen Jacques Cauvin sechs Stufen der Entwicklung des religiösen Bewusstseins, die auch für die Ausbildung von Bestattungsritualen und Totengerichtsvorstellungen von Bedeutung seien:[13]
Die erste Erfahrung des Heiligen durch die Natur (Himmel, Wetter, Tag und Nacht, Sonne, Mond, Sterne etc.). Diese Phase der frühen Hierophanie sei eng mit der Entdeckung der Transzendenz und der Schaffung erster, noch unausgebildeter kultureller Phänomene verbunden. Solche seien naturgemäß durch den Zwang zur Beherrschung der Umwelt schon früh hervorgebracht worden und hätten zwangsläufig bestimmte kognitive Konzepte der Erklärung des Unerklärlichen zur Grundlage.[14]
Das Nachdenken über den Tod und das Leben danach. Erste Bestattungen und mögliche Grabbeigaben im Mousterien etwa beim Neandertaler oder Homo Sapiens Sapiens (z. B. Qafzeh) seien Zeichen dafür.[15]
Das Entstehen von Mythogrammen, etwa in der frankokantabrischen Höhlenkunst. Das religiöse Bewusstsein einer Gemeinschaft manifestiere sich damit schon sehr konkret vor der Sesshaftwerdung.[16]
Die erste Darstellung der Gottheit. Sie trete als männlich-weiblicher Dualismus vor allem in Venusfigurinen und Stierdarstellungen ab dem Natufien an der Schwelle zum Neolithikum (Jungsteinzeit) auf, im Neolithikum etwa in Çatalhöyük. Eine besonders frühe Stufe stellten dabei möglicherweise die Skulpturen von Göbekli Tepe und Nevalı Çori dar (die Urfa-Statue gilt als älteste vollständig erhaltene lebensgroße Skulptur der Menschheit[17]). In Europa gehöre die Vinča-Kultur in diesen Zusammenhang.[18] Es finde hier erstmals eine symbolische Umsetzung der Transzendenz beim Homo religiosus statt. Erstmals seien Menschen im Gebet dargestellt. Bestattungsriten hätten nun eindeutig religiöse Bezüge.[19] Die Sesshaftwerdung verändere Kultur und Religiosität dramatisch.[20]
Die Personifizierung des Göttlichen und dessen Darstellung in Statuen. Sie vollziehe sich in den großen Religionen der alten polytheistischen Hochkulturen. Tempel und Priester sind nun vorhanden. Die häufig noch animalistisch beeinflussten Götter sprechen mit den Gläubigen.[21]
In den großen monotheistischen Religionen werde Gott zu einem einzigen, allmächtigen Wesen, das sich in das Leben der Gläubigen einmische. Er spreche nicht mehr durch Orakel, sondern direkt durch Offenbarungen und Propheten und werde zum fordernden Gott. Hierophanie werde zur Theophanie.[22]
Im Rahmen dieser Stufenfolge geben vor allem folgende Phänomene Hinweise auf Vorstellungen vom Jenseits und vom Totengericht und die diesen möglicherweise zugrunde liegenden Denkfiguren:
in erster Linie die Bestattungsformen, aus denen man Hinweise auf die potentiellen Jenseitsvorstellungen ihrer Urheber ableiten kann.[23] Allerdings sind diesseitige Maßnahmen wie Grabbeigaben besonders im späten Paläolithikum, frühen und mittleren Neolithikum, die nicht eindeutig als Opferdeponierungen zu werten sind, nur indirekte Hinweise, da sie nicht unbedingt auf einen Jenseitsglauben oder Ahnengedenken oder rituelle Begleiterscheinungen deuten müssen, sondern auch nur als emotionale Symbole der Verehrung und Zuneigung gewertet werden können, also eine pietätvolle Behandlung signalisieren, zumal sie keinerlei Auskunft darüber geben, wie dieses Jenseits denn eigentlich vorgestellt war.[24] Ähnliches gilt für den häufig und an vielen Orten der Welt benutzten Gebrauch von Ocker. Dieser kann durchaus auch als praktische Maßnahme gedeutet werden, um den Verwesungsgeruch der mitunter im Inneren der Behausungen bestatteten Toten zu minimieren. Denn als starkes Bindemittel wirkt er auch leicht antibakteriell, antiparasitär und hygroskopisch (er bindet Wasser). Sekundär liegt eine symbolische Bedeutung nahe, so wie sich auch die Mumifizierung im Alten Ägypten aus der natürlichen Trocknung in den Gräbern der Wüste entwickelt hatte und erst sekundär religiös aufgeladen worden war.[25] Später, ab etwa dem 3. Jahrtausend, ist jedoch nicht nur bei exzessiven Grabbeigaben und Bestattungen (teils mit Menschenopfern) wie etwa Fürstengräbern auch eine religiöse Interpretation zulässig, dergestalt „dass die religiöse Heilshoffnung in neuer Weise die Ewigkeitsdimension in Form einer expliziten Jenseitsexistenz einbezog“.[26] Dies gilt umso mehr, wenn ein Totenkult nachweisbar ist, der auf das Ewigkeitsschicksal des Verstorbenen bezogen werden kann.[27]
Sitzend bestattete Mumie der Moche-Kultur, einer Vorläuferkultur der Inkas in den Anden
Als in diesem Zusammenhang interessantes, weil besonders bekanntes Phänomen einer das Diesseits im Jenseits fortsetzenden Konzeption, das vor allem im Alten Ägypten[28] für Jenseits und Totengericht wesentlich war, mag hier der Mumienkult gelten, wie er auch in anderen Teilen der Welt, vor allem in Mittel- und Südamerika, aber z. B. auch in Ostasien hier und da üblich war. Mumien – gemeint sind hier ausschließlich bewusst herbeigeführte, artifizielle Mumifizierungen – waren dazu gedacht, den Körper zu erhalten, um ihm so ein Fortleben im Jenseits zu erlauben[29] (Judentum, Islam und Katholizismus verbieten bzw. missbilligen aus diesem Grunde bis heute die Feuerbestattung, auch wenn sich dafür etwa im Islam keinerlei religiöse Begründung findet[30]). Das heißt aber auch, dass man die jenseitige Welt ohne derartige massive diesseitige Eingriffe nicht für fähig hielt, ein Weiterleben allein der Seele, von denen der Ägypter ja drei, Ba, Ka und Ach, bei Pharaonen bis zu sechs, zu haben glaubte (eine alte schamanische Vorstellung der Mehrfachseele), zu gewährleisten, dass also die alte Vorstellung von den Ahnen, wie sie teils bis heute in sogenannten Naturreligionen, aber auch im Katholizismus und anderen Religionen als Überrest z. B. auch im Heiligenkult zu beobachten ist, sich somit strikt säkularisiert und auf Einwirkungen aus dieser Welt ausgerichtet hatte.[31] Dieser Gedanke ist seit dem Neolithikum geprägt von der Idee einer generellen Manipulierbarkeit der Welt, die sich hier über den Tod hinaus erstreckt und nun häufig auch vom diesseitigen Status und den ökonomischen Möglichkeiten des Toten bestimmt wird (mit dem späteren Exzess zum Beispiel des Ablasshandels).[32]
Solche Vorstellungen gab es aber so ähnlich zum Beispiel auch bei den Mayas und Azteken, ebenso in der heterogen aus buddhistischen, daoistischen und konfuzianischen Konzepten amalgamierten chinesischen Religion, und sie wurden schon sehr früh zum Beispiel durch Grabbeigaben und Manipulationen an den Toten manifest. Diese waren ursprünglich allerdings, typisch für stark geschichtete Gesellschaften, der Adelsschicht vorbehalten. Diesseitige Ungleichheiten wurden so auch ins Jenseits transportiert. Generell weisen Prunkgräber stets auf diesen Sachverhalt, selbst dort, wo keine oder kaum schriftliche Zeugnisse vorhanden sind, wie etwa bei den Kelten, Skythen und Etruskern, den Mound Builders Nordamerikas oder den Inkas sowie im frühen China mit seinen gigantischen Grabanlagen, in denen die Toten mitunter in kostbare Jadepanzer gehüllt waren. Dass es bei einer derart säkular ausgerichteten Totenwelt (die ägyptischen Mastabas und Pyramiden sind nur der spektakulärste Fall), von der das Grabmal, das der Tote nun „bewohnen“ oder das den Kontakt mit ihm ermöglichen sollte, nur ein Teil war, ein Totengericht gab, ist so gesehen nur natürlich, denn es wirkte nach dem Prinzip Hoffnung als eine Art die Ungerechtigkeiten der Welt ausgleichender und eine Heilsgewissheit (bei entsprechender Lebensführung) suggerierender Filter.[33]
Dasselbe gilt für die Tatsache, dass dieses immerhin in Ägypten von der Göttin der Gerechtigkeit Ma’at überwachte und vom alten Vegetationsgott Osiris geleitete Totengericht auch magisch beeinflusst (die sogenannten Pyramidentexte und Totenbücher sind dafür ein Beispiel), gar beschwindelt werden konnte, wobei die Strafen durch mitgebrachte Uschebti-Tonfiguren übernommen wurden, um dem Toten ein angenehmes, ja luxuriöses Leben im Jenseits zu ermöglichen. Eine Ausnahme stellten hier allerdings die Pharaonen dar, von denen man annahm, dass sie direkt zu den Göttern reisten, zu denen sie ja gehörten. Allerdings hatten sie in einer anderen theologischen Variante durchaus vor dem Totengericht zu erscheinen.
Die Unterwelt, das Jenseits enthielt mitunter wie in der griechischen Mythologie ein spezielles Gefängnis für Titanen (Tartaros) und sonstige Unerwünschte, ein willkürlicher Strafort, aus dem sich später die christlich-jüdisch-islamische Hölle entwickelte. Im Islam gibt es gleich sieben davon, aber auch das Christentum hat mehrere wie etwa das Fegefeuer mit sieben funktionalen Kreisen und die eigentliche, scholastischen Strukturvorbildern folgende Hölle nach Dante (vgl. Die Göttliche Komödie: Inferno und Purgatorio) wiederum mit deren neun, die alle jeweils wieder in mehrere Sektionen unterteilt sind, die von spezifischen Vergehensarten bestimmt werden. Entsprechendes gilt in vielen Religionen für das Paradies bzw. seine Äquivalente in der Oberwelt oder Götterwelt. In den chinesischen Religionen wiederum ist die Unterwelt ein Spiegelbild der Oberwelt mit Institutionen, Bürokratien (eine Bank und ein Passamt darunter) und Herrschern, die dem diesseitigen Kaiser unterstellt sind.[34]
Diese und andere Phänomene sind wie die Seelenwanderung der Orphik und der Pythagoräer, vor allem aber der östlichen Religionen Hinduismus und Buddhismus derart über den Dharma- und Karma-Gedanken in die Glaubenssysteme strukturell integriert, dass der ethische Dualismus von Gut und Böse oder der spiritualistische von Hell und Dunkel hier in einen ontologischen Dualismus von vergänglichem Sein und ewiger Ordnung und Harmonie umgewandelt wird, sodass ein eigentliches Totengericht nicht mehr nötig wäre, allerdings dennoch mit einem Totenrichter Yama durchaus signifikant vorhanden ist.[35]
All die genannten Phänomene sind symptomatisch für das Verlangen nach einem schon im Diesseits bestimmbaren Erlösungsweg, wie ihn etwa Max Weber in seiner Religionssoziologie darstellt.[36] Max Weber ging hier noch weiter, wenn er unter Einbeziehung gesellschaftlicher Faktoren schrieb:
„Die Regel, zumal bei Religionen, die unter dem Einfluss herrschender Kreise stehen, ist … die Vorstellung, dass auch im Jenseits die diesseitigen Standesunterschiede nicht gleichgültig bleiben werden, weil auch sie gottgewollt waren, bis zu den christlichen ‚hochseligen‘ Monarchen hinab. Die spezifisch ethische Vorstellung aber ist ‚Vergeltung‘ von konkretem Recht und Unrecht aufgrund eines Totengerichts, und der eschatologische Vorgang ist also normalerweise ein universeller Gerichtstag … Himmel, Hölle und Totengericht haben fast universelle Bedeutung erlangt, selbst in Religionen, deren ganzem Wesen sie ursprünglich so fremd waren wie dem alten Buddhismus.“
– Max Weber: Religionssoziologie, S. 316 f.
Zur methodischen Vorgehensweise
Totengerichte und die meist damit einhergehende Eschatologie sind in den Religionen häufig derart komplexe, zugleich aber auch grundlegende Strukturphänomene, dass eine religionshistorische Beschreibung entlang der Zeitachse nur lose zusammenhängende Teilansichten ergeben würde. Daher müssen die einzelnen Religionen auch auf der Grundlage soziologischer, phänomenologischer und anthropologischer Forschung betrachtet werden.[37] Will man das Totengericht in verschiedenen Religionen darstellen, muss man, um die Zusammenhänge und Entstehungsbedingungen überhaupt verständlich zu machen, zunächst die Grundzüge des Jenseitsglaubens dieser Religionen sowie ihre ethischen Konzepte darstellen, in die ein Totengericht eingebettet sein kann. Auch eine fehlende Einbettung ist als Negativbefund von wissenschaftlichem Interesse, vor allem die potentiellen Gründe dafür.
Vorkommen in verschiedenen Kulturkreisen
Vorbemerkungen
Grundlegend für das Verständnis des Konzeptes Totengericht ist vor allem die später insbesondere in Griechenland auch philosophisch ausgeführte und diskutierte Idee der Gerechtigkeit, die zunächst ausschließlich auf göttliche Ursprünge zurückgeführt wird.[38] Zuerst vor allem im mediterranen und indoeuropäischen Raum entwickelten sich demnach Vorstellungen von einer endgültigen, ins Jenseits an eine Totengericht verlagerten Gerechtigkeit (bei unterschiedlich luxuriöser oder auch karger Ausstattung der Unterwelt), welche den Menschen aufgrund religiöser, ethischer und gesellschaftlicher Kriterien bewertete und so in gewissem Sinne diesseitig begangenes oder erlittenes Unrecht auszugleichen vorgab, häufig unter Bezugnahme auf diesseitige Rechtsnormen. Dies ist ein ziemlich deutlicher Hinweis auf die Existenz einer geschichteten Gesellschaft und deren hierarchische Machtansprüche samt einer mit diesen meist verschwisterten systematisierten Religion, wobei die zunächst metaphysischen, später pseudorationalen Formeln jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht rechtfertigen konnten, also in diesem Sinne sehr nützlich waren.[39]
Damit entstand allerdings notwendigerweise das Problem, das vor allem in monotheistischen Religionen die Theologen und Philosophen bis heute beschäftigt und von keinem irgend gearteten jenseitigen Gericht aus der Welt geschafft werden kann und das seit Leibniz unter dem Begriff der Theodizee zusammengefasst wird. In der Theodizee (aus griech. theós = Gott und díkē = Gerechtigkeit; der Begriff wurde von Leibniz 1710 in Essais de theodicée geprägt) wird die Frage zu lösen oder eher zu umgehen versucht, warum das Böse, wie es die jeweiligen Glaubensrichtungen definieren, trotz göttlicher Allmacht in die Welt gekommen ist und dort permanent so viel Unheil anrichtet trotz aller Opfer und Gebete,[40] wobei meist unberücksichtigt bleibt, dass das Gute und Böse als solches ohnehin weitgehend relativ zur Religion, Gesellschaft und Kultur als Ausdruck von Macht und Interessen bestimmbar ist (was etwa im Calvinismus oder Pietismus wiederum dazu führt, dass Erfolg und Reichtum als Ausdruck göttlicher Gnade gewertet werden[41]). In einigen Religionen tritt diese göttliche Allwissenheit und Allmacht in ihrer extremsten Form als Prädestinationslehre auf. Auch hier wurde aber ein an sich unsinniges Totengericht etabliert mit Hölle, Himmel, Apokalypse usw., das jedoch nur Sinn ergibt, wenn Gut und Böse, abgesehen von allen kulturanthropologischen, sozialpsychologischen etc. Relativierungen, wie etwa im Buddhismus, in der alleinigen Entscheidung des Menschen liegen (weil er sonst ja von Gott nicht bestraft werden könnte), der also mit Willensfreiheit und einem ebensolchen Gewissen ausgestattet sein muss. In anderen Religionen, vor allem den östlichen, unterliegen selbst die Götter und ihre Macht dem Gesetz des Karma und sind nur Teil einer allumfassenden anzustrebenden kosmischen Harmonie – dies besonders im Daoismus.
Im Christentum kommt noch erschwerend die Idee der Erbsünde hinzu, die als angeborenes Element ebenfalls von der Willensfreiheit nicht berührt ist und die Vorlage abgibt für ein grundsätzlich dualistisches Wesen des Menschen, und zwar nicht nur ontologisch als Körper und Seele bzw. Geist, sondern auch ethisch als Gut und Böse. Beide Dualismen sind, je nachdem ob sie in ein lineares oder zyklisches Zeitverständnis eingebettet waren, entsprechend im Laufe der Geschichte wesentliche Grundlagen metaphysischer Überlegungen gewesen und haben zu drei ganz unterschiedlichen Lösungs-, das heißt Erlösungsansätzen geführt (siehe unten).
Das instabile und religiös hochvariable Spannungsfeld zwischen freiem Willen (bzw. Gewissen) samt Erlösungssehnsucht auf der einen und den oft machtpolitisch instrumentalisierten göttlichen Ansprüchen auf der anderen Seite bestimmt wesentlich die Ausgestaltung der Totengerichte.[42] Hans Kelsen, einer der bedeutendsten Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, notierte dazu:[43]
„Aber das Bedürfnis nach absoluter Rechtfertigung scheint stärker zu sein als alle rationalen Erwägungen. Daher wendet sich der Mensch zur Religion und Metaphysik, um hier diese Rechtfertigung, d. h. die absolute Gerechtigkeit, zu finden. Das bedeutet aber, dass die Gerechtigkeit von dieser Welt in eine andere, transzendente Welt verlegt wird. Sie wird die wesentliche Eigenschaft und ihre Verwirklichung die wesentliche Funktion einer übermenschlichen Autorität, einer Gottheit, deren Eigenschaften und Funktionen ihrem Wesen nach menschlicher Erkenntnis unzugänglich sind. Der Mensch muss an die Existenz Gottes, und das heißt an die Existenz einer absoluten Gerechtigkeit glauben, aber er ist unfähig, sie zu begreifen, das heißt sie begrifflich zu bestimmen.“
– Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?
Historische Religionen
S. A. Tokarew notierte, dass tröstliche Hoffnungen auf eine Belohnung im Jenseits in den frühen Klassengesellschaften ebenso fehlen wie noch in der Urgesellschaft in den frühen Religionen. Sie tauchen erst später nach Verschärfung der Klassengegensätze auf, die derartige Mechanismen offenbar notwendig machten.[44] Geschieht dies, wird das Ziel der Erlösung hier wie auch später vor allem auf drei Wegen erreicht:[45]
In den ältesten Glaubensformen vor allem durch magische Rituale, z. B. im Schamanismus, in der altägyptischen Religion und in den alten Mysterienkulten.
Später durch eigene Anstrengungen, gewöhnlich durch die Erlangung esoterischen Wissens, Askese oder Heldentod, so zum Beispiel in der Orphik, im Hinduismus, Buddhismus und Islam sowie im Zoroastrismus, aber teilweise auch in der Religion der Germanen (Walhall) und den griechischen Konzepten vom Elysion.
Schließlich durch göttliche Hilfe, etwa im Christentum (insbesondere in der Rechtfertigungslehre), im Judentum (vor allem im späteren, nachexilischen) und im Islam, die daher auch Erlösungsreligionen heißen (für den Buddhismus, der mitunter auch dazu gerechnet wird, gilt das Motiv der göttlichen Erlösung durch Gnade gerade nicht).
Die Formen treten selten rein auf, und aus den drei Hauptformen haben sich im Laufe der Zeit meist Mischformen herausgebildet, die in unterschiedlichen Anteilen und Gewichtungen von allem etwas enthalten, z. B. ein Totengericht im Hinduismus und Buddhismus, aber auch in den chinesischen Ahnen-Religionen, magische und Ahnen-Rituale in den abrahamitischen Religionen, Prädestination und magische Rituale im Islam, Seelenwanderung in der Orphik und im jüdischen Chassidismus usw.[46] Überdies gib es in jüngeren, noch lebenden Religionen oft auch noch häufig als Brauchtum imponierende Phänomene aus älteren religiösen, ja sogar „heidnischen“ Traditionen (z. B. magische Rituale, Ahnenkult, Geister- und Dämonenglaube usw.).
Limitierender Faktor der Beurteilung älterer Religionen ist stets die meist nur archäologisch vorliegende Überlieferung und ihre wissenschaftliche Deutung. Der Vermerk „kein Totengericht“ bedeutet im Folgenden vor allem bei den frühen historischen Religionen daher nicht, dass es effektiv keines gegeben hat, sondern nur, dass nichts davon überliefert ist und man hier nur aufgrund der bekannten, oft spärlichen, gelegentlich sekundär verfälschten Informationen (z. B. Römer über Etrusker, Kelten und Germanen) sowie durch archäologische Interpretationen und interreligiöse Vergleiche davon ausgeht, dass dies möglicherweise zutrifft oder nicht zutrifft. Für die alten vorklassischen Hochkulturen sind jedoch vor allem in Ägypten und Mesopotamien auch ausführlichere Schriftdokumente erhalten, in anderen Kulturkreisen, etwa des frühen vedischen Hinduismus, gibt es einschlägige religiöse/heilige Texte.
Altes Ägypten
Faksimile einer Vignette aus dem Totenbuch des Ani. Die Ba-Seele des toten Ani erhebt sich über seine Mumie. Die Wiedervereinigung der Ba-Seele mit dem Körper wurde für das Weiterleben nach dem Tode als notwendig betrachtet. Dazwischen lag das Totengericht. Die Ba hält hier einen Schutz und Ewigkeit symbolisierenden Schen-Ring umklammert.
Da das alte Ägypten, wo das Totengericht samt Jenseitsvorstellungen[47] erstmals ausführlich nachweisbar ist, relativ modellhaft gewirkt hat und viele seiner Vorstellungen später von benachbarten Religionen übernommen wurden bis hinein in die abrahamitischen, soll es hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Bereits die von Porphyrios in seinem Werk Apologia funebris Aegyptiorum herausgestellten altägyptischen negativen Schuldbekenntnisse (Pentalog) weisen enge Verbindungen zu den zehn Geboten auf. Jan Assmann sieht daher die altägyptischen negativen Schuldbekenntnisse als Basis der zehn Gebote und somit jene Ethik, die die „Hebräer während ihres Aufenthaltes in Ägypten gelernt und daraus mitgenommen haben“.[48] Das primäre Ziel einer erfolgreichen Verhandlung vor dem Totengericht war die Umwandlung des Toten in einen gerechtfertigten Ahnengeist und nicht, wie öfter angenommen, der Übergang aus der Welt der Lebenden in die Welt der Toten. Hierzu war die körperliche Reinheit des Toten unabdingbar. Die positive Entscheidung des Totengerichts dokumentierte die erfolgreiche Loslösung der Sünden vom Körper des Toten. Mit der anschließenden Verklärung war es dem Toten möglich, den Übertritt nach Sechet-iaru in die Götterwelt vorzunehmen und mit den Göttern die weitere Fortexistenz zu vollziehen.[49]
Die Idee eines Totengerichtes bildete sich bereits im Alten Reich heraus und ist im Zusammenhang des königlichen Himmelsaufstiegs in den Pyramidentexten bezeugt. Bevor der königliche Himmelsaufstieg begann, musste das Ritual der Einbalsamierung und Mumifizierung durchgeführt werden. Die damit verbundene Entnahme der Körperflüssigkeiten mit begleitender Verklärung fand durch zusätzliches Begießen des Körpers mit Wasser statt, der dazu auf ein wasserbeckenähnliches Gebilde gelegt wurde. Diesen Vorgang beschrieben die Altägypter als „Überquerung des Sees“.[50] Das zu dieser Zeit nur für den König (Pharao) anrufbare göttliche Totengericht stellte eine Gefahr dar, da ein „Antrag auf Überprüfung der Taten“ bei Verfehlungen des Königs ein negatives Urteil folgen ließ, was nicht nur den Himmelsaufstieg verhinderte, sondern zu einem ewigen Aufenthalt im „verborgenen Bereich des Todes“ führte. Die Idee des Totengerichts war somit zunächst nur auf den König selbst und seine engsten Vertrauten beschränkt.
Erst im Verlauf des Mittleren Reiches vereinigte sich durch das neue theologische Konzept der dritten Ebene (Duat) auch im privaten Bereich nach erfolgreicher Prüfung durch das Totengericht die vor allem in Vogelgestalt erscheinende Ba-Seele als Träger der unvergänglichen Kräfte im Jenseits wieder mit dem Körper des Toten, der daher als Mumie unbedingt zu erhalten war. Die Vorstellung vom Jenseits war beeinflusst von der Welt, die die Ägypter sahen: ein lebensspendender, im Norden ein weites, fruchtbares Delta bildender Fluss, umgeben von Wüsten im Westen und Osten, Orten des Todes (der Westen, Ort der untergehenden Sonne, war synonym für das Totenreich). Die Seele hatte zunächst eine heikle, ständig von Dämonen und anderen Gefahren bedrohte Reise durch die Unterwelt zu bestehen, eine in vielen anderen Religionen bis hin zum Hinduismus und Buddhismus verbreitete Vorstellung.
Das im Neuen Reich modifizierte Totengericht (auch Halle der Vollständigen Wahrheit), vor das jeder nichtkönigliche Verstorbene treten musste, erhielt erstmals kanonische Vorschriften und genaue Rahmenbedingungen. Konnte in der Vergangenheit der Verstorbene während des Totengerichts wegen jedweder Taten angeklagt werden, wusste nun jeder Altägypter im Voraus, welche „Anklagepunkte“ ihn erwarteten. Auf Grund der Kanonisierung konnte das Leben vor dem Tod an die Gesetze des Totengerichts angepasst werden. Das Totengericht bestand aus einem von Osiris geleiteten Tribunal aus 42 auch dämonisch aufgefassten Totenrichtern (Gaugötter), die darüber entschieden, welche Ba-Seelen in das Jenseits übertreten durften. Bei einem Scheitern drohte dem Verstorbenen der Aufenthalt in der Finsternis, die nicht von den lebensbringenden Strahlen der Nachtsonne erreicht werden konnte. Der Besitz des Totenbuches stellte dabei bereits einen magischen Schutz vor den 82 negativen Schuldbekenntnissen gemäß Kapitel 125 dar. Als direkter Vorläufer des Totenbuchspruches 125 diente das „Buch vom Tempel“, das ebenfalls ähnliche negative Schuldbekenntnisse für Priester enthält. Eine entscheidende Rolle bei der eigentlichen Prüfung kam der als Feder symbolisierten Göttin Ma'at zu.[51] Zudem fungierte ihr Gatte, der ibisköpfige Thot, Herr des Wissens, Schreibens und Berechnens sowie Schutzgott der Beamten, als Totengott und Helfer des den Vorsitz führenden Osiris während des Totengerichtes als Protokollant des Verfahrens. Waren Herz und Ma’at im Gleichgewicht, hatte der Tote die Prüfung bestanden und wurde von Horus vor den Thron des Osiris geführt, um dort sein Urteil entgegenzunehmen; war das Urteil aber negativ, wurde das Herz nach der Amarnazeit der Göttin Ammit zur Vernichtung anheimgegeben. Nicht die „Unschuld“ bestimmte das Urteil, sondern die Fähigkeit, sich von seinen Sünden loszulösen.
Jenseitsvorstellungen: Bestand man das Totengericht, konnte man durch die Unterwelt Ta-djeser in den lichten Ort Sechet-iaru weiterreisen. Hier erwartete einen die Fortsetzung des diesseitigen Lebens, wobei einem die Uschebti die Arbeit abnahmen. Im Totenreich, in dem man je nach Grabausstattung[52] mehr oder weniger sicher und angenehm lebte, gab es neben der Duat beziehungsweise Nenet (Gegenhimmel) die Vernichtungsstätte, wo die Gefressenen ihre Strafen erlitten und ihnen von unterweltlichen Schlangen in ihren Gruben der endgültige Tod zugefügt wurde. Diesem Vorgang entspricht im Christentum die praktizierte Vorstellung der Hölle, die möglicherweise wie so manch anderes auch von hier in das Christentum eingedrungen ist, denn zumindest im vorexilischen Judentum gibt es einen derartigen Strafort ja nicht, nur eine allerdings öde Unterwelt (Scheol), die dann erst später in der hellenistischen Epoche durch einen Strafort Gehenna ergänzt wurde; ähnlich in Mesopotamien. Das Grab war als „Haus der Ewigkeit“ ihr Wohnort mit einer Scheintür nach Westen als Zugang zur Unterwelt. Das „Herausgehen am Tage“, das heißt, mit dem Sonnengott Re auf der Sonnenbarke über den Himmel zu fahren und mit ihm die gefährliche, von Apophis bedrohte Nachtfahrt zu bestehen, war der Lohn der in der Unterwelt verweilenden Ba-Seelen beziehungsweise Ahnengeister. Das Schicksal, das den Pharaonen vorbehalten blieb, war nach ihrem Tod der Aufstieg zu den göttlichen zirkumpolaren Sternen. Das Totengericht hatte bei den Ägyptern wie überhaupt die gesamte Fürsorge für das Jenseits große Bedeutung, da der Tote auf Speisung (Opfer) angewiesen war. Die Unterwelt, durch die jede Nacht auch die Sonnenbarke fuhr, wurde als unsicher begriffen, ein Ort, wo zahlreiche Gefahren drohten, oft in Gestalt von Tierdämonen.
Religionssoziologie: Dass das westliche Totenreich zum einen als Schreckensort verstanden wurde, zum anderen paradoxerweise jedoch auch durchaus positiv, liegt an der Vermischung chthonischer Vorstellungen eines Fruchtbarkeitskultes, in dessen Zentrum Osiris stand, mit den solaren eines alten, vom Weltengott Re bestimmten Sonnenkultes. Dabei treffen alte bäuerliche und alte nomadische Konzepte aufeinander, wie sie in der Mythologie durch den Kampf zwischen Osiris und Seth thematisiert sind und offenbar sehr alte prähistorische Bevölkerungskonflikte reflektieren, die mit der Aridisierung der Sahara im Verlaufe der Geschichte Nordafrikas und zu Beginn des altägyptischen Reiches zwischen 3500 und 2800 v. Chr. zusammenhängen und möglicherweise überhaupt erst der Auslöser für die Reichsbildung waren, da offenbar der Bevölkerungsdruck zu einer zunehmenden Versklavung der ins Niltal drängenden Nomaden führte.[53] Insgesamt sind die ägyptischen Totengerichts- und Jenseitsvorstellungen somit eine recht heterogene Mischung aus mehreren verschiedenen religiösen Traditionen, in deren Verlauf eine „verwischende Theologie“[54] etwa mit Antagonismen zwischen Re und Osiris auffällt, bei der auch Unvereinbares zusammengefügt wurde. Insgesamt überwogen im Jenseitsglauben der Ägypter magische Vorstellungen gegenüber religiös-sittlichen Ideen, und die Konzeption wurde nach S. A. Tokarew „offenbar von den Priestern im Interesse der herrschenden Klasse als Reaktion auf die wachsenden Klassengegensätze entwickelt“. Der marxistische Ethnologe und Religionswissenschaftler schreibt weiter: „Die Sklavenhalter und Priester waren darauf bedacht, die abergläubische Masse des geknechteten Volkes durch Androhung von Strafen im Jenseits einzuschüchtern und mit der Hoffnung auf Belohnung im Jenseits zu trösten. Für die Epoche des Mittleren Reiches, besonders für die Zeit der schweren sozialen Erschütterungen im 18. Jahrhundert v. Chr. … ist dies sehr bezeichnend. Sicherlich hat später die ägyptische Lehre vom Totengericht die Entwicklung ähnlicher Vorstellungen im Christentum in gewissem Maße beeinflusst.“[55] Ein eigentlicher Ahnenkult außerhalb des Toten- und Begräbniskultes bestand mit Ausnahme der verstorbenen Pharaonen im alten Ägypten kaum.[56]
Altorientalische Hochkulturen
Die altorientalischen Vorstellungen von Gerechtigkeit reichen schon bis ins Jenseits, wie der in Ägypten um 2400 während der 5. Dynastie entstandene Osiriskult mit seiner Vorstellung von einem Totengericht zeigt.[57] Darin wird bereits eine individuelle „Schuld“ nach dem Tode abgerechnet, wobei diese „Schuld“ praktischerweise auf der Nichteinhaltung von effektiv diesseitigen Regeln beruht, die die jeweiligen Machthaber im Dienste ihres Machterhaltes erlassen haben und die den Druck zu ihrer Einhaltung mit der Drohung einer Strafe jenseits des Todes verstärken. (In den abrahamitischen Religionen heißt das Sünde, der Strafort im Christentum heißt Fegefeuer und Hölle.) Das Prinzip (bei den Griechen gibt es dagegen vor allem bei den Pythagoräern Vorstellungen einer Seelenwanderung) gilt für die anderen Erlösungsreligionen und die den mittelmeerischen Mysterienkulten angehörenden Glaubensvorstellungen ebenso. Seine Durchsetzung wird durch eine nun meist bestehende gottähnliche Stellung des Herrschers und eine entsprechend eingestellte Priesterkaste stark gefördert, welche die geltende Weltinterpretation in den jeweiligen, nun durch die Herrschaft über die Nahrungsmittelproduktion definierten Sozialverhältnissen für den Einzelnen jetzt nicht mehr zur Disposition stellte.[58] Der urtümliche, später auch in den frühen afrikanischen Königreichen geübte Brauch (in Ägypten war das Sedfest möglicherweise ein Überbleibsel), sich jedes Jahr einen neuen König zu wählen und den alten rituell zu opfern, um so gar nicht erst eine Herrschaftskonstanz entstehen zu lassen, wurde dabei recht bald durch allerlei Tricks ad absurdum geführt.[59] Man ernannte etwa bei den Hethitern oder in Mesopotamien für diesen Termin einen „König für einen Tag“ oder Ersatzkönig.[60]
Mesopotamien
Eine Keilschrifttafel des Gilgamesch-Epos, der Hauptquelle für die mesopotamischen Totengerichts- und Jenseitsvorstellungen, hier mit dem Text der Noah- und Sintflutsage
Während die Totengerichts- und Jenseitsvorstellungen des Alten Ägypten eher hoffnungsfroh konzipiert sind, sogar mit der Möglichkeit, die Götter magisch zu täuschen, stellen sich die einschlägigen mesopotamischen Konzepte eher als ein in ihrer Grimmigkeit absolut hoffnungsloses Gegenbild dar, das dann auch auf die alten kanaanäisch-jüdischen Vorstellungen der Scheol abgefärbt hat.[61]
Die Grundzüge der Jenseitsvorstellungen in der Religion Mesopotamiens waren extrem pessimistisch, die Totenverehrung von der Furcht vor den Toten und vor dem Grausen über ihr elendes Schicksal in der durch sieben schreckliche Tore zu betretenden Unterwelt Kurnugia geprägt, ein Schicksal, das Gute wie Böse gleichermaßen traf, soweit diese Kriterien hier überhaupt vorkommen. Die Furcht vor dem Tod und die Suche nach Unsterblichkeit ist hier erstmals in der Weltliteratur geschildert (Gilgamesch-Epos[62]). Grundlage war die Vorstellung, der Mensch sei den Göttern völlig untergeordnet und stehe ihnen zu Diensten. Mit Hilfe von Vorschriften und Beschlüssen (den Me-Prinzipien, die dem alten Ma'at-Konzept der Ägypter ähneln) bestimmten die Götter das Schicksal jedes einzelnen Menschen und legten es auf göttlichen Schicksalstafeln nieder. Aufgabe der Menschen war es dann, diese Beschlüsse in absoluter Unterwerfung auszuführen. Das Leben erstreckte sich linear und war mit dem Tod zu Ende, der den Menschen als Schattenexistenz in die Unterwelt entließ, die von der Göttin Ereškigal, später zusammen mit Nergal, beherrscht wurde.[63] Entsprechend gestalteten sich schon die diesseitigen Riten mit ihrer Betonung der Reinigungszeremonien zur Entsühnung.
Eigentliches Totengericht und Unterwelt: Jeder, der über den Unterweltsfluss Ḫubur in das Totenreich gelangte, musste sich einem Totengericht unterwerfen. Das Verfahren ist im Gilgamesch-Epos (Sintflutsage) fragmentarisch beschrieben. Heroen wie Gilgamesch traten dabei als bleiche Totenrichter auf, von denen es sieben gab, meist verstorbene und dann wie Gilgamesch deifizierte Großkönige.[64] Es gibt hier im Gegensatz zu ägyptischen Vorstellungen aber kaum Belohnung oder Bestrafung im Jenseits, also auch keine persönliche Verantwortlichkeit und kein Vergeltungsprinzip,[65] denn das Schicksal war ja von den Göttern vorherbestimmt; nur gefallene Krieger wurden besser behandelt, desgleichen die von den Lebenden durch Totenopfer in ihrer Grabstätte (Kianag) gut Versorgten, auch Väter mehrerer Söhne hatten es besser, wie Enkidus Bericht aus dem Totenreich ausweist.[66] Generell liegt jedoch dasselbe dunkle Schicksal über jedem Toten: er frisst Dreck, friert, hungert, dürstet und ist wie ein Vogel gefiedert, und wenn er Glück hat, kann er fliehen und im Diesseits entsprechend der ausgeprägten Dämonenfurcht der Mesopotamier als böser Dämon die Lebenden erschrecken (so auch in den altarabischen Religionen und von da im Islam, z. B. die Dschinn, aber auch noch im Christentum, etwa in den Halloween-Bräuchen). Totenrituale und Totenopfer hatten hier vor allem den Sinn, dieses Schicksal der Toten zu mildern, sie etwa durch Trankopfer wenigstens mit reinem Wasser zu versorgen.
Die von Leonard Woolley entdeckten sumerischen Königsgräber von Ur (um 2700 v. Chr.) allerdings zeigen noch eine sehr alte und archaische Schicht mit Bräuchen, die von massiven Menschenopfern zeugen, welche während einer Bestattung vollzogen wurden, wie man sie so nur noch in Kiš gefunden hat.[67] Ob dies bedeutet, dass der tote Herrscher glaubte, Frauen, Helfer und Ausstattung ins Jenseits mitnehmen zu können, ist unklar, doch finden sich auch in anderen frühen Kulturen ähnliche Beispiele, die als Zeichen einer Vergöttlichung gewertet werden, die dem König jeweils die Unterwelt ersparte und wie sie auch den Pharaonen zustand, die allerdings längst das in Ägypten noch in der 1. Dynastie praktizierte Menschenopfer aufgegeben hatten und sich im Grab mit Uschebtis begnügten.[68]
Parallelen und Bezüge: Die jüdische Religion hat, soweit es sich nicht ohnehin um Relikte der Patriarchenzeit (der biblische Abraham war aus dem südmesopotamischen Ur zugewandert) handelt, diese mesopotamischen Vorstellungen vor allem während der Exilzeit dann wohl für ihre eigene Hölle Gehenna (Gehinnom) übernommen, und sie entspricht in etwa auch dem Hades, der ja ebenfalls ein Höllen-Pendant, den Tartaros, hat. Auch zwischen Gilgamesch-Epos, Osiris-Mythos und Orpheus-Mythos gibt es interessante Parallelen, die darauf hindeuten, dass es sich hier um sehr alte mediterrane Mythenstränge handelt, die miteinander verwoben sind und deren altorientalische Traditionen bis in die Antike nachwirkten.[69] Es existiert dazu überdies wie in Ägypten ein (Fruchtbarkeits-)Mythos, hier vom Höllengang der Göttin Inanni bzw. in einer anderen Fassung Ischtar, die beim Durchschreiten jedes Tores eine ihrer göttlichen Fähigkeiten einbüßt und nach dem siebten nackt und ohne Macht wie ein Mensch vor der Unterweltsgöttin Ereschkigal, der Unterweltsmanifestation der Ischtar, steht, deren Todesblick sie nun ausgeliefert ist und dem sie nur durch einen vorausschauenden Trick entkommen kann.
Weitere Entwicklung: Ob der Tod eher als etwas Angenehmes oder Düsteres vorgestellt wird, hat massive Auswirkungen auf die Gegenwart und die Ethik der Lebenden. Entsprechend hat diese Furcht später dann auch zu einem gewissen Zweifel am Sinn des Ganzen geführt, und man wollte sich nicht so ohne weiteres dem unerforschlichen Ratschluss der Götter unterwerfen, ohne dabei auch nur die geringste Gerechtigkeit einfordern zu können, so dass es gelegentlich zu einem sehr diesseitigen Hedonismus kam oder aber im Gegenteil zu einer völligen Negierung des Diesseitigen.[70] Ein Ahnenkult als solcher war zwar vorhanden, jedoch vor allem in Gestalt eines Opfer- und Begräbniskultes beim Adel und bei deifizierten Herrschern. Ansonsten fürchtete man sich eher vor den Totengeistern.[56]
Die Elamiter, die östlich des Tigris im heutigen Westiran ab 3000 v. Chr. ein Reich errichteten, hatten etwas abweichende Vorstellungen. Ihr Jenseitsglaube war stark anthropomorph strukturiert; man fand viele Grabbeigaben, die auf eine Fürsorge für das Jenseits schließen lassen. Ein ausgeprägter Fruchtbarkeitskult scheint dabei ebenfalls eine Rolle gespielt zu haben. Der Totengott Inschuschinak (sumer. Herr von Susa) bildete zusammen mit den Göttern Humban und Chutran eine oberste Dreiheit. Die Toten wurden von dem hier als Psychopomp fungierenden Götterpaar Ischnikorat und Legamel in einem Zwischenreich in Empfang genommen und vor den Totengott geführt, der sie richtete.[71]
Altiranische Religion und Zoroastrismus
Darstellung einer Gestalt, von der man annimmt, es könne sich um Zarathustra handeln. Arkosolium (Wandgrab unter einer Bogennische) am Mithraeum von Dura-Europos, Syrien, 3. Jh. v. Chr. Die Gestalt war ursprünglich in Rot ausgeführt.
Der Zoroastrismus,[72] der hier, obwohl es vor allem in Indien noch Reste davon gibt (Parsismus), unter den historischen Religionen besprochen wird, stellt im Vergleich zur altägyptischen Religion mit ihren von magischen Vorstellungen bestimmten Jenseitshoffnungen und im Vergleich zu den Jenseitsvorstellungen der Mesopotamier mit ihrer Erbarmungs- und Hoffnungslosigkeit einen dritten Grundtypus dar, in dem die Selbstverantwortung des Menschen im Rahmen eines sich in ethischen Qualitäten äußernden kosmischen Dualismus die Hauptrolle spielt.[73]
Wie in anderen Religionen auch, vor allem wenn sie über lange Zeiträume lebendig waren, variieren die Jenseitsvorstellungen in der zeitlichen Abfolge stark. Im frühesten Teil des Avesta, den Gathas, wird keine physische Wiederauferstehung erwähnt, obwohl die Vorstellung von einem Totengericht dort bereits vorhanden ist. Erst in den jüngeren Teilen des Avesta, die etwa um 200 n. Chr. entstanden sind, ist von Himmel und Hölle als physischen Orten die Rede. Dieses Konzept bildete sich noch stärker heraus, als das Judentum, das Christentum und der Islam aufkamen und vom Zoroastrismus beeinflusst wurden.
Über die altiranische Religion vor Zarathustra ist allerdings wegen zahlreicher machtpolitischer und religiöser Überlagerungen relativ wenig bekannt. Da dieser jedoch von den altiranischen Religionsformen ausging, nimmt man an, dass Ähnlichkeiten zu dem von ihm dann entworfenen Religionskonzept bestanden haben müssen. Ausgeprägte kulturelle und religiöse Details oder gar eine Einheitlichkeit der Kultur und Religion im iranischen Hochland dieser Periode, in der sich zudem zahlreiche verschiedene Völker drängelten, lassen sich aus den wenigen Funden aber nicht ableiten. Dies wird erst mit Kyros II. in der Achämenidenzeit anders. Damals war der Glaube an Ahura Mazda als höchstes Wesen weit verbreitet, den auch Zarathustra ebenso wie den alten Feuerkult übernahm und zum Monotheismus einer Offenbarungsreligion weiterentwickelte. Auffallend ist die Ähnlichkeit (Feuerkult, Ahnenkult, heiliger Trank, heilige Tiere, Gott Mitra, böse Geister etc.) zur vedischen Religion.
Im möglicherweise vor etwa 3500 Jahren in der Kultur des Bronzezeitalters der asiatischen Steppe entstandenen Zoroastrismus[74] (auch Parsismus und Mazdaismus) wird der Gut-Böse-Dualismus, personifiziert durch Ahura Mazda und Ahriman, erstmals in der Geschichte der Religionen auf die Spitze getrieben und steht im Zentrum der Vorstellungen. Ein Dualismus von Körper und Geist wird dabei allerdings strikt abgelehnt, vielmehr ist das Böse durch Ahrimans Eingriff, welcher die ursprüngliche Harmonie zerstörte, entstanden. Gut und Böse sind demnach primär kosmische, nicht ethische Konzepte, die sich nur sekundär in ethischen Phänomenen äußern als Zeichen der gestörten Harmonie (ganz ähnliche Grundvorstellungen gibt es dann in den östlichen Religionen Hinduismus, Buddhismus und Daoismus). Entsprechend kennt der Zoroastrismus auch keinen eigentlichen und kataklysmischen Weltuntergang, sondern eine Erneuerung der ursprünglichen Harmonie. Dieser Dualismus bestimmt auch als zentrales Element die Vorstellungen vom Jenseits und vom Totengericht. Gerechtigkeit ist hier absolut menschlich, da der Zoroastrismus dem Menschen erstmals einen freien Willen zubilligt. Prädestination, Magie, Protektion etc. fehlen hingegen in Zarathustras Grundkonzept völlig, sind aber wie in anderen Religionen und bis heute als Restbestände älterer Vorstellungen erhalten geblieben.
Totengericht und Jenseits: Die iranischen Konzepte, wie sie vor allem in den Gathas beschrieben sind, ähneln stark den indisch-vedischen der Upanischaden. Der körperliche Tod steht mit den Mächten des Bösen in Verbindung, daher verunreinigte sich jeder, der einen Leichnam berührt, der daher in den Türmen des Schweigens vermoderte. Die Knochen wurden dann eingesammelt, um im Grab das letzte Gericht zu erwarten, eine alte Vorstellung von der Knochenseele, wie man sie etwa auch bei manchen nordamerikanischen Indianern findet (siehe dort). Auch das heilige und reine Feuer durfte damit nicht in Berührung kommen. Die Seele wird dabei als geistiges Prinzip gedacht, das des Körpers nicht bedarf. Himmel und Hölle sind im Jenseits Orte, die jeweils als Ergebnis von Gedanken, Worten und Taten zugemessen werden. Es gibt somit eine Rechenschaftspflicht des Menschen gegenüber Ahura Mazda (auch: Ohrmuzd), und damit wird auch ein Totengericht notwendig, wo zunächst nach dem Tod in einem ersten Richterspruch auf einer Waage der Gerechtigkeit individuell Strafen entsprechend dem Verhalten im Leben ausgesprochen werden (vgl. Islam), so dass auch diesseitige Moralprinzipien wie Gerechtigkeit wieder größere Bedeutung erlangen, vor allem die Hauptpflicht des Gläubigen: die Förderung der guten Schöpfung, wobei der die geistige und körperliche Welt verbindende Harmoniegedanke eine bedeutende Rolle spielt. Wenn die guten Gedanken, Taten und Worte des Menschen die bösen übertreffen, nimmt an der Brücke der Auslese (Činvat-Brücke) eine schöne Jungfrau seine Seele in Empfang und führt sie darüber (vgl. Huris im Islam). Dort erwartet ihn Amescha Spenta, die Gute Gesinnung, und führt ihn in den Himmel. Andernfalls begegnet er einer Hexe als Personifizierung seines Gewissens und stürzt von der nun messerscharf schmalen Brücke in die von Angra Mainyu (= Ahriman) beherrschte Hölle (das entspricht altägyptischen Vorstellungen). Auch einen nicht näher bezeichneten dritten Ort gibt es für die Seelen, bei denen sich Gut und Böse die Waage halten. Die Höllenstrafen entsprechen dabei der Schwere der Vergehen, denn das Ziel ist, den Menschen zu erziehen. Die größte Tugend des Menschen besteht dabei in der sorgfältigen Bestellung des Bodens, er soll Verträge halten, rechtschaffen sein und gute Werke tun; die schwersten Verstöße sind die gegen die rituelle Reinheit, die den Menschen zum ewigen Tod verdammen: Verbrennen einer Leiche, Essen einer Leiche, widernatürliche Sexualität (Sodomie).
In späterer Zeit fand das Gericht dann jenseits der Brücke statt, erst durch einen Richter, später durch ein Dreierkollegium, dem Mithras vorsaß, der später im Zentrum der Mysterien des Mithra stand und als Vertragsgott Mitra auch in der vedischen Religion eine bedeutsame Rolle spielte, ebenso wie Varuna, Gott der Wahrheit. Wesentlich war neben dem Lebenswandel dabei vor allem, ob der Tote die rechten oder die falschen Götter angebetet hatte.
Nach einem bestimmten Zeitpunkt werden die Toten aus Himmel und Hölle zurückgeschickt, um sich einem zweiten Gerichtsspruch anlässlich der Auferstehung der Welt am Ende der zoroastrischen kosmischen Zyklen von 12.000 Jahren zu unterziehen. Entscheidend dabei ist, ob der Mensch mit beiden Aspekten des Seins in Harmonie gelebt hat. Der Mensch muss sich deshalb zwei Urteilssprüchen stellen, weil es zwei Aspekte des Seins gibt: menok und geti, die geistige und die materielle Gestalt der Welt. Die zukünftige Wiederauferstehung des Fleisches und das Jüngste Gericht – beides Vorstellungen, die wie Himmel und Hölle etc. das Christentum und später der Islam wohl auch vom Zoroastrismus bezogen haben –, auf die das ewige Leben für Leib und Seele folgen, sind entsprechend das endgültige „Wiedergutmachen“ von Ohrmuzds „guter Schöpfung“, die Entfernung des Bösen aus ihr und die Vereinigung mit ihm. Eine ewige Hölle gilt allerdings als unmoralisch, und somit werden alle Menschen früher oder später nach Abbüßung ihrer Höllenstrafen (vgl. das Fegefeuer des Katholizismus, Dantes „Läuterungsberg“: Purgatorio, also eigentlich Ort der Reinigung) unsterblich werden, nachdem sie sich anlässlich der Wiederauferstehung der Welt dem zweiten Richterspruch unterzogen haben, bei dem allerdings dann doch die Sünder zusammen mit Ahriman aus der Welt entfernt, also vernichtet werden, so dass man hier durchaus nach S. A. Tokarew davon sprechen kann, die Jenseitsvorstellungen des Zoroastrismus seien im Grunde „durchdrungen von der moralischen Idee der Vergeltung“.[75]
Religionssoziologie:[76] Der Ursprung dieses strikten, bis weit über den Tod hinausreichenden Dualismus der Avesta wird inzwischen in der Feindschaft zwischen den sesshaften Bauern und den nomadisierenden Viehhirten der Indoarier gesehen, der sich ja auch in der Geschichte von Kain und Abel wiederfindet und durchaus auch in Kämpfen zwischen den iranischen Ahura-Anbetern und den indischen Daeva-Anbetern zum Ausdruck kam.[77] Auch die sorgfältige Bodenbestellung als Haupttugend weist in diese Richtung, ebenso die Pflicht zur Einhaltung von Verträgen usw., zumal die anderen Tugendpflichten relativ verschwommen gestaltet sind (gute Werke, Rechtschaffenheit, nicht lügen usw.). Seine endgültige Form nahm der Zoroastrismus erst mit Beginn der Achämenidenzeit ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert nach der machtpolitischen Ablösung der Meder an, wo er vor allem unter den Sassaniden zu einem zentralistischen Priesterkult wurde. Nach S. A. Tokarew reflektiert die Entwicklung des Zoroastrismus die Entwicklung der iranischen Staaten mit der Zuspitzung von Klassengegensätzen.[78] Ein Ahnenkult als Totenkult war vorhanden vor allem, um die Totengeister zu besänftigen, von denen man glaubte, sie hätten Macht über die Angelegenheiten der Lebenden.[56]
Der spätere, aus dem Zoroastrismus hervorgegangene Gnostizismus und der Manichäismus haben dann erheblichen Einfluss auf das Christentum ausgeübt. Später finden sich die dualistischen Grundgedanken im Christentum vor allem bei den Sekten der Paulikianer (7. Jh.), der Bogomilen (10. Jh.), der Katharer und Albigenser wieder (12./13. Jh.).
Alte vorderorientalische Religionen
Es sind dies die in Kleinasien und Palästina, also im mediterranen Osten, praktizierten Religionen, die einige Gemeinsamkeiten zeigen, vor allem dualistische Fruchtbarkeitskulte (Baal gegen Mot), und teilweise auch stark synkretistisch geprägt sind, zumal sie auch Elemente aus Mesopotamien enthalten. Vor allem Palästina war durch Stadtstaatkulte geprägt, da sich hier aufgrund sich überlappender Einflusszonen aus Ägypten, Mesopotamien, dem Iran und Kleinasien nur selten und kurz größere selbständige Flächenstaaten bilden konnten.
Weiter geht es in Teil 2
Im weiteren Sinne bezeichnet der Begriff alle Auswahlverfahren, die eine Person nach ihrem Tod zu durchlaufen hat. Die Vorstellung eines Letzten Gerichtes am Ende des Weltgeschehens verschmilzt dabei häufig mit der des Totengerichtes über die einzelnen Personen.
Altägyptisches Totengericht: Das Wiegen des Herzens. Szene aus dem Totenbuch des Schreibers Ani. Links: Ani und seine Frau Tutu betreten die Götterversammlung der Unterweltsrichter. Mitte: Anubis wiegt Anis Herz gegen die Feder der Maat, beobachtet von den Göttinnen Renenutet und Meschkenet, dem Gott Schai und Anis Ba-Seele. Rechts: Ammit, die Anis Seele verschlingen wird, wenn er die Prüfung nicht besteht, der Gott Thot bereitet den Bericht darüber vor. Oben: Die als Richter fungierenden Götter Hu und Sia, Hathor, Horus, Isis und Nephthys, Nut, Geb, Tefnut, Schu, Atum und Re-Harachte.
Mittelalterliche Darstellung der christlichen Hölle aus dem Hortus deliciarum des 12. Jahrhunderts
Grundbegriffe, Konzepte, Phänomene und Methodik
Wesentliche Grundbegriffe und Konzepte
Die jeweiligen Formen des Totengerichtes und die damit verbundenen Jenseitsvorstellungen spiegeln jeweils ein bestimmtes Weltverständnis wider.[3] Von zentraler Bedeutung sind dabei philosophisch-religiöse, aber auch eher gesellschaftlich bestimmte Grundbegriffe. Sie sind jedoch häufig nicht klar umrissen und kommen je nach kulturell-religiösem Hintergrund in unterschiedlicher Ausprägung vor:
Primäre Einflussgrößen (häufig miteinander kombiniert)
Ahnenkult, bei dem die Vorstellung eines Kontinuums von Diesseits und Jenseits vorherrscht. Er kommt schon in sehr frühen, meist animistischen und schamanistischen bzw. totemistischen Religionen vor (bei allen Vorbehalten gegen diese vor allem beim Animismus und Totemismus teils zeitgebundenen Etikettierungen[4]). Ein voll ausgeprägter Ahnenkult tritt auch in sozioökonomisch wenig entwickelten, vorwiegend egalitären Gesellschaften auf. Im Mittelpunkt stehen hier die persönlichen Beziehungen der Lebenden zu den Toten, während Vorstellungen eines Totengerichts noch nicht existieren. Er kann als Kult der mythischen Ahnen, Kulturheroen, Sippen- und Familienahnen und der persönlichen Ahnen auftreten, wobei Ahnen teils geschätzt, teils gefürchtet werden können. Hier treten bereits frühe Formen von Gottheiten auf, gewöhnlich in enger Verbindung mit natürlichen Phänomenen; eine Trennung zwischen mythischen Ahnen, Geistern und Gottheiten ist nicht immer möglich. Der Ahnenkult scheint überdies vor allem stark familien- und sippenbezogen zu sein, da er offenbar die Kontinuität und den Zusammenhalt dieser kleinsten gesellschaftlichen Einheiten stärkt. Sind solche Einheiten in größeren gesellschaftlichen Strukturen eingebettet oder haben sich aufgelöst, so ist der Ahnenkult schwächer ausgeprägt (wie etwa in der westlichen Moderne).[5]
Adolf Ellegard Jensens Konzept der Dema-Gottheit bei frühen Pflanzern (Pflanzenbeuter, die noch nicht systematisch, auf größeren Flächen und vor allem Knollen anbauen) nimmt hier eine Übergangsstellung ein.[6]
Totenkult und Begräbniskult, ein vom Ahnenkult strikt zu unterscheidender Begriff. Von Totenkult spricht man, wenn der Tod als solcher im Mittelpunkt der formalen Riten steht und nicht mehr die Beziehung zu den Vorfahren. Dies ist der Fall in zunehmend geschichteten Gesellschaften, nach der Auflösung des Kontinuums von Diesseits/Jenseits.[7] Hier haben sich die religiösen Vorstellungen meist zum Polytheismus entwickelt, und es existiert ein religiöser Dualismus mit einem vom Diesseits zunehmend unabhängiger werdenden Jenseits. Der Begräbniskult kann dabei formal ritualisiert erstarren.[8]
Totengericht, wenn sich dabei entsprechende, selektiv ordnende Gerichtsvorstellungen entwickeln, entweder institutionell oder systemimmanent, häufig beides. Bei strikt ethischer Ausrichtung oft monotheistisch.
Jüngstes Gericht mit Endzeitvorstellungen (Eschatologie). Es besteht die Vorstellung eines linearen, gelegentlich auch zyklischen Weltbildes (wie im Hinduismus und Buddhismus, teilweise auch im Zoroastrismus).
Spezifisch religiös und kosmologisch definierte Konzepte
Sterben und Tod, Leben nach dem Tod, Unsterblichkeit
Verhältnis Diesseits/Jenseits, Unterwelt/Totenreich und Himmel bzw. Paradies, Auferstehung, Fruchtbarkeit und Sterbender Gott
Gott und Götter, Geister und Dämonen, Magie
Seele(n), Seelenwanderung, Karma
Gnade, Schuld, Sünde, Erlösung und Rechtfertigung
Prädestination, göttliche Allmacht und Allwissenheit
Apokalypse und Eschatologie
Mythos, Kosmologie, Zeit (zyklisch, linear)
Eher philosophisch definierte Konzepte
Allgemeine Weltsicht/Weltbild
Ethik und Moral, Pflicht, Tugend
Gewissen und Freier Wille, Verantwortung, Schuld (Ethik)
Gerechtigkeit
Theodizee
Gut-Böse-Dualismus
Eher gesellschaftlich definierte Konzepte
Sozialer Status, Ökonomie und Sozialstruktur
Macht, Gewalt, Herrschaft
Recht und Gesetz, Schuld (Strafrecht), Urteil (Recht), Strafe, Vergeltungsprinzip
Sitte und Brauchtum
Ritual, Opfer, Kult, Bestattungsform, Grabbeigaben.
In Verbindung mit Bestattungsritualen gibt es weitere emotionale Phänomene, die typisch sind für die Mythenbildung des Menschen als religiösen Wesens (Homo religiosus):
Transzendenz, der Symbolismus des Denkens sowie die Angst vor dem Tod und dem Danach, verbunden mit der Hoffnung auf ein befriedigendes Weiterleben nach dem Tod (Heilserwartung), oder das Streben nach Glück. Der Gehorsam gegenüber religiösen Institutionen stützt sich auf deren Propagieren des Willens der Götter zusammen mit dem Glauben an metaphysische Entitäten und ihren Einfluss auf Lebende und Tote.[9]
Das religiöse Bewusstsein: Entstehung, Phänomene und Denkfiguren
Mit der Entstehung des religiösen Bewusstseins gehen häufig auch bildhafte Vorstellungen über das Diesseits/Jenseits, den Tod, die Hölle bzw. Unterwelt, das Paradies, die Seelenwanderung, über Gerechtigkeit und weitere Begleiterscheinungen einher.[10]
Die Vorstellung vom Tod als endgültigem Schlusspunkt ist relativ jung; sie setzt komplizierte metaphysische Überlegungen voraus. In Asien ist sie vom 6. vorchristlichen Jahrhundert an im Buddhismus belegt, im Mittelmeerraum erst beim griechischen Philosophen Epikur. Davor hatte das religiöse Denken seinen Schwerpunkt in der Todesfurcht, dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit sowie der Trauer um den Verlust nahestehender Menschen. Dem versuchte man durch Grabbeigaben zu begegnen − möglicherweise schon ab dem Mittelpaläolithikum.[11] Diese vorwiegend gefühlsmäßige Reaktion war vermutlich mit dem Wunsch verbunden, trotz der Verwesung des Körpers möge etwas weiter bestehen.[12] Es stellt sich die Frage nach der Stellung des religiösen Bewusstseins in der Vorgeschichte.
Der belgische Religionswissenschaftler Julien Ries konzipierte in Anlehnung an Autoren wie Mircea Eliade und den Archäologen Jacques Cauvin sechs Stufen der Entwicklung des religiösen Bewusstseins, die auch für die Ausbildung von Bestattungsritualen und Totengerichtsvorstellungen von Bedeutung seien:[13]
Die erste Erfahrung des Heiligen durch die Natur (Himmel, Wetter, Tag und Nacht, Sonne, Mond, Sterne etc.). Diese Phase der frühen Hierophanie sei eng mit der Entdeckung der Transzendenz und der Schaffung erster, noch unausgebildeter kultureller Phänomene verbunden. Solche seien naturgemäß durch den Zwang zur Beherrschung der Umwelt schon früh hervorgebracht worden und hätten zwangsläufig bestimmte kognitive Konzepte der Erklärung des Unerklärlichen zur Grundlage.[14]
Das Nachdenken über den Tod und das Leben danach. Erste Bestattungen und mögliche Grabbeigaben im Mousterien etwa beim Neandertaler oder Homo Sapiens Sapiens (z. B. Qafzeh) seien Zeichen dafür.[15]
Das Entstehen von Mythogrammen, etwa in der frankokantabrischen Höhlenkunst. Das religiöse Bewusstsein einer Gemeinschaft manifestiere sich damit schon sehr konkret vor der Sesshaftwerdung.[16]
Die erste Darstellung der Gottheit. Sie trete als männlich-weiblicher Dualismus vor allem in Venusfigurinen und Stierdarstellungen ab dem Natufien an der Schwelle zum Neolithikum (Jungsteinzeit) auf, im Neolithikum etwa in Çatalhöyük. Eine besonders frühe Stufe stellten dabei möglicherweise die Skulpturen von Göbekli Tepe und Nevalı Çori dar (die Urfa-Statue gilt als älteste vollständig erhaltene lebensgroße Skulptur der Menschheit[17]). In Europa gehöre die Vinča-Kultur in diesen Zusammenhang.[18] Es finde hier erstmals eine symbolische Umsetzung der Transzendenz beim Homo religiosus statt. Erstmals seien Menschen im Gebet dargestellt. Bestattungsriten hätten nun eindeutig religiöse Bezüge.[19] Die Sesshaftwerdung verändere Kultur und Religiosität dramatisch.[20]
Die Personifizierung des Göttlichen und dessen Darstellung in Statuen. Sie vollziehe sich in den großen Religionen der alten polytheistischen Hochkulturen. Tempel und Priester sind nun vorhanden. Die häufig noch animalistisch beeinflussten Götter sprechen mit den Gläubigen.[21]
In den großen monotheistischen Religionen werde Gott zu einem einzigen, allmächtigen Wesen, das sich in das Leben der Gläubigen einmische. Er spreche nicht mehr durch Orakel, sondern direkt durch Offenbarungen und Propheten und werde zum fordernden Gott. Hierophanie werde zur Theophanie.[22]
Im Rahmen dieser Stufenfolge geben vor allem folgende Phänomene Hinweise auf Vorstellungen vom Jenseits und vom Totengericht und die diesen möglicherweise zugrunde liegenden Denkfiguren:
in erster Linie die Bestattungsformen, aus denen man Hinweise auf die potentiellen Jenseitsvorstellungen ihrer Urheber ableiten kann.[23] Allerdings sind diesseitige Maßnahmen wie Grabbeigaben besonders im späten Paläolithikum, frühen und mittleren Neolithikum, die nicht eindeutig als Opferdeponierungen zu werten sind, nur indirekte Hinweise, da sie nicht unbedingt auf einen Jenseitsglauben oder Ahnengedenken oder rituelle Begleiterscheinungen deuten müssen, sondern auch nur als emotionale Symbole der Verehrung und Zuneigung gewertet werden können, also eine pietätvolle Behandlung signalisieren, zumal sie keinerlei Auskunft darüber geben, wie dieses Jenseits denn eigentlich vorgestellt war.[24] Ähnliches gilt für den häufig und an vielen Orten der Welt benutzten Gebrauch von Ocker. Dieser kann durchaus auch als praktische Maßnahme gedeutet werden, um den Verwesungsgeruch der mitunter im Inneren der Behausungen bestatteten Toten zu minimieren. Denn als starkes Bindemittel wirkt er auch leicht antibakteriell, antiparasitär und hygroskopisch (er bindet Wasser). Sekundär liegt eine symbolische Bedeutung nahe, so wie sich auch die Mumifizierung im Alten Ägypten aus der natürlichen Trocknung in den Gräbern der Wüste entwickelt hatte und erst sekundär religiös aufgeladen worden war.[25] Später, ab etwa dem 3. Jahrtausend, ist jedoch nicht nur bei exzessiven Grabbeigaben und Bestattungen (teils mit Menschenopfern) wie etwa Fürstengräbern auch eine religiöse Interpretation zulässig, dergestalt „dass die religiöse Heilshoffnung in neuer Weise die Ewigkeitsdimension in Form einer expliziten Jenseitsexistenz einbezog“.[26] Dies gilt umso mehr, wenn ein Totenkult nachweisbar ist, der auf das Ewigkeitsschicksal des Verstorbenen bezogen werden kann.[27]
Sitzend bestattete Mumie der Moche-Kultur, einer Vorläuferkultur der Inkas in den Anden
Als in diesem Zusammenhang interessantes, weil besonders bekanntes Phänomen einer das Diesseits im Jenseits fortsetzenden Konzeption, das vor allem im Alten Ägypten[28] für Jenseits und Totengericht wesentlich war, mag hier der Mumienkult gelten, wie er auch in anderen Teilen der Welt, vor allem in Mittel- und Südamerika, aber z. B. auch in Ostasien hier und da üblich war. Mumien – gemeint sind hier ausschließlich bewusst herbeigeführte, artifizielle Mumifizierungen – waren dazu gedacht, den Körper zu erhalten, um ihm so ein Fortleben im Jenseits zu erlauben[29] (Judentum, Islam und Katholizismus verbieten bzw. missbilligen aus diesem Grunde bis heute die Feuerbestattung, auch wenn sich dafür etwa im Islam keinerlei religiöse Begründung findet[30]). Das heißt aber auch, dass man die jenseitige Welt ohne derartige massive diesseitige Eingriffe nicht für fähig hielt, ein Weiterleben allein der Seele, von denen der Ägypter ja drei, Ba, Ka und Ach, bei Pharaonen bis zu sechs, zu haben glaubte (eine alte schamanische Vorstellung der Mehrfachseele), zu gewährleisten, dass also die alte Vorstellung von den Ahnen, wie sie teils bis heute in sogenannten Naturreligionen, aber auch im Katholizismus und anderen Religionen als Überrest z. B. auch im Heiligenkult zu beobachten ist, sich somit strikt säkularisiert und auf Einwirkungen aus dieser Welt ausgerichtet hatte.[31] Dieser Gedanke ist seit dem Neolithikum geprägt von der Idee einer generellen Manipulierbarkeit der Welt, die sich hier über den Tod hinaus erstreckt und nun häufig auch vom diesseitigen Status und den ökonomischen Möglichkeiten des Toten bestimmt wird (mit dem späteren Exzess zum Beispiel des Ablasshandels).[32]
Solche Vorstellungen gab es aber so ähnlich zum Beispiel auch bei den Mayas und Azteken, ebenso in der heterogen aus buddhistischen, daoistischen und konfuzianischen Konzepten amalgamierten chinesischen Religion, und sie wurden schon sehr früh zum Beispiel durch Grabbeigaben und Manipulationen an den Toten manifest. Diese waren ursprünglich allerdings, typisch für stark geschichtete Gesellschaften, der Adelsschicht vorbehalten. Diesseitige Ungleichheiten wurden so auch ins Jenseits transportiert. Generell weisen Prunkgräber stets auf diesen Sachverhalt, selbst dort, wo keine oder kaum schriftliche Zeugnisse vorhanden sind, wie etwa bei den Kelten, Skythen und Etruskern, den Mound Builders Nordamerikas oder den Inkas sowie im frühen China mit seinen gigantischen Grabanlagen, in denen die Toten mitunter in kostbare Jadepanzer gehüllt waren. Dass es bei einer derart säkular ausgerichteten Totenwelt (die ägyptischen Mastabas und Pyramiden sind nur der spektakulärste Fall), von der das Grabmal, das der Tote nun „bewohnen“ oder das den Kontakt mit ihm ermöglichen sollte, nur ein Teil war, ein Totengericht gab, ist so gesehen nur natürlich, denn es wirkte nach dem Prinzip Hoffnung als eine Art die Ungerechtigkeiten der Welt ausgleichender und eine Heilsgewissheit (bei entsprechender Lebensführung) suggerierender Filter.[33]
Dasselbe gilt für die Tatsache, dass dieses immerhin in Ägypten von der Göttin der Gerechtigkeit Ma’at überwachte und vom alten Vegetationsgott Osiris geleitete Totengericht auch magisch beeinflusst (die sogenannten Pyramidentexte und Totenbücher sind dafür ein Beispiel), gar beschwindelt werden konnte, wobei die Strafen durch mitgebrachte Uschebti-Tonfiguren übernommen wurden, um dem Toten ein angenehmes, ja luxuriöses Leben im Jenseits zu ermöglichen. Eine Ausnahme stellten hier allerdings die Pharaonen dar, von denen man annahm, dass sie direkt zu den Göttern reisten, zu denen sie ja gehörten. Allerdings hatten sie in einer anderen theologischen Variante durchaus vor dem Totengericht zu erscheinen.
Die Unterwelt, das Jenseits enthielt mitunter wie in der griechischen Mythologie ein spezielles Gefängnis für Titanen (Tartaros) und sonstige Unerwünschte, ein willkürlicher Strafort, aus dem sich später die christlich-jüdisch-islamische Hölle entwickelte. Im Islam gibt es gleich sieben davon, aber auch das Christentum hat mehrere wie etwa das Fegefeuer mit sieben funktionalen Kreisen und die eigentliche, scholastischen Strukturvorbildern folgende Hölle nach Dante (vgl. Die Göttliche Komödie: Inferno und Purgatorio) wiederum mit deren neun, die alle jeweils wieder in mehrere Sektionen unterteilt sind, die von spezifischen Vergehensarten bestimmt werden. Entsprechendes gilt in vielen Religionen für das Paradies bzw. seine Äquivalente in der Oberwelt oder Götterwelt. In den chinesischen Religionen wiederum ist die Unterwelt ein Spiegelbild der Oberwelt mit Institutionen, Bürokratien (eine Bank und ein Passamt darunter) und Herrschern, die dem diesseitigen Kaiser unterstellt sind.[34]
Diese und andere Phänomene sind wie die Seelenwanderung der Orphik und der Pythagoräer, vor allem aber der östlichen Religionen Hinduismus und Buddhismus derart über den Dharma- und Karma-Gedanken in die Glaubenssysteme strukturell integriert, dass der ethische Dualismus von Gut und Böse oder der spiritualistische von Hell und Dunkel hier in einen ontologischen Dualismus von vergänglichem Sein und ewiger Ordnung und Harmonie umgewandelt wird, sodass ein eigentliches Totengericht nicht mehr nötig wäre, allerdings dennoch mit einem Totenrichter Yama durchaus signifikant vorhanden ist.[35]
All die genannten Phänomene sind symptomatisch für das Verlangen nach einem schon im Diesseits bestimmbaren Erlösungsweg, wie ihn etwa Max Weber in seiner Religionssoziologie darstellt.[36] Max Weber ging hier noch weiter, wenn er unter Einbeziehung gesellschaftlicher Faktoren schrieb:
„Die Regel, zumal bei Religionen, die unter dem Einfluss herrschender Kreise stehen, ist … die Vorstellung, dass auch im Jenseits die diesseitigen Standesunterschiede nicht gleichgültig bleiben werden, weil auch sie gottgewollt waren, bis zu den christlichen ‚hochseligen‘ Monarchen hinab. Die spezifisch ethische Vorstellung aber ist ‚Vergeltung‘ von konkretem Recht und Unrecht aufgrund eines Totengerichts, und der eschatologische Vorgang ist also normalerweise ein universeller Gerichtstag … Himmel, Hölle und Totengericht haben fast universelle Bedeutung erlangt, selbst in Religionen, deren ganzem Wesen sie ursprünglich so fremd waren wie dem alten Buddhismus.“
– Max Weber: Religionssoziologie, S. 316 f.
Zur methodischen Vorgehensweise
Totengerichte und die meist damit einhergehende Eschatologie sind in den Religionen häufig derart komplexe, zugleich aber auch grundlegende Strukturphänomene, dass eine religionshistorische Beschreibung entlang der Zeitachse nur lose zusammenhängende Teilansichten ergeben würde. Daher müssen die einzelnen Religionen auch auf der Grundlage soziologischer, phänomenologischer und anthropologischer Forschung betrachtet werden.[37] Will man das Totengericht in verschiedenen Religionen darstellen, muss man, um die Zusammenhänge und Entstehungsbedingungen überhaupt verständlich zu machen, zunächst die Grundzüge des Jenseitsglaubens dieser Religionen sowie ihre ethischen Konzepte darstellen, in die ein Totengericht eingebettet sein kann. Auch eine fehlende Einbettung ist als Negativbefund von wissenschaftlichem Interesse, vor allem die potentiellen Gründe dafür.
Vorkommen in verschiedenen Kulturkreisen
Vorbemerkungen
Grundlegend für das Verständnis des Konzeptes Totengericht ist vor allem die später insbesondere in Griechenland auch philosophisch ausgeführte und diskutierte Idee der Gerechtigkeit, die zunächst ausschließlich auf göttliche Ursprünge zurückgeführt wird.[38] Zuerst vor allem im mediterranen und indoeuropäischen Raum entwickelten sich demnach Vorstellungen von einer endgültigen, ins Jenseits an eine Totengericht verlagerten Gerechtigkeit (bei unterschiedlich luxuriöser oder auch karger Ausstattung der Unterwelt), welche den Menschen aufgrund religiöser, ethischer und gesellschaftlicher Kriterien bewertete und so in gewissem Sinne diesseitig begangenes oder erlittenes Unrecht auszugleichen vorgab, häufig unter Bezugnahme auf diesseitige Rechtsnormen. Dies ist ein ziemlich deutlicher Hinweis auf die Existenz einer geschichteten Gesellschaft und deren hierarchische Machtansprüche samt einer mit diesen meist verschwisterten systematisierten Religion, wobei die zunächst metaphysischen, später pseudorationalen Formeln jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht rechtfertigen konnten, also in diesem Sinne sehr nützlich waren.[39]
Damit entstand allerdings notwendigerweise das Problem, das vor allem in monotheistischen Religionen die Theologen und Philosophen bis heute beschäftigt und von keinem irgend gearteten jenseitigen Gericht aus der Welt geschafft werden kann und das seit Leibniz unter dem Begriff der Theodizee zusammengefasst wird. In der Theodizee (aus griech. theós = Gott und díkē = Gerechtigkeit; der Begriff wurde von Leibniz 1710 in Essais de theodicée geprägt) wird die Frage zu lösen oder eher zu umgehen versucht, warum das Böse, wie es die jeweiligen Glaubensrichtungen definieren, trotz göttlicher Allmacht in die Welt gekommen ist und dort permanent so viel Unheil anrichtet trotz aller Opfer und Gebete,[40] wobei meist unberücksichtigt bleibt, dass das Gute und Böse als solches ohnehin weitgehend relativ zur Religion, Gesellschaft und Kultur als Ausdruck von Macht und Interessen bestimmbar ist (was etwa im Calvinismus oder Pietismus wiederum dazu führt, dass Erfolg und Reichtum als Ausdruck göttlicher Gnade gewertet werden[41]). In einigen Religionen tritt diese göttliche Allwissenheit und Allmacht in ihrer extremsten Form als Prädestinationslehre auf. Auch hier wurde aber ein an sich unsinniges Totengericht etabliert mit Hölle, Himmel, Apokalypse usw., das jedoch nur Sinn ergibt, wenn Gut und Böse, abgesehen von allen kulturanthropologischen, sozialpsychologischen etc. Relativierungen, wie etwa im Buddhismus, in der alleinigen Entscheidung des Menschen liegen (weil er sonst ja von Gott nicht bestraft werden könnte), der also mit Willensfreiheit und einem ebensolchen Gewissen ausgestattet sein muss. In anderen Religionen, vor allem den östlichen, unterliegen selbst die Götter und ihre Macht dem Gesetz des Karma und sind nur Teil einer allumfassenden anzustrebenden kosmischen Harmonie – dies besonders im Daoismus.
Im Christentum kommt noch erschwerend die Idee der Erbsünde hinzu, die als angeborenes Element ebenfalls von der Willensfreiheit nicht berührt ist und die Vorlage abgibt für ein grundsätzlich dualistisches Wesen des Menschen, und zwar nicht nur ontologisch als Körper und Seele bzw. Geist, sondern auch ethisch als Gut und Böse. Beide Dualismen sind, je nachdem ob sie in ein lineares oder zyklisches Zeitverständnis eingebettet waren, entsprechend im Laufe der Geschichte wesentliche Grundlagen metaphysischer Überlegungen gewesen und haben zu drei ganz unterschiedlichen Lösungs-, das heißt Erlösungsansätzen geführt (siehe unten).
Das instabile und religiös hochvariable Spannungsfeld zwischen freiem Willen (bzw. Gewissen) samt Erlösungssehnsucht auf der einen und den oft machtpolitisch instrumentalisierten göttlichen Ansprüchen auf der anderen Seite bestimmt wesentlich die Ausgestaltung der Totengerichte.[42] Hans Kelsen, einer der bedeutendsten Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, notierte dazu:[43]
„Aber das Bedürfnis nach absoluter Rechtfertigung scheint stärker zu sein als alle rationalen Erwägungen. Daher wendet sich der Mensch zur Religion und Metaphysik, um hier diese Rechtfertigung, d. h. die absolute Gerechtigkeit, zu finden. Das bedeutet aber, dass die Gerechtigkeit von dieser Welt in eine andere, transzendente Welt verlegt wird. Sie wird die wesentliche Eigenschaft und ihre Verwirklichung die wesentliche Funktion einer übermenschlichen Autorität, einer Gottheit, deren Eigenschaften und Funktionen ihrem Wesen nach menschlicher Erkenntnis unzugänglich sind. Der Mensch muss an die Existenz Gottes, und das heißt an die Existenz einer absoluten Gerechtigkeit glauben, aber er ist unfähig, sie zu begreifen, das heißt sie begrifflich zu bestimmen.“
– Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?
Historische Religionen
S. A. Tokarew notierte, dass tröstliche Hoffnungen auf eine Belohnung im Jenseits in den frühen Klassengesellschaften ebenso fehlen wie noch in der Urgesellschaft in den frühen Religionen. Sie tauchen erst später nach Verschärfung der Klassengegensätze auf, die derartige Mechanismen offenbar notwendig machten.[44] Geschieht dies, wird das Ziel der Erlösung hier wie auch später vor allem auf drei Wegen erreicht:[45]
In den ältesten Glaubensformen vor allem durch magische Rituale, z. B. im Schamanismus, in der altägyptischen Religion und in den alten Mysterienkulten.
Später durch eigene Anstrengungen, gewöhnlich durch die Erlangung esoterischen Wissens, Askese oder Heldentod, so zum Beispiel in der Orphik, im Hinduismus, Buddhismus und Islam sowie im Zoroastrismus, aber teilweise auch in der Religion der Germanen (Walhall) und den griechischen Konzepten vom Elysion.
Schließlich durch göttliche Hilfe, etwa im Christentum (insbesondere in der Rechtfertigungslehre), im Judentum (vor allem im späteren, nachexilischen) und im Islam, die daher auch Erlösungsreligionen heißen (für den Buddhismus, der mitunter auch dazu gerechnet wird, gilt das Motiv der göttlichen Erlösung durch Gnade gerade nicht).
Die Formen treten selten rein auf, und aus den drei Hauptformen haben sich im Laufe der Zeit meist Mischformen herausgebildet, die in unterschiedlichen Anteilen und Gewichtungen von allem etwas enthalten, z. B. ein Totengericht im Hinduismus und Buddhismus, aber auch in den chinesischen Ahnen-Religionen, magische und Ahnen-Rituale in den abrahamitischen Religionen, Prädestination und magische Rituale im Islam, Seelenwanderung in der Orphik und im jüdischen Chassidismus usw.[46] Überdies gib es in jüngeren, noch lebenden Religionen oft auch noch häufig als Brauchtum imponierende Phänomene aus älteren religiösen, ja sogar „heidnischen“ Traditionen (z. B. magische Rituale, Ahnenkult, Geister- und Dämonenglaube usw.).
Limitierender Faktor der Beurteilung älterer Religionen ist stets die meist nur archäologisch vorliegende Überlieferung und ihre wissenschaftliche Deutung. Der Vermerk „kein Totengericht“ bedeutet im Folgenden vor allem bei den frühen historischen Religionen daher nicht, dass es effektiv keines gegeben hat, sondern nur, dass nichts davon überliefert ist und man hier nur aufgrund der bekannten, oft spärlichen, gelegentlich sekundär verfälschten Informationen (z. B. Römer über Etrusker, Kelten und Germanen) sowie durch archäologische Interpretationen und interreligiöse Vergleiche davon ausgeht, dass dies möglicherweise zutrifft oder nicht zutrifft. Für die alten vorklassischen Hochkulturen sind jedoch vor allem in Ägypten und Mesopotamien auch ausführlichere Schriftdokumente erhalten, in anderen Kulturkreisen, etwa des frühen vedischen Hinduismus, gibt es einschlägige religiöse/heilige Texte.
Altes Ägypten
Faksimile einer Vignette aus dem Totenbuch des Ani. Die Ba-Seele des toten Ani erhebt sich über seine Mumie. Die Wiedervereinigung der Ba-Seele mit dem Körper wurde für das Weiterleben nach dem Tode als notwendig betrachtet. Dazwischen lag das Totengericht. Die Ba hält hier einen Schutz und Ewigkeit symbolisierenden Schen-Ring umklammert.
Da das alte Ägypten, wo das Totengericht samt Jenseitsvorstellungen[47] erstmals ausführlich nachweisbar ist, relativ modellhaft gewirkt hat und viele seiner Vorstellungen später von benachbarten Religionen übernommen wurden bis hinein in die abrahamitischen, soll es hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Bereits die von Porphyrios in seinem Werk Apologia funebris Aegyptiorum herausgestellten altägyptischen negativen Schuldbekenntnisse (Pentalog) weisen enge Verbindungen zu den zehn Geboten auf. Jan Assmann sieht daher die altägyptischen negativen Schuldbekenntnisse als Basis der zehn Gebote und somit jene Ethik, die die „Hebräer während ihres Aufenthaltes in Ägypten gelernt und daraus mitgenommen haben“.[48] Das primäre Ziel einer erfolgreichen Verhandlung vor dem Totengericht war die Umwandlung des Toten in einen gerechtfertigten Ahnengeist und nicht, wie öfter angenommen, der Übergang aus der Welt der Lebenden in die Welt der Toten. Hierzu war die körperliche Reinheit des Toten unabdingbar. Die positive Entscheidung des Totengerichts dokumentierte die erfolgreiche Loslösung der Sünden vom Körper des Toten. Mit der anschließenden Verklärung war es dem Toten möglich, den Übertritt nach Sechet-iaru in die Götterwelt vorzunehmen und mit den Göttern die weitere Fortexistenz zu vollziehen.[49]
Die Idee eines Totengerichtes bildete sich bereits im Alten Reich heraus und ist im Zusammenhang des königlichen Himmelsaufstiegs in den Pyramidentexten bezeugt. Bevor der königliche Himmelsaufstieg begann, musste das Ritual der Einbalsamierung und Mumifizierung durchgeführt werden. Die damit verbundene Entnahme der Körperflüssigkeiten mit begleitender Verklärung fand durch zusätzliches Begießen des Körpers mit Wasser statt, der dazu auf ein wasserbeckenähnliches Gebilde gelegt wurde. Diesen Vorgang beschrieben die Altägypter als „Überquerung des Sees“.[50] Das zu dieser Zeit nur für den König (Pharao) anrufbare göttliche Totengericht stellte eine Gefahr dar, da ein „Antrag auf Überprüfung der Taten“ bei Verfehlungen des Königs ein negatives Urteil folgen ließ, was nicht nur den Himmelsaufstieg verhinderte, sondern zu einem ewigen Aufenthalt im „verborgenen Bereich des Todes“ führte. Die Idee des Totengerichts war somit zunächst nur auf den König selbst und seine engsten Vertrauten beschränkt.
Erst im Verlauf des Mittleren Reiches vereinigte sich durch das neue theologische Konzept der dritten Ebene (Duat) auch im privaten Bereich nach erfolgreicher Prüfung durch das Totengericht die vor allem in Vogelgestalt erscheinende Ba-Seele als Träger der unvergänglichen Kräfte im Jenseits wieder mit dem Körper des Toten, der daher als Mumie unbedingt zu erhalten war. Die Vorstellung vom Jenseits war beeinflusst von der Welt, die die Ägypter sahen: ein lebensspendender, im Norden ein weites, fruchtbares Delta bildender Fluss, umgeben von Wüsten im Westen und Osten, Orten des Todes (der Westen, Ort der untergehenden Sonne, war synonym für das Totenreich). Die Seele hatte zunächst eine heikle, ständig von Dämonen und anderen Gefahren bedrohte Reise durch die Unterwelt zu bestehen, eine in vielen anderen Religionen bis hin zum Hinduismus und Buddhismus verbreitete Vorstellung.
Das im Neuen Reich modifizierte Totengericht (auch Halle der Vollständigen Wahrheit), vor das jeder nichtkönigliche Verstorbene treten musste, erhielt erstmals kanonische Vorschriften und genaue Rahmenbedingungen. Konnte in der Vergangenheit der Verstorbene während des Totengerichts wegen jedweder Taten angeklagt werden, wusste nun jeder Altägypter im Voraus, welche „Anklagepunkte“ ihn erwarteten. Auf Grund der Kanonisierung konnte das Leben vor dem Tod an die Gesetze des Totengerichts angepasst werden. Das Totengericht bestand aus einem von Osiris geleiteten Tribunal aus 42 auch dämonisch aufgefassten Totenrichtern (Gaugötter), die darüber entschieden, welche Ba-Seelen in das Jenseits übertreten durften. Bei einem Scheitern drohte dem Verstorbenen der Aufenthalt in der Finsternis, die nicht von den lebensbringenden Strahlen der Nachtsonne erreicht werden konnte. Der Besitz des Totenbuches stellte dabei bereits einen magischen Schutz vor den 82 negativen Schuldbekenntnissen gemäß Kapitel 125 dar. Als direkter Vorläufer des Totenbuchspruches 125 diente das „Buch vom Tempel“, das ebenfalls ähnliche negative Schuldbekenntnisse für Priester enthält. Eine entscheidende Rolle bei der eigentlichen Prüfung kam der als Feder symbolisierten Göttin Ma'at zu.[51] Zudem fungierte ihr Gatte, der ibisköpfige Thot, Herr des Wissens, Schreibens und Berechnens sowie Schutzgott der Beamten, als Totengott und Helfer des den Vorsitz führenden Osiris während des Totengerichtes als Protokollant des Verfahrens. Waren Herz und Ma’at im Gleichgewicht, hatte der Tote die Prüfung bestanden und wurde von Horus vor den Thron des Osiris geführt, um dort sein Urteil entgegenzunehmen; war das Urteil aber negativ, wurde das Herz nach der Amarnazeit der Göttin Ammit zur Vernichtung anheimgegeben. Nicht die „Unschuld“ bestimmte das Urteil, sondern die Fähigkeit, sich von seinen Sünden loszulösen.
Jenseitsvorstellungen: Bestand man das Totengericht, konnte man durch die Unterwelt Ta-djeser in den lichten Ort Sechet-iaru weiterreisen. Hier erwartete einen die Fortsetzung des diesseitigen Lebens, wobei einem die Uschebti die Arbeit abnahmen. Im Totenreich, in dem man je nach Grabausstattung[52] mehr oder weniger sicher und angenehm lebte, gab es neben der Duat beziehungsweise Nenet (Gegenhimmel) die Vernichtungsstätte, wo die Gefressenen ihre Strafen erlitten und ihnen von unterweltlichen Schlangen in ihren Gruben der endgültige Tod zugefügt wurde. Diesem Vorgang entspricht im Christentum die praktizierte Vorstellung der Hölle, die möglicherweise wie so manch anderes auch von hier in das Christentum eingedrungen ist, denn zumindest im vorexilischen Judentum gibt es einen derartigen Strafort ja nicht, nur eine allerdings öde Unterwelt (Scheol), die dann erst später in der hellenistischen Epoche durch einen Strafort Gehenna ergänzt wurde; ähnlich in Mesopotamien. Das Grab war als „Haus der Ewigkeit“ ihr Wohnort mit einer Scheintür nach Westen als Zugang zur Unterwelt. Das „Herausgehen am Tage“, das heißt, mit dem Sonnengott Re auf der Sonnenbarke über den Himmel zu fahren und mit ihm die gefährliche, von Apophis bedrohte Nachtfahrt zu bestehen, war der Lohn der in der Unterwelt verweilenden Ba-Seelen beziehungsweise Ahnengeister. Das Schicksal, das den Pharaonen vorbehalten blieb, war nach ihrem Tod der Aufstieg zu den göttlichen zirkumpolaren Sternen. Das Totengericht hatte bei den Ägyptern wie überhaupt die gesamte Fürsorge für das Jenseits große Bedeutung, da der Tote auf Speisung (Opfer) angewiesen war. Die Unterwelt, durch die jede Nacht auch die Sonnenbarke fuhr, wurde als unsicher begriffen, ein Ort, wo zahlreiche Gefahren drohten, oft in Gestalt von Tierdämonen.
Religionssoziologie: Dass das westliche Totenreich zum einen als Schreckensort verstanden wurde, zum anderen paradoxerweise jedoch auch durchaus positiv, liegt an der Vermischung chthonischer Vorstellungen eines Fruchtbarkeitskultes, in dessen Zentrum Osiris stand, mit den solaren eines alten, vom Weltengott Re bestimmten Sonnenkultes. Dabei treffen alte bäuerliche und alte nomadische Konzepte aufeinander, wie sie in der Mythologie durch den Kampf zwischen Osiris und Seth thematisiert sind und offenbar sehr alte prähistorische Bevölkerungskonflikte reflektieren, die mit der Aridisierung der Sahara im Verlaufe der Geschichte Nordafrikas und zu Beginn des altägyptischen Reiches zwischen 3500 und 2800 v. Chr. zusammenhängen und möglicherweise überhaupt erst der Auslöser für die Reichsbildung waren, da offenbar der Bevölkerungsdruck zu einer zunehmenden Versklavung der ins Niltal drängenden Nomaden führte.[53] Insgesamt sind die ägyptischen Totengerichts- und Jenseitsvorstellungen somit eine recht heterogene Mischung aus mehreren verschiedenen religiösen Traditionen, in deren Verlauf eine „verwischende Theologie“[54] etwa mit Antagonismen zwischen Re und Osiris auffällt, bei der auch Unvereinbares zusammengefügt wurde. Insgesamt überwogen im Jenseitsglauben der Ägypter magische Vorstellungen gegenüber religiös-sittlichen Ideen, und die Konzeption wurde nach S. A. Tokarew „offenbar von den Priestern im Interesse der herrschenden Klasse als Reaktion auf die wachsenden Klassengegensätze entwickelt“. Der marxistische Ethnologe und Religionswissenschaftler schreibt weiter: „Die Sklavenhalter und Priester waren darauf bedacht, die abergläubische Masse des geknechteten Volkes durch Androhung von Strafen im Jenseits einzuschüchtern und mit der Hoffnung auf Belohnung im Jenseits zu trösten. Für die Epoche des Mittleren Reiches, besonders für die Zeit der schweren sozialen Erschütterungen im 18. Jahrhundert v. Chr. … ist dies sehr bezeichnend. Sicherlich hat später die ägyptische Lehre vom Totengericht die Entwicklung ähnlicher Vorstellungen im Christentum in gewissem Maße beeinflusst.“[55] Ein eigentlicher Ahnenkult außerhalb des Toten- und Begräbniskultes bestand mit Ausnahme der verstorbenen Pharaonen im alten Ägypten kaum.[56]
Altorientalische Hochkulturen
Die altorientalischen Vorstellungen von Gerechtigkeit reichen schon bis ins Jenseits, wie der in Ägypten um 2400 während der 5. Dynastie entstandene Osiriskult mit seiner Vorstellung von einem Totengericht zeigt.[57] Darin wird bereits eine individuelle „Schuld“ nach dem Tode abgerechnet, wobei diese „Schuld“ praktischerweise auf der Nichteinhaltung von effektiv diesseitigen Regeln beruht, die die jeweiligen Machthaber im Dienste ihres Machterhaltes erlassen haben und die den Druck zu ihrer Einhaltung mit der Drohung einer Strafe jenseits des Todes verstärken. (In den abrahamitischen Religionen heißt das Sünde, der Strafort im Christentum heißt Fegefeuer und Hölle.) Das Prinzip (bei den Griechen gibt es dagegen vor allem bei den Pythagoräern Vorstellungen einer Seelenwanderung) gilt für die anderen Erlösungsreligionen und die den mittelmeerischen Mysterienkulten angehörenden Glaubensvorstellungen ebenso. Seine Durchsetzung wird durch eine nun meist bestehende gottähnliche Stellung des Herrschers und eine entsprechend eingestellte Priesterkaste stark gefördert, welche die geltende Weltinterpretation in den jeweiligen, nun durch die Herrschaft über die Nahrungsmittelproduktion definierten Sozialverhältnissen für den Einzelnen jetzt nicht mehr zur Disposition stellte.[58] Der urtümliche, später auch in den frühen afrikanischen Königreichen geübte Brauch (in Ägypten war das Sedfest möglicherweise ein Überbleibsel), sich jedes Jahr einen neuen König zu wählen und den alten rituell zu opfern, um so gar nicht erst eine Herrschaftskonstanz entstehen zu lassen, wurde dabei recht bald durch allerlei Tricks ad absurdum geführt.[59] Man ernannte etwa bei den Hethitern oder in Mesopotamien für diesen Termin einen „König für einen Tag“ oder Ersatzkönig.[60]
Mesopotamien
Eine Keilschrifttafel des Gilgamesch-Epos, der Hauptquelle für die mesopotamischen Totengerichts- und Jenseitsvorstellungen, hier mit dem Text der Noah- und Sintflutsage
Während die Totengerichts- und Jenseitsvorstellungen des Alten Ägypten eher hoffnungsfroh konzipiert sind, sogar mit der Möglichkeit, die Götter magisch zu täuschen, stellen sich die einschlägigen mesopotamischen Konzepte eher als ein in ihrer Grimmigkeit absolut hoffnungsloses Gegenbild dar, das dann auch auf die alten kanaanäisch-jüdischen Vorstellungen der Scheol abgefärbt hat.[61]
Die Grundzüge der Jenseitsvorstellungen in der Religion Mesopotamiens waren extrem pessimistisch, die Totenverehrung von der Furcht vor den Toten und vor dem Grausen über ihr elendes Schicksal in der durch sieben schreckliche Tore zu betretenden Unterwelt Kurnugia geprägt, ein Schicksal, das Gute wie Böse gleichermaßen traf, soweit diese Kriterien hier überhaupt vorkommen. Die Furcht vor dem Tod und die Suche nach Unsterblichkeit ist hier erstmals in der Weltliteratur geschildert (Gilgamesch-Epos[62]). Grundlage war die Vorstellung, der Mensch sei den Göttern völlig untergeordnet und stehe ihnen zu Diensten. Mit Hilfe von Vorschriften und Beschlüssen (den Me-Prinzipien, die dem alten Ma'at-Konzept der Ägypter ähneln) bestimmten die Götter das Schicksal jedes einzelnen Menschen und legten es auf göttlichen Schicksalstafeln nieder. Aufgabe der Menschen war es dann, diese Beschlüsse in absoluter Unterwerfung auszuführen. Das Leben erstreckte sich linear und war mit dem Tod zu Ende, der den Menschen als Schattenexistenz in die Unterwelt entließ, die von der Göttin Ereškigal, später zusammen mit Nergal, beherrscht wurde.[63] Entsprechend gestalteten sich schon die diesseitigen Riten mit ihrer Betonung der Reinigungszeremonien zur Entsühnung.
Eigentliches Totengericht und Unterwelt: Jeder, der über den Unterweltsfluss Ḫubur in das Totenreich gelangte, musste sich einem Totengericht unterwerfen. Das Verfahren ist im Gilgamesch-Epos (Sintflutsage) fragmentarisch beschrieben. Heroen wie Gilgamesch traten dabei als bleiche Totenrichter auf, von denen es sieben gab, meist verstorbene und dann wie Gilgamesch deifizierte Großkönige.[64] Es gibt hier im Gegensatz zu ägyptischen Vorstellungen aber kaum Belohnung oder Bestrafung im Jenseits, also auch keine persönliche Verantwortlichkeit und kein Vergeltungsprinzip,[65] denn das Schicksal war ja von den Göttern vorherbestimmt; nur gefallene Krieger wurden besser behandelt, desgleichen die von den Lebenden durch Totenopfer in ihrer Grabstätte (Kianag) gut Versorgten, auch Väter mehrerer Söhne hatten es besser, wie Enkidus Bericht aus dem Totenreich ausweist.[66] Generell liegt jedoch dasselbe dunkle Schicksal über jedem Toten: er frisst Dreck, friert, hungert, dürstet und ist wie ein Vogel gefiedert, und wenn er Glück hat, kann er fliehen und im Diesseits entsprechend der ausgeprägten Dämonenfurcht der Mesopotamier als böser Dämon die Lebenden erschrecken (so auch in den altarabischen Religionen und von da im Islam, z. B. die Dschinn, aber auch noch im Christentum, etwa in den Halloween-Bräuchen). Totenrituale und Totenopfer hatten hier vor allem den Sinn, dieses Schicksal der Toten zu mildern, sie etwa durch Trankopfer wenigstens mit reinem Wasser zu versorgen.
Die von Leonard Woolley entdeckten sumerischen Königsgräber von Ur (um 2700 v. Chr.) allerdings zeigen noch eine sehr alte und archaische Schicht mit Bräuchen, die von massiven Menschenopfern zeugen, welche während einer Bestattung vollzogen wurden, wie man sie so nur noch in Kiš gefunden hat.[67] Ob dies bedeutet, dass der tote Herrscher glaubte, Frauen, Helfer und Ausstattung ins Jenseits mitnehmen zu können, ist unklar, doch finden sich auch in anderen frühen Kulturen ähnliche Beispiele, die als Zeichen einer Vergöttlichung gewertet werden, die dem König jeweils die Unterwelt ersparte und wie sie auch den Pharaonen zustand, die allerdings längst das in Ägypten noch in der 1. Dynastie praktizierte Menschenopfer aufgegeben hatten und sich im Grab mit Uschebtis begnügten.[68]
Parallelen und Bezüge: Die jüdische Religion hat, soweit es sich nicht ohnehin um Relikte der Patriarchenzeit (der biblische Abraham war aus dem südmesopotamischen Ur zugewandert) handelt, diese mesopotamischen Vorstellungen vor allem während der Exilzeit dann wohl für ihre eigene Hölle Gehenna (Gehinnom) übernommen, und sie entspricht in etwa auch dem Hades, der ja ebenfalls ein Höllen-Pendant, den Tartaros, hat. Auch zwischen Gilgamesch-Epos, Osiris-Mythos und Orpheus-Mythos gibt es interessante Parallelen, die darauf hindeuten, dass es sich hier um sehr alte mediterrane Mythenstränge handelt, die miteinander verwoben sind und deren altorientalische Traditionen bis in die Antike nachwirkten.[69] Es existiert dazu überdies wie in Ägypten ein (Fruchtbarkeits-)Mythos, hier vom Höllengang der Göttin Inanni bzw. in einer anderen Fassung Ischtar, die beim Durchschreiten jedes Tores eine ihrer göttlichen Fähigkeiten einbüßt und nach dem siebten nackt und ohne Macht wie ein Mensch vor der Unterweltsgöttin Ereschkigal, der Unterweltsmanifestation der Ischtar, steht, deren Todesblick sie nun ausgeliefert ist und dem sie nur durch einen vorausschauenden Trick entkommen kann.
Weitere Entwicklung: Ob der Tod eher als etwas Angenehmes oder Düsteres vorgestellt wird, hat massive Auswirkungen auf die Gegenwart und die Ethik der Lebenden. Entsprechend hat diese Furcht später dann auch zu einem gewissen Zweifel am Sinn des Ganzen geführt, und man wollte sich nicht so ohne weiteres dem unerforschlichen Ratschluss der Götter unterwerfen, ohne dabei auch nur die geringste Gerechtigkeit einfordern zu können, so dass es gelegentlich zu einem sehr diesseitigen Hedonismus kam oder aber im Gegenteil zu einer völligen Negierung des Diesseitigen.[70] Ein Ahnenkult als solcher war zwar vorhanden, jedoch vor allem in Gestalt eines Opfer- und Begräbniskultes beim Adel und bei deifizierten Herrschern. Ansonsten fürchtete man sich eher vor den Totengeistern.[56]
Die Elamiter, die östlich des Tigris im heutigen Westiran ab 3000 v. Chr. ein Reich errichteten, hatten etwas abweichende Vorstellungen. Ihr Jenseitsglaube war stark anthropomorph strukturiert; man fand viele Grabbeigaben, die auf eine Fürsorge für das Jenseits schließen lassen. Ein ausgeprägter Fruchtbarkeitskult scheint dabei ebenfalls eine Rolle gespielt zu haben. Der Totengott Inschuschinak (sumer. Herr von Susa) bildete zusammen mit den Göttern Humban und Chutran eine oberste Dreiheit. Die Toten wurden von dem hier als Psychopomp fungierenden Götterpaar Ischnikorat und Legamel in einem Zwischenreich in Empfang genommen und vor den Totengott geführt, der sie richtete.[71]
Altiranische Religion und Zoroastrismus
Darstellung einer Gestalt, von der man annimmt, es könne sich um Zarathustra handeln. Arkosolium (Wandgrab unter einer Bogennische) am Mithraeum von Dura-Europos, Syrien, 3. Jh. v. Chr. Die Gestalt war ursprünglich in Rot ausgeführt.
Der Zoroastrismus,[72] der hier, obwohl es vor allem in Indien noch Reste davon gibt (Parsismus), unter den historischen Religionen besprochen wird, stellt im Vergleich zur altägyptischen Religion mit ihren von magischen Vorstellungen bestimmten Jenseitshoffnungen und im Vergleich zu den Jenseitsvorstellungen der Mesopotamier mit ihrer Erbarmungs- und Hoffnungslosigkeit einen dritten Grundtypus dar, in dem die Selbstverantwortung des Menschen im Rahmen eines sich in ethischen Qualitäten äußernden kosmischen Dualismus die Hauptrolle spielt.[73]
Wie in anderen Religionen auch, vor allem wenn sie über lange Zeiträume lebendig waren, variieren die Jenseitsvorstellungen in der zeitlichen Abfolge stark. Im frühesten Teil des Avesta, den Gathas, wird keine physische Wiederauferstehung erwähnt, obwohl die Vorstellung von einem Totengericht dort bereits vorhanden ist. Erst in den jüngeren Teilen des Avesta, die etwa um 200 n. Chr. entstanden sind, ist von Himmel und Hölle als physischen Orten die Rede. Dieses Konzept bildete sich noch stärker heraus, als das Judentum, das Christentum und der Islam aufkamen und vom Zoroastrismus beeinflusst wurden.
Über die altiranische Religion vor Zarathustra ist allerdings wegen zahlreicher machtpolitischer und religiöser Überlagerungen relativ wenig bekannt. Da dieser jedoch von den altiranischen Religionsformen ausging, nimmt man an, dass Ähnlichkeiten zu dem von ihm dann entworfenen Religionskonzept bestanden haben müssen. Ausgeprägte kulturelle und religiöse Details oder gar eine Einheitlichkeit der Kultur und Religion im iranischen Hochland dieser Periode, in der sich zudem zahlreiche verschiedene Völker drängelten, lassen sich aus den wenigen Funden aber nicht ableiten. Dies wird erst mit Kyros II. in der Achämenidenzeit anders. Damals war der Glaube an Ahura Mazda als höchstes Wesen weit verbreitet, den auch Zarathustra ebenso wie den alten Feuerkult übernahm und zum Monotheismus einer Offenbarungsreligion weiterentwickelte. Auffallend ist die Ähnlichkeit (Feuerkult, Ahnenkult, heiliger Trank, heilige Tiere, Gott Mitra, böse Geister etc.) zur vedischen Religion.
Im möglicherweise vor etwa 3500 Jahren in der Kultur des Bronzezeitalters der asiatischen Steppe entstandenen Zoroastrismus[74] (auch Parsismus und Mazdaismus) wird der Gut-Böse-Dualismus, personifiziert durch Ahura Mazda und Ahriman, erstmals in der Geschichte der Religionen auf die Spitze getrieben und steht im Zentrum der Vorstellungen. Ein Dualismus von Körper und Geist wird dabei allerdings strikt abgelehnt, vielmehr ist das Böse durch Ahrimans Eingriff, welcher die ursprüngliche Harmonie zerstörte, entstanden. Gut und Böse sind demnach primär kosmische, nicht ethische Konzepte, die sich nur sekundär in ethischen Phänomenen äußern als Zeichen der gestörten Harmonie (ganz ähnliche Grundvorstellungen gibt es dann in den östlichen Religionen Hinduismus, Buddhismus und Daoismus). Entsprechend kennt der Zoroastrismus auch keinen eigentlichen und kataklysmischen Weltuntergang, sondern eine Erneuerung der ursprünglichen Harmonie. Dieser Dualismus bestimmt auch als zentrales Element die Vorstellungen vom Jenseits und vom Totengericht. Gerechtigkeit ist hier absolut menschlich, da der Zoroastrismus dem Menschen erstmals einen freien Willen zubilligt. Prädestination, Magie, Protektion etc. fehlen hingegen in Zarathustras Grundkonzept völlig, sind aber wie in anderen Religionen und bis heute als Restbestände älterer Vorstellungen erhalten geblieben.
Totengericht und Jenseits: Die iranischen Konzepte, wie sie vor allem in den Gathas beschrieben sind, ähneln stark den indisch-vedischen der Upanischaden. Der körperliche Tod steht mit den Mächten des Bösen in Verbindung, daher verunreinigte sich jeder, der einen Leichnam berührt, der daher in den Türmen des Schweigens vermoderte. Die Knochen wurden dann eingesammelt, um im Grab das letzte Gericht zu erwarten, eine alte Vorstellung von der Knochenseele, wie man sie etwa auch bei manchen nordamerikanischen Indianern findet (siehe dort). Auch das heilige und reine Feuer durfte damit nicht in Berührung kommen. Die Seele wird dabei als geistiges Prinzip gedacht, das des Körpers nicht bedarf. Himmel und Hölle sind im Jenseits Orte, die jeweils als Ergebnis von Gedanken, Worten und Taten zugemessen werden. Es gibt somit eine Rechenschaftspflicht des Menschen gegenüber Ahura Mazda (auch: Ohrmuzd), und damit wird auch ein Totengericht notwendig, wo zunächst nach dem Tod in einem ersten Richterspruch auf einer Waage der Gerechtigkeit individuell Strafen entsprechend dem Verhalten im Leben ausgesprochen werden (vgl. Islam), so dass auch diesseitige Moralprinzipien wie Gerechtigkeit wieder größere Bedeutung erlangen, vor allem die Hauptpflicht des Gläubigen: die Förderung der guten Schöpfung, wobei der die geistige und körperliche Welt verbindende Harmoniegedanke eine bedeutende Rolle spielt. Wenn die guten Gedanken, Taten und Worte des Menschen die bösen übertreffen, nimmt an der Brücke der Auslese (Činvat-Brücke) eine schöne Jungfrau seine Seele in Empfang und führt sie darüber (vgl. Huris im Islam). Dort erwartet ihn Amescha Spenta, die Gute Gesinnung, und führt ihn in den Himmel. Andernfalls begegnet er einer Hexe als Personifizierung seines Gewissens und stürzt von der nun messerscharf schmalen Brücke in die von Angra Mainyu (= Ahriman) beherrschte Hölle (das entspricht altägyptischen Vorstellungen). Auch einen nicht näher bezeichneten dritten Ort gibt es für die Seelen, bei denen sich Gut und Böse die Waage halten. Die Höllenstrafen entsprechen dabei der Schwere der Vergehen, denn das Ziel ist, den Menschen zu erziehen. Die größte Tugend des Menschen besteht dabei in der sorgfältigen Bestellung des Bodens, er soll Verträge halten, rechtschaffen sein und gute Werke tun; die schwersten Verstöße sind die gegen die rituelle Reinheit, die den Menschen zum ewigen Tod verdammen: Verbrennen einer Leiche, Essen einer Leiche, widernatürliche Sexualität (Sodomie).
In späterer Zeit fand das Gericht dann jenseits der Brücke statt, erst durch einen Richter, später durch ein Dreierkollegium, dem Mithras vorsaß, der später im Zentrum der Mysterien des Mithra stand und als Vertragsgott Mitra auch in der vedischen Religion eine bedeutsame Rolle spielte, ebenso wie Varuna, Gott der Wahrheit. Wesentlich war neben dem Lebenswandel dabei vor allem, ob der Tote die rechten oder die falschen Götter angebetet hatte.
Nach einem bestimmten Zeitpunkt werden die Toten aus Himmel und Hölle zurückgeschickt, um sich einem zweiten Gerichtsspruch anlässlich der Auferstehung der Welt am Ende der zoroastrischen kosmischen Zyklen von 12.000 Jahren zu unterziehen. Entscheidend dabei ist, ob der Mensch mit beiden Aspekten des Seins in Harmonie gelebt hat. Der Mensch muss sich deshalb zwei Urteilssprüchen stellen, weil es zwei Aspekte des Seins gibt: menok und geti, die geistige und die materielle Gestalt der Welt. Die zukünftige Wiederauferstehung des Fleisches und das Jüngste Gericht – beides Vorstellungen, die wie Himmel und Hölle etc. das Christentum und später der Islam wohl auch vom Zoroastrismus bezogen haben –, auf die das ewige Leben für Leib und Seele folgen, sind entsprechend das endgültige „Wiedergutmachen“ von Ohrmuzds „guter Schöpfung“, die Entfernung des Bösen aus ihr und die Vereinigung mit ihm. Eine ewige Hölle gilt allerdings als unmoralisch, und somit werden alle Menschen früher oder später nach Abbüßung ihrer Höllenstrafen (vgl. das Fegefeuer des Katholizismus, Dantes „Läuterungsberg“: Purgatorio, also eigentlich Ort der Reinigung) unsterblich werden, nachdem sie sich anlässlich der Wiederauferstehung der Welt dem zweiten Richterspruch unterzogen haben, bei dem allerdings dann doch die Sünder zusammen mit Ahriman aus der Welt entfernt, also vernichtet werden, so dass man hier durchaus nach S. A. Tokarew davon sprechen kann, die Jenseitsvorstellungen des Zoroastrismus seien im Grunde „durchdrungen von der moralischen Idee der Vergeltung“.[75]
Religionssoziologie:[76] Der Ursprung dieses strikten, bis weit über den Tod hinausreichenden Dualismus der Avesta wird inzwischen in der Feindschaft zwischen den sesshaften Bauern und den nomadisierenden Viehhirten der Indoarier gesehen, der sich ja auch in der Geschichte von Kain und Abel wiederfindet und durchaus auch in Kämpfen zwischen den iranischen Ahura-Anbetern und den indischen Daeva-Anbetern zum Ausdruck kam.[77] Auch die sorgfältige Bodenbestellung als Haupttugend weist in diese Richtung, ebenso die Pflicht zur Einhaltung von Verträgen usw., zumal die anderen Tugendpflichten relativ verschwommen gestaltet sind (gute Werke, Rechtschaffenheit, nicht lügen usw.). Seine endgültige Form nahm der Zoroastrismus erst mit Beginn der Achämenidenzeit ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert nach der machtpolitischen Ablösung der Meder an, wo er vor allem unter den Sassaniden zu einem zentralistischen Priesterkult wurde. Nach S. A. Tokarew reflektiert die Entwicklung des Zoroastrismus die Entwicklung der iranischen Staaten mit der Zuspitzung von Klassengegensätzen.[78] Ein Ahnenkult als Totenkult war vorhanden vor allem, um die Totengeister zu besänftigen, von denen man glaubte, sie hätten Macht über die Angelegenheiten der Lebenden.[56]
Der spätere, aus dem Zoroastrismus hervorgegangene Gnostizismus und der Manichäismus haben dann erheblichen Einfluss auf das Christentum ausgeübt. Später finden sich die dualistischen Grundgedanken im Christentum vor allem bei den Sekten der Paulikianer (7. Jh.), der Bogomilen (10. Jh.), der Katharer und Albigenser wieder (12./13. Jh.).
Alte vorderorientalische Religionen
Es sind dies die in Kleinasien und Palästina, also im mediterranen Osten, praktizierten Religionen, die einige Gemeinsamkeiten zeigen, vor allem dualistische Fruchtbarkeitskulte (Baal gegen Mot), und teilweise auch stark synkretistisch geprägt sind, zumal sie auch Elemente aus Mesopotamien enthalten. Vor allem Palästina war durch Stadtstaatkulte geprägt, da sich hier aufgrund sich überlappender Einflusszonen aus Ägypten, Mesopotamien, dem Iran und Kleinasien nur selten und kurz größere selbständige Flächenstaaten bilden konnten.
Weiter geht es in Teil 2
Andy- Admin
- Anzahl der Beiträge : 36197
Anmeldedatum : 03.04.11
Teil 2
Syrien und Palästina
Das Hinnomtal südwestlich von Jerusalem als Fortsetzung des Kidrontals. Hier befand sich in alttestamentlicher Zeit eine Kultstätte des Gottes Moloch, wo ihm Kinder als Brandopfer dargebracht wurden. Jeremia nannte es daher „Würgetal“ (Jer. 7,31 f.). Der Name der hebräischen Strafhölle Ge-(Ben-)Henna (zu Ge-Hinnom) ist von diesem Ort abgeleitet, ebenso die Verbindung zum strafenden Feuer der Hölle.[79]
Die frühe syro-kanaanäische Religion, zu deren Abkömmlingen im Prinzip auch die weiter unten ausführlicher dargestellte jüdische gehört, ist vor allem von Vegetationsmythen bestimmt, zeigt in ihren historischen Entwicklungen jedoch wegen der sich zahlreich überkreuzenden Kulturen besonders bewegte Abläufe.[80]
Neolithikum: Zumindest in der neolithischen Phase gab es offenbar, soweit archäologisch erschließbar, keinen eigentlichen Ahnen- und Totenkult, vielmehr bestand wohl eine vegetativ-polare Vorstellung, bei der der unteren, irdischen Welt eine obere, himmlische entsprach und bei der die Erde weiblich, der Himmel männlich vorgestellt wurde (oft als Stier personifiziert) und beide Urmächte alles Lebendige miteinander gezeugt hatten. Beim Tod wurde dann die Asche der Erde zurückgegeben als ihr Anteil, der Himmel erhielt den seinigen, also Seele oder Geist. Die tief im Erdinneren angelegten Totenverbrennungsstätten deuten jedenfalls in diese Richtung. Ein irgend geartetes Jenseits mit Totengericht war somit überflüssig.
Spätneolithisch findet sich in Palästina-Syrien dann ein Megalithkult mit Menhiren (sogenannten Mazzeben), die besonders den Toten gewidmet waren, von denen man glaubte, sie wohnten in ihnen und schickten gelegentlich, wenn man dort schlief, Offenbarungsträume. Die Bedeutung ist nicht klar. Es scheint aber eine Furcht vor Totengeistern gegeben zu haben, eventuell in Verbindung mit einem Ahnen- oder Totenkult, denn man spendete den Toten nun Speise- und Trankopfer. Als dieses „Volk der Totengeister“, so nannten die späteren Völker sie, verschwunden war, übernahmen die Kanaaniter (eigentlich ein Sammelbegriff für die hier lebenden Ethnien), Aramäer und Israeliten die heiligen Orte und deuteten sie für ihre Zwecke um, übernahmen überdies die Sitte der Träume, wie vielfach in der Bibel belegt, z. B. bei Jakob in Bethel, dem Haus des Himmelsgottes El der Kanaaniter, den später auch die Israeliten als Titulatur Jahwes verwendeten. Tatsächlich findet sich diese Tradition bis heute beim Wahrträume bringenden Gräberschlaf der Tuareg.[81] Aus der alten Kultstätte des Gottes Moloch im Hinnomtal südlich von Jerusalem wurde dann später im Judentum Gehenna, die Hölle, als Strafort.[82]
Die betreffenden semitischen Völker waren möglicherweise aus der Arabischen Halbinsel, dem Sinai und/oder Mesopotamien sowie der syrischen Wüste im 3. und 2. vorchristlichen Jahrtausend zugewandert, vermutlich ebenfalls aufgrund der fortschreitenden Aridisierung Nordafrikas, die schon die Niltalkultur in Ägypten mit ausgelöst hatte.[83] Ihre Religionen weisen mit ihren Geistern und Göttern teilweise Ähnlichkeiten mit den altarabischen auf, wie sie noch Mohammed Ende des 6. nachchristlichen Jahrhunderts vorfand und bekämpfte (vgl. z. B. Satanische Verse) bzw. Elemente wie den Megalithkult der Ka'aba[84] oder den Geisterglauben daraus übernahm und die wiederum zahlreiche Traditionen aus Mesopotamien bezogen.[85]
Außer den Juden der Frühzeit im zweiten vorchristlichen Jahrtausend und bis zur Zeit der Reformen des Hiskia, vor allem aber des Josia, hatten hier aber auch die Ugariter und Phönizier ihre religiösen Wurzeln im Kult um den Himmelsgott El und Baal, um Aschera sowie um diverse palästinensische Stadt- und Unterweltsgötter wie Melkart bzw. dem ugaritischen Mot und dem palästinensischen und phönizischen Choron. Mit dem Adoniskult gab es zudem einen Vegetationsgott im Rahmen des gemeinmediterranen Mythos vom „Sterbenden Gott“ (Adonai = Herr ist noch eine Anrufungsform Jahwes im Judentum). Die Riten wurden von einer mächtigen Priesterschaft und einem sakralen Königtum getragen, waren magisch, ja orgiastisch bestimmt und imponierten häufig als Mysterienkult. Ähnlichkeiten zu Ägypten, Mesopotamien wie Griechenland fallen auf. Die Religion der Philister enthält zwar einige altägäische und ägyptische Elemente, ist ansonsten aber identisch mit der der übrigen palästinensischen Völker.[86]
Die Unterweltsvorstellungen sind generell eher diffus, gelegentlich von polaren Götterkampfmythen bestimmt (Mot verschlingt Baal). Ein Totengericht gab es wie im frühen und mittleren Judentum offenbar nicht, oder es ist nicht nachweisbar und aufgrund der vegetationsmythischen Struktur dieser Religionen auch nicht sehr wahrscheinlich. Ähnliches gilt für andere bronzezeitliche semitische Stämme der Region wie die Moabiter (Gott Kemasch), Ammoniter, die Moloch anbeteten, die Edomiter, Amoriter, Nabatäer (Petra) und andere meist ursprünglich nomadische Völker, die in Konkurrenz zu Israel mitunter kleinere Nationalstaaten ausbildeten, die später teilweise von Israel oder den umliegenden Großmächten absorbiert wurden.
Hethiter, Urartu
Die lediglich als Staatskult überlieferte Religion der Hethiter übernahm aus Anatolien sowie von vielen benachbarten Völkern Vorstellungen, Mythen und Götter, vor allem die sehr archaischen Mythen Anatoliens.[87] Für die als göttlich betrachteten Könige gab es umfangreiche Totenrituale, aber auch der einfache Tote ging endgültig in die jenseitige Welt. Vor allem für die Könige ist auch ein Ahnenkult mit Opfern bezeugt. Ein Totengericht gab es jedoch offenbar nicht. Ähnliches gilt für die noch schlechter bezeugten Nachfolgestaaten nach dem Zerfall des hethitischen Imperiums. Die Situation von Troja in diesem Zusammenhang ist bis heute heftig umstritten. Es scheint jedoch trotz seiner neuerdings belegten luwischen Zusammenhänge religiös vorwiegend zumindest in der entwickelten Phase griechisch geprägt gewesen zu sein, wenn man den Epen Homers folgt.
Die Religion von Urartu (Chaldäer) ist ähnlich wie in Mesopotamien durch den Rechtsanspruch der Götter gegenüber den Menschen geprägt.[88] Über die Jenseitsvorstellungen ist so gut wie nichts überliefert, auch Bestattungen wurden außer einem Fürstengrab keine gefunden. Aus den einzelnen Kammern schließt man, dass sie wohl als Wohnort des Verstorbenen gedacht waren. Es gab einen ausgeprägten Opferkult. Über ein Totengericht ist nichts bekannt.[89] Gleiches gilt für die Phrygier, über deren Religion kaum etwas bekannt ist, außer dass in ihrem Mittelpunkt eine Muttergottheit, Cybele, stand.
Phönizier
Die Religion der Phönizier[90] steht der frühen kanaanäischen Religion sehr nahe; wichtigste Götter waren Baal, Melkart und der höchste Gott El sowie Astarte (Aschera) und der Todesgott Mot. Zentral ist ein Fruchtbarkeitskult mit dem Mythos des sterbenden Gottes (Baal und Adonis), wie er dann später unter anderem für das Christentum wesentlich wurde. In den einzelnen phönizischen Städten variierten die kultischen Vorstellungen allerdings stark, und sie waren vor allem von spezifischen Stadtgöttern geprägt. Die phönizische Religion breitete sich später im ganzen Mittelmeerraum aus und glich sich dabei häufig lokalen Kulten an, zumal die Phönizier mit Ausnahme von Karthago keine Flächenstaaten ausbildeten. Über das phönizische Jenseits und die damit zusammenhängenden Vorstellungen wissen wir, abgesehen von seiner Bedeutung als vegetationsmythischem Ort, wenig; von einem Totengericht ist nichts bekannt.
Religionen der antiken Klassik
Persephone beaufsichtigt Sisyphos mit seinem Stein in der Unterwelt; Seite A einer schwarzfigurigen attischen Amphore aus Vulci, um 530 v. Chr.
Im Zentrum der alten Religionen des Mittelmeerraumes standen vor allem bestimmte formale Verhaltensweisen, die die komplexen Beziehungen zwischen Göttern und Menschen sowie deren Ahnen, sogar des Kosmos insgesamt ausdrücken sollten. In diesem Beziehungsgeflecht hatte jeder seinen Platz zu suchen und auszufüllen. Der Wille der Götter wurde durch Orakel, Astrologie und Wahrsagerei erforscht.[91] Vorstellungen von einem Totengericht sind daher bei Griechen, Etruskern und Römern − wenn überhaupt vorhanden − eher schwach ausgeprägt und orientieren sich vor allem an Äußerlichkeiten und der Einhaltung der Totenriten und weniger an ethischen Normen. Alle drei Religionen weisen nicht zuletzt wegen ihrer indoeuropäischen Herkunft und der ihren Gesellschaften zugrunde liegenden dreigeteilten Sozialstruktur aus Priestern, Kriegern und Bauern/Handwerkern, starke Parallelen und Abhängigkeiten auf,[92] so dass sie hier im Zusammenhang erklärt werden.
Vor allem der Begräbniskult war bei Etruskern und Römern stark ausgeprägt, doch eher als Symptom einer Führungsschicht, bei der ein großer Aufwand in diesem Punkte auch als Statussymbol galt. Zudem finden sich bei beiden starke Rest eines manischen Ahnenkultes als möglicherweise altitalisches Erbe. Da ein derartiger Ahnenkult jedoch gewöhnlich Totengerichtsvorstellungen ausschließt oder nur in reduzierter Spätform bzw. Überschichtung beinhaltet, wie andere Religionen, vor allem die ethnischen Afrikas, Asiens (insbesondere Chinas und Japans) und Amerikas zeigen, sind diese, so vorhanden wohl als griechische Übernahmen zu verstehen.[93] Insgesamt war der Ahnenkult bei den Griechen als Totenkult eher schwach ausgeprägt und galt vor allem der Verehrung von Heroen und politischen Führern, dazu auch den Geistern der Familienahnen. Bei den Römern hingegen stand der familiäre Ahnenkult im Zentrum der Religion. Der Einfluss der Manen auf das Alltagsleben wurde als sehr hoch erachtet.[56]
Griechen
Pelike. Hades/Pluton mit einem Füllhorn und seine Schwester Demeter mit Zepter und Pflug. Orestes-Maler, 440–430 v. Chr. Archäol. Nationalmuseum, Athen. Der Ursprung des Unterweltsgottes als Fruchtbarkeitsgott ist hier noch sichtbar.
Der Jenseitsglaube der Griechen jener Zeit ist eher heterogen und hat sich im Laufe der Jahrhunderte auch stark gewandelt bis hin zum Seelenwanderungsglauben der Pythagoräer.[94] Man glaubte nach Hesiod und Pindar sowie bei Homer und Platon (z. B. in Der Staat, Buch 10) zunächst an eine Art Insel der Seligen, Elysion, wo außer den Götterverwandten und Heroen der, der sich in drei Reinkarnationen auf der Erde bewährt hatte, hin durfte; nur wenige wie Herakles, Perseus, Andromeda, Cassiopeia oder die Dioskuren wurden direkt auf den Olymp oder zu den Sternen versetzt. Vor allem die Pythagoräer nahmen dann diese Vorstellung der Seelenwanderung auf. Die spätere Vorstellung eines Strafortes Tartaros, in der die gestürzten Titanen und andere Übeltäter oder ehemalige göttliche Machtkonkurrenten leiden, die sich gegen den göttlichen Willen vergangen hatten (Hybris), eine etwas mildere, aber öde Unterwelt Hades sowie ein paradiesischer Ort, das Elysion, repräsentieren die alte kosmologische Dreiteilung.
Die Hades genannte Unterwelt ist Gott und Ort in einem (wie ursprünglich auch Hel in der nordischen Mythologie). Dort hausen die schwächlichen Totenschatten, die man durch Speise- und Trankopfer ständig stärken muss, damit sie überhaupt sprechen können. Die Toten werden von Hermes bis zum Unterweltsfluss Styx geführt, den sie mit Hilfe des Fährmannes Charon überqueren, der dafür auch noch zu bezahlen ist (man legte den Verstorbenen daher eine Münze zu diesem Zweck in den Mund, den sogenannten Obolus). Dort treten sie durch das vom Höllenhund Kerberos bewachte Unterweltstor. Der Höllenhund Garmr der nordischen Mythologie ähnelt ihm stark und ist möglicherweise auch sprachlich (kerbr → garmr) eine Übernahme aus der griechischen Mythologie.[95] Damit sie von ihm nicht gefressen werden, gibt man ihnen Honigkuchen mit.[96]
Der Hades, dieser öde und endlose Ort ohne Wiederkehr, ähnelt stark mesopotamischen und jüdischen Vorstellungen. Es ist schon aus diesem Grunde kein Wunder, dass sich die Göttervorstellungen der Griechen schnell verweltlichten und nach und nach nicht mehr allzu ernst genommen wurden, etwa bei Xenophanes. An die Stelle solch religiöser Vorstellungen traten etwa bei Platon dann philosophische, in denen der Begriff der Tugend (Areté) an Bedeutung gewann und derart dem Menschen ein selbstbestimmtes Mittel in die Hand gab, solche dunklen Vorstellungen zu überwinden. Die Orphik wiederum, in deren Zentrum die Lehre vom Schicksal der Toten stand, versuchte durch mystische Zeremonien den Gläubigen ein seliges Leben im Jenseits zu sichern.
Es existiert hier nun ein eindeutiges Totengericht. In seinem Richteramte stehen dem als Unterweltsgott unerbittlich strengen Hades nach späterer Überlieferung die drei Totenrichter Minos, Rhadamanthys und Aiakos freudlos auf der Asphodeloswiese zur Seite. Die Seelen der Gerechten werden in die von der Lethe, „dem Strom des Vergessens“, umflossenen, glückseligen Elysion-Gefilde gewiesen, die alte Insel der Seligen. Nach einem negativen Urteil mussten die Sünder hingegen lange Reinigungszeremonien durchmachen, bevor sie den Status eines Seligen erreichten und, nachdem sie ebenfalls aus Lethe, dem Fluss des Vergessens, getrunken hatten, nach Elysion gehen durften. Zuvor wurde ihnen jedoch gewährt, ihre zukünftige Inkarnation selbst zu wählen. Andere, die besonders schwer gesündigt hatten, blieben aber für immer verdammt.
Es gibt nun auch die Idee der Bestrafung von Frevlern, die den Zorn der Götter erregt haben; sie werden in den Abgrund des Tartaros, den schrecklichen Ort der Verbannung, gestoßen, wo sie auf mancherlei Weise für ihre Untaten zu büßen haben (Sisyphos, Tantalos, die Danaiden, Prometheus, Minos usw.). Außer den wenigen Vergöttlichten (siehe oben) bleibt der Hades aber keinem erspart.
Verbreitet war die Überzeugung, dass das Schicksal der Toten davon abhänge, ob die Lebenden an der Leiche die obligaten Zeremonien ausführten, weshalb diese in der griechischen Religion eine zentrale Stellung einnahmen. Die Seelen Unbestatteter fanden hingegen keine Ruhe. Totenopfer zur Speisung der Seelen wurden für sehr wichtig gehalten und gelten als Reste des uralten Fruchtbarkeitskultes.
Etrusker
→ Hauptartikel: Etruskische Religion
Die Struktur der von einem ausgeprägten Totenkult in Nekropolen geprägten etruskischen Religion[97] ist archaisch, von Vegetationsmythen und einem strengen Determinismus bestimmt, der Züge einer kosmologischen Prädestination trägt und als religionsphilosophisches System überaus komplex ist. Weiter sind Geister- und Dämonenglaube ausgebildet. Ob es ein eigentliches Totengericht gab, weiß man nicht. Auch einen eindeutig nach dem Muster des griechischen Unterweltsschiffers Charon gebildeter „Charun“ mit ähnlicher Funktion gab es, aber auch dies ist erst ab dem 4. vorchristlichen Jahrhundert bezeugt, in dem auch die Paarung Persephone/Hades (Phersipnai/Eita) in der etruskischen Überlieferung offenbar unter griechischem Einfluss auftaucht. Es gab Todesdämonen. Eine Vergöttlichung der Toten war möglich; sie konnte durch Opfer erreicht werden. Auch glaubte man offenbar, die Toten blieben in ihren Körpern und könnten so die Opfer, die man ihnen brachte, und die luxuriöse Grabausstattung direkt genießen. Ein Unterweltsglaube scheint daher im Gegensatz zum griechischen Hades zumindest in der Frühzeit vor der kulturellen griechischen Überlagerung nicht bestanden zu haben. Nach den Malereien und Plastiken in den Nekropolen zu urteilen, glaubte man also an eine freudvolle Nachexistenz, möglicherweise auch, um die Toten derart an der Rückkehr zu hindern. Ob diese allerdings lediglich für die Adelsschichten zugänglich war, wie etwa in Südamerika und anderen frühen Kulturen, und welche Jenseitsvorstellungen in der Volksreligion lebendig waren, ist bisher in Ermangelung aussagefähiger Schriftzeugnisse nicht überliefert.
Römer
Römische Manenstatue aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert. Diese in der Provinz Gallien (Dép. Nièvre, Frankreich, östl. von Paris) gefundene Begräbnisstele des zu den Manen gegangenen Apinosus Iclius zeigt das Weiterleben der alten Volksreligion abseits der Bevölkerungszentren.
Über die römischen Jenseitsvorstellungen der Frühzeit ist wenig bekannt; insgesamt blieben sie aber auch später eher vage. Götter waren ursprünglich gestaltlose, erst später personifizierte Naturgewalten bzw. Numen, wenn ihr Wirken gemeint war; das Schicksal Fatum war wie bei den Etruskern weitgehend vorgezeichnet. Insgesamt findet man also eher bäuerliche Vorstellungen. Götterbilder kamen erst unter etruskischem und griechischem Einfluss auf. Der Ahnenkult war ausgeprägt, und man glaubte an ein Weiterleben der Seele in einem irgend gearteten Paradies und an eine Art reziprokes Vertrauensverhältnis zwischen Göttern und Menschen. Die Geister der Toten, Larvae oder Lemuren, waren gefürchtet.[98] Später übernahmen die Römer weitgehend die religiösen Vorstellungen der Griechen und amalgamierten sie mit etruskischen und altitalischen Konzepten zu einem politisch effektiven Staatskult, wobei es vor allem in der Kaiserzeit zu einer starken Verweltlichung kam, indem etwa fast alle Kaiser nach ihrem Tod zum Gott erhoben wurden, zumal mit der Entstehung eines großstädtischen Proletariats mit Sklaven und Menschen aus aller Herren Ländern und einer allgemeinen sozialen Umschichtung orientalische Mysterienkulte immer stärker an Einfluss gewannen und die altrömischen Kultformen immer mehr schwanden, die noch Augustus zu erneuern versucht hatte. Unverkennbar ist dabei eine starke Erlösungssehnsucht, die die Menschen in den geistigen und politischen Wirren jener Zeit erfasste und die unter anderem auch dem Christentum den Boden bereitete.[99] Damit aber hielten auch völlig andere, weit präzisere Jenseitsvorstellungen Einzug inklusive dezidierter Totengerichtsvorstellungen, etwa griechische, ägyptische, persische und christlich-jüdische. In Vergils sechstem Gesang der Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts entstandenen Aeneis ist die Übernahme griechischer Jenseitsvorstellungen besonders gut bezeugt. In der römischen Mythologie wird Hades Pluto genannt (dem Namen nach – griech. plútos = Fülle, Reichtum – eigentlich ein alter chthonischer Fruchtbarkeitsgott) und später mit diesem gleichgesetzt. Der Hades als Ort wird in der römischen Mythologie zum Orcus. Diese Unterwelten wurden im Christentum allesamt zur Hölle als Ort ewiger Verdammnis und verschmolzen mit der Hel der germanischen Mythologie. Ein eigentlich römisches Totengericht abseits von griechischen Konzepten war aber in der ohnehin stark diesseitig orientierten römischen Kultur nicht ausgeprägt. Auch hier war jedoch die Einhaltung von Totenritualen sehr wichtig, um den Toten ein möglicherweise übles Schicksal zu ersparen.
In der Volksreligion vor allem der bäuerlichen Bevölkerung Italiens blieben jedoch archaisch-animistische Elemente lebendig mit Geisterfurcht und Angst vor der Wiederkehr Verstorbener. Gräber galten daher als sakrosankt, da man glaubte, sie würden von jenseitigen Mächten bewacht, und man glaubte ganz wie die Etrusker, eine komfortabel und prächtige Grablege würde die Toten von einer Rückkehr abhalten.[100]
Alteuropäische Religionen
Räumliche Verteilung der alteuropäischen Völker und damaligen Mächte in Europa um 218 v. Chr.
Räumliche Verteilung der alteuropäischen Völker und damaligen Mächte in Europa um 218 v. Chr.
Übersicht
Vor allem bei Kelten, Germanen und Slawen sowie erst recht bei den Balten, finno-ugrischen Völkern, den Skythen, Thrakern und Illyrern liegt die Schwierigkeit bei der Analyse ihrer Jenseitsvorstellungen und abgesehen von den Überlieferungsproblemen und archäologischen Deutungsschwierigkeiten hauptsächlich in zwei Faktoren begründet:
Diese Völker waren keine homogene Gesellschaften, sondern in Stämme und lokale Herrschaften gegliederte lose, in ihrer Vorstellungswelt oft recht heterogene Kultgemeinschaften, die teils überhaupt nie, teils erst sehr spät und dann christliche Staaten ausbildeten (etwa in Spanien und Oberitalien) und über ganz Nord-, West-, Ost- und Mitteleuropa verbreitet waren. Die Vandalen etwa kamen ja bis nach Nordafrika, die Goten bis Italien und Spanien, die Wikinger bis Grönland und Südrussland, wo sie das frühe russische Reich gründeten (Kiewer Rus). Und die Kelten fielen unter anderem in Italien und Griechenland ein, kamen bis nach Kleinasien (Galater) und bildeten als Gallier in Frankreich lange Zeit die Hauptgruppe der Bevölkerung. Die Slawen wiederum hatten ein Siedlungsgebiet von der Elbe im Westen über den Balkan im Süden bis in die Ebenen Osteuropas.
Der Einfluss des Christentums machte sich oft schon sehr früh und im Einzelnen oft heute nicht mehr genau identifizierbar bemerkbar. Aber auch alte griechische Vorstellungen wie die drei Nornen[101] und die Struktur der Unterwelt samt einigen Details, etwa die Brücke zur Unterwelt, der Höllenfluss Gjoll, der Höllenhund Garmr oder die die Brücke bewachende Riesin Modgud, scheinen relativ früh, vor allem bei den Germanen auf ihre Jenseitsvorstellungen eingewirkt zu haben. Bei vielem, was heute als „germanisch“ überliefert ist und dafür gehalten wurde (Richard Wagner, Nationalsozialisten), handelt es sich bereits um christlich beeinflusste Formen – von den Schrecken der Hölle, der Aufteilung in Gut und Böse bis hin zur möglicherweise christlich beeinflussten Eschatologie (Ragnarök[102]), wie sie uns etwa im altsächsischen Heliand begegnet. Andere Forscher werten sie als Reste einer gesamtindoeuropäischen Tradition, die im Heliand allerdings eindeutig christlich umgearbeitet sei.[103] Damit beginnen sich vor allem bei den späten Germanen erste Vorstellungen von einem Totengericht auszubilden, das ja bei einer moralisch-ethischen Einstufung der Toten notwendig wurde, die es bis dahin nicht gegeben hatte.
Kelten
Die megalithischen Dolmen waren Tore zur Unterwelt; hier die Feendolmen von Draguigna (Dép. Var) in Frankreich
Die Religion der Kelten,[104] bei der es vergleichbare, jedoch nicht ganz so ausgeprägte Überlieferungsprobleme wie bei den Slawen gibt, hat ihre Ursprünge vermutlich in der noch sehr egalitären Urnenfelderkultur. Ein ausgeprägter oppositioneller Gut-Böse-Dualismus fehlt entsprechend (im walisischen und irischen Sagenkreis allerdings kommt er aber möglicherweise als Spätentwicklung unter christlichem Einfluss vor) einschließlich der damit zusammenhängenden Götterkampfmythen samt Jenseitsfurcht und Totengericht, die ja der Urnenfelderkultur ebenfalls fremd gewesen sein dürften, zieht man die Bestattungsbräuche mit heran. Über die Villanovakultur Mittelitaliens gibt es einige Ähnlichkeiten zu den Etruskern. Möglicherweise gab es wie im frühen Palästina einen vegetativen Dualismus (siehe oben). Erstaunliche Ähnlichkeiten der keltischen Mythologie bestehen zur Mythologie der alten, wiederum stark durch die altiranischen Kulturen beeinflussten Slawen, ja sogar zum frühen Hinduismus, vermutlich Reste einer gesamtindoeuropäischen Tradition.[105]
In der keltischen Eschatologie ist nirgends die Rede von Schuld, Bestrafung und Gericht in einem Leben nach dem Tode, stattdessen gab es einen ausgeprägten Seelenwanderungsglauben (allerdings nicht im pythagoreischen Sinn, sondern als nicht systematisierter Wechsel der Seelen vom Diesseits ins Jenseits und zurück) und eine Wechselwirkung zwischen Diesseits und einem durchaus angenehm gedachten Jenseits ohne Tod, Arbeit und Winter, das sich unter der Erde (etwa in den megalithischen Dolmen oder der irischen Anderswelt), unter Wasser oder auf sagenhaften Inseln befand (z. B. Avalon) und in dem Götter, Feen, Geister und Tote miteinander wohnten. Das keltische Jenseits weist große Ähnlichkeiten zum griechischen Elysion auf und repräsentiert eine alte gesamtindoeuropäische Tradition. Keltische Sagen berichten von Helden, die aus dem Totenreich zurückkehren, und vor allem die Geschichten aus Irland sind voll von magischem Geschehen, wie es sich auch 400 Jahre später noch in den Erzählungen des Arthussagenkreises wiederfindet. Auch die Halloween-Bräuche gelten als möglicher Reflex alter keltischer Jenseitsvorstellungen, in denen die Seelen mitunter zwischen Jenseits und Diesseits hin und her wandern. Als Seelenbegleiter tritt hie und da und insbesondere in der irischen Mythologie vor allem der Schwan auf.
Skythen
Da die Skythen[106] wie die Slawen ein schriftloses Volk waren, ist über ihre religiösen Vorstellungen nur wenig bekannt. Ein Totengericht scheint es wie z. B. bei den Etruskern und Balten nicht gegeben zu haben, so dass vieles wie bei den Kelten auf die Vorstellung eines Kontinuums Diesseits/Jenseits deutet, wobei der vornehme (und dann einbalsamierte) Tote die reichen Gaben der Bestattung quasi mitnehmen konnte, ohne befürchten zu müssen, von strengen Richtern im Jenseits bestraft zu werden. Priester und Tempel gab es kaum. Die bekanntesten Hinterlassenschaften der Skythen und ihres Totenkultes sind die Kurgane, die mit enormem Arbeitsaufwand errichtet wurden, der darauf hindeutet, dass der verstorbene Fürst auch im Jenseits über seine oft mitbeerdigte Frau, sein Gefolge und seine Ausrüstung, ja sogar seine Pferde verfügen wollte, dass diese Jenseitsvorstellung somit sehr positiv gewesen ist.
Germanen
Illustration aus einem 1895 erschienenen Buch von Karl Gjellerup „Den ældre Eddas Gudesange“ zur Völuspa, Strophe 24, wo über den Qualort Nystrand der Unterwelt berichtet wird (die Sünder waten durch Gift und Schlangen). Es handelt sich hier aber bereits um eine christlich überformte Vorstellung, die man damals aber noch für rein germanisch hielt.
In der Religion der Germanen, die sich allerdings schon wegen des großen Verbreitungsgebietes keineswegs einheitlich und, was Sterben und Jenseits anging, eher dunkel darstellt, war der Aufenthaltsort der Toten das lichtlose Hel, das jedoch ursprünglich nicht als Ort der Verdammten gedacht war, die dort an „Qualorten wie dem Nystrand“ (Totenstrand) eine Strafe abbüßen müssen (das ist bereits eine christliche Vorstellung, die hier stark auf die Völuspa eingewirkt hat!); entsprechend gibt es auch kein Totengericht.[107] Manche Stämme allerdings glaubten überhaupt nicht an ein Jenseits, und das Leben war mit dem Tode unwiderruflich zu Ende, jedes Unglück war daher besser als der Tod, denn man lebte wenigstens (nach Hávamál). Öfter allerdings glaubte man, das Leben ginge nach dem Tode wie bisher weiter, und man konnte noch zwei- oder dreimal im selben Körper getötet werden, bevor es endgültig vorbei war. Ob dazu eine Totenreise notwendig war, bleibt unklar. Im Norden entwickelte sich dann aus der örtlichen die persönliche Hel als Unterweltsgöttin. Der Ort Hel wurde dabei unter christlichem Einfluss zum Strafort Hölle, und die sittliche Beschaffenheit der Toten (hier zunächst seine Verdienste als Krieger) wurde nun zunehmend zum Zuweisungsgrund, wobei zunächst nur die Positivauswahl der Walküren auf dem Schlachtfeld ausschlaggebend war, bei der es sich im übrigen ebenfalls um eine sehr späte, aus der Völkerwanderungszeit (4. Jh. n. Chr.) stammende, erst im 9. Jahrhundert n. Chr. in der Snorra-Edda schriftlich überlieferte, vielleicht sogar christlich motivierte Vorstellung handelt, denn, so Wolfgang Golther: „In Wirklichkeit sind eben Hel und Walhalla eins, das große, allumfassende Seelenreich.“[108]
Zunächst jedoch gab es für die Toten der vorchristlichen Germanen meist nur Hel, in der das Leben jedoch keineswegs elend gedacht war, vielmehr ähnelte es stark dem irdischen; und den Vornehmen wurde ein durchaus festlicher Empfang bereitet. Nur bei einigen nordgermanischen Stämmen ist Walhalla als letztes Refugium einer spezialisierten Kriegerkaste überhaupt präsent. Auch der Däne Saxo Grammaticus spricht nur von unterirdischen Totenorten – solchen für Krieger mit angenehmen grünen Gefilden und für „Neidlinge“ in schlangentriefenden, im Norden liegenden Höhlen.
Die Germanen glaubten teilweise allerdings an eine Art Seelenwanderung und an die Wiedergeburt[109] – letzteres eventuell ebenfalls schon ein christlicher Gedanke –, so dass diese dunklen Vorstellungen vom Tod doch einigermaßen entschärft sind. Jedoch kann es geschehen, dass Hel sich weigert, eine Seele wieder herzugeben (Balder-Mythos) – eine jener alten Diskrepanzen, wie sie schon im Orpheus-Mythos zum Ausdruck kommen und die das Christentum als Erlösungsreligion später so erfolgreich nutzte.
Überdies herrschte vor allem bei den nördlichen Germanen und hier insbesondere auf Island der Glaube an Schicksalsfrauen (Nornen, es waren zahlreiche, erst unter antikem Einfluss wurden es drei), die im Sinne einer kosmischen Prädestination wurd, das Schicksal jedes Einzelnen, in ihrem Gewebe oft sehr ungleich vorherbestimmten und deren Macht selbst die Götter unterworfen waren (es gab böse und gute Schicksalsfrauen in diesem Sinne; Reste davon sind noch im Märchen von Dornröschen enthalten). Die sittliche Qualität von Göttern und Helden und entsprechend ihre Behandlung in Hel richtete sich danach, wie sie wurd begegneten. Zu ihnen gehören auch die Walküren als besondere Schicksalsfrauen der Schlacht.[110]
Weiter in Teil 3
Das Hinnomtal südwestlich von Jerusalem als Fortsetzung des Kidrontals. Hier befand sich in alttestamentlicher Zeit eine Kultstätte des Gottes Moloch, wo ihm Kinder als Brandopfer dargebracht wurden. Jeremia nannte es daher „Würgetal“ (Jer. 7,31 f.). Der Name der hebräischen Strafhölle Ge-(Ben-)Henna (zu Ge-Hinnom) ist von diesem Ort abgeleitet, ebenso die Verbindung zum strafenden Feuer der Hölle.[79]
Die frühe syro-kanaanäische Religion, zu deren Abkömmlingen im Prinzip auch die weiter unten ausführlicher dargestellte jüdische gehört, ist vor allem von Vegetationsmythen bestimmt, zeigt in ihren historischen Entwicklungen jedoch wegen der sich zahlreich überkreuzenden Kulturen besonders bewegte Abläufe.[80]
Neolithikum: Zumindest in der neolithischen Phase gab es offenbar, soweit archäologisch erschließbar, keinen eigentlichen Ahnen- und Totenkult, vielmehr bestand wohl eine vegetativ-polare Vorstellung, bei der der unteren, irdischen Welt eine obere, himmlische entsprach und bei der die Erde weiblich, der Himmel männlich vorgestellt wurde (oft als Stier personifiziert) und beide Urmächte alles Lebendige miteinander gezeugt hatten. Beim Tod wurde dann die Asche der Erde zurückgegeben als ihr Anteil, der Himmel erhielt den seinigen, also Seele oder Geist. Die tief im Erdinneren angelegten Totenverbrennungsstätten deuten jedenfalls in diese Richtung. Ein irgend geartetes Jenseits mit Totengericht war somit überflüssig.
Spätneolithisch findet sich in Palästina-Syrien dann ein Megalithkult mit Menhiren (sogenannten Mazzeben), die besonders den Toten gewidmet waren, von denen man glaubte, sie wohnten in ihnen und schickten gelegentlich, wenn man dort schlief, Offenbarungsträume. Die Bedeutung ist nicht klar. Es scheint aber eine Furcht vor Totengeistern gegeben zu haben, eventuell in Verbindung mit einem Ahnen- oder Totenkult, denn man spendete den Toten nun Speise- und Trankopfer. Als dieses „Volk der Totengeister“, so nannten die späteren Völker sie, verschwunden war, übernahmen die Kanaaniter (eigentlich ein Sammelbegriff für die hier lebenden Ethnien), Aramäer und Israeliten die heiligen Orte und deuteten sie für ihre Zwecke um, übernahmen überdies die Sitte der Träume, wie vielfach in der Bibel belegt, z. B. bei Jakob in Bethel, dem Haus des Himmelsgottes El der Kanaaniter, den später auch die Israeliten als Titulatur Jahwes verwendeten. Tatsächlich findet sich diese Tradition bis heute beim Wahrträume bringenden Gräberschlaf der Tuareg.[81] Aus der alten Kultstätte des Gottes Moloch im Hinnomtal südlich von Jerusalem wurde dann später im Judentum Gehenna, die Hölle, als Strafort.[82]
Die betreffenden semitischen Völker waren möglicherweise aus der Arabischen Halbinsel, dem Sinai und/oder Mesopotamien sowie der syrischen Wüste im 3. und 2. vorchristlichen Jahrtausend zugewandert, vermutlich ebenfalls aufgrund der fortschreitenden Aridisierung Nordafrikas, die schon die Niltalkultur in Ägypten mit ausgelöst hatte.[83] Ihre Religionen weisen mit ihren Geistern und Göttern teilweise Ähnlichkeiten mit den altarabischen auf, wie sie noch Mohammed Ende des 6. nachchristlichen Jahrhunderts vorfand und bekämpfte (vgl. z. B. Satanische Verse) bzw. Elemente wie den Megalithkult der Ka'aba[84] oder den Geisterglauben daraus übernahm und die wiederum zahlreiche Traditionen aus Mesopotamien bezogen.[85]
Außer den Juden der Frühzeit im zweiten vorchristlichen Jahrtausend und bis zur Zeit der Reformen des Hiskia, vor allem aber des Josia, hatten hier aber auch die Ugariter und Phönizier ihre religiösen Wurzeln im Kult um den Himmelsgott El und Baal, um Aschera sowie um diverse palästinensische Stadt- und Unterweltsgötter wie Melkart bzw. dem ugaritischen Mot und dem palästinensischen und phönizischen Choron. Mit dem Adoniskult gab es zudem einen Vegetationsgott im Rahmen des gemeinmediterranen Mythos vom „Sterbenden Gott“ (Adonai = Herr ist noch eine Anrufungsform Jahwes im Judentum). Die Riten wurden von einer mächtigen Priesterschaft und einem sakralen Königtum getragen, waren magisch, ja orgiastisch bestimmt und imponierten häufig als Mysterienkult. Ähnlichkeiten zu Ägypten, Mesopotamien wie Griechenland fallen auf. Die Religion der Philister enthält zwar einige altägäische und ägyptische Elemente, ist ansonsten aber identisch mit der der übrigen palästinensischen Völker.[86]
Die Unterweltsvorstellungen sind generell eher diffus, gelegentlich von polaren Götterkampfmythen bestimmt (Mot verschlingt Baal). Ein Totengericht gab es wie im frühen und mittleren Judentum offenbar nicht, oder es ist nicht nachweisbar und aufgrund der vegetationsmythischen Struktur dieser Religionen auch nicht sehr wahrscheinlich. Ähnliches gilt für andere bronzezeitliche semitische Stämme der Region wie die Moabiter (Gott Kemasch), Ammoniter, die Moloch anbeteten, die Edomiter, Amoriter, Nabatäer (Petra) und andere meist ursprünglich nomadische Völker, die in Konkurrenz zu Israel mitunter kleinere Nationalstaaten ausbildeten, die später teilweise von Israel oder den umliegenden Großmächten absorbiert wurden.
Hethiter, Urartu
Die lediglich als Staatskult überlieferte Religion der Hethiter übernahm aus Anatolien sowie von vielen benachbarten Völkern Vorstellungen, Mythen und Götter, vor allem die sehr archaischen Mythen Anatoliens.[87] Für die als göttlich betrachteten Könige gab es umfangreiche Totenrituale, aber auch der einfache Tote ging endgültig in die jenseitige Welt. Vor allem für die Könige ist auch ein Ahnenkult mit Opfern bezeugt. Ein Totengericht gab es jedoch offenbar nicht. Ähnliches gilt für die noch schlechter bezeugten Nachfolgestaaten nach dem Zerfall des hethitischen Imperiums. Die Situation von Troja in diesem Zusammenhang ist bis heute heftig umstritten. Es scheint jedoch trotz seiner neuerdings belegten luwischen Zusammenhänge religiös vorwiegend zumindest in der entwickelten Phase griechisch geprägt gewesen zu sein, wenn man den Epen Homers folgt.
Die Religion von Urartu (Chaldäer) ist ähnlich wie in Mesopotamien durch den Rechtsanspruch der Götter gegenüber den Menschen geprägt.[88] Über die Jenseitsvorstellungen ist so gut wie nichts überliefert, auch Bestattungen wurden außer einem Fürstengrab keine gefunden. Aus den einzelnen Kammern schließt man, dass sie wohl als Wohnort des Verstorbenen gedacht waren. Es gab einen ausgeprägten Opferkult. Über ein Totengericht ist nichts bekannt.[89] Gleiches gilt für die Phrygier, über deren Religion kaum etwas bekannt ist, außer dass in ihrem Mittelpunkt eine Muttergottheit, Cybele, stand.
Phönizier
Die Religion der Phönizier[90] steht der frühen kanaanäischen Religion sehr nahe; wichtigste Götter waren Baal, Melkart und der höchste Gott El sowie Astarte (Aschera) und der Todesgott Mot. Zentral ist ein Fruchtbarkeitskult mit dem Mythos des sterbenden Gottes (Baal und Adonis), wie er dann später unter anderem für das Christentum wesentlich wurde. In den einzelnen phönizischen Städten variierten die kultischen Vorstellungen allerdings stark, und sie waren vor allem von spezifischen Stadtgöttern geprägt. Die phönizische Religion breitete sich später im ganzen Mittelmeerraum aus und glich sich dabei häufig lokalen Kulten an, zumal die Phönizier mit Ausnahme von Karthago keine Flächenstaaten ausbildeten. Über das phönizische Jenseits und die damit zusammenhängenden Vorstellungen wissen wir, abgesehen von seiner Bedeutung als vegetationsmythischem Ort, wenig; von einem Totengericht ist nichts bekannt.
Religionen der antiken Klassik
Persephone beaufsichtigt Sisyphos mit seinem Stein in der Unterwelt; Seite A einer schwarzfigurigen attischen Amphore aus Vulci, um 530 v. Chr.
Im Zentrum der alten Religionen des Mittelmeerraumes standen vor allem bestimmte formale Verhaltensweisen, die die komplexen Beziehungen zwischen Göttern und Menschen sowie deren Ahnen, sogar des Kosmos insgesamt ausdrücken sollten. In diesem Beziehungsgeflecht hatte jeder seinen Platz zu suchen und auszufüllen. Der Wille der Götter wurde durch Orakel, Astrologie und Wahrsagerei erforscht.[91] Vorstellungen von einem Totengericht sind daher bei Griechen, Etruskern und Römern − wenn überhaupt vorhanden − eher schwach ausgeprägt und orientieren sich vor allem an Äußerlichkeiten und der Einhaltung der Totenriten und weniger an ethischen Normen. Alle drei Religionen weisen nicht zuletzt wegen ihrer indoeuropäischen Herkunft und der ihren Gesellschaften zugrunde liegenden dreigeteilten Sozialstruktur aus Priestern, Kriegern und Bauern/Handwerkern, starke Parallelen und Abhängigkeiten auf,[92] so dass sie hier im Zusammenhang erklärt werden.
Vor allem der Begräbniskult war bei Etruskern und Römern stark ausgeprägt, doch eher als Symptom einer Führungsschicht, bei der ein großer Aufwand in diesem Punkte auch als Statussymbol galt. Zudem finden sich bei beiden starke Rest eines manischen Ahnenkultes als möglicherweise altitalisches Erbe. Da ein derartiger Ahnenkult jedoch gewöhnlich Totengerichtsvorstellungen ausschließt oder nur in reduzierter Spätform bzw. Überschichtung beinhaltet, wie andere Religionen, vor allem die ethnischen Afrikas, Asiens (insbesondere Chinas und Japans) und Amerikas zeigen, sind diese, so vorhanden wohl als griechische Übernahmen zu verstehen.[93] Insgesamt war der Ahnenkult bei den Griechen als Totenkult eher schwach ausgeprägt und galt vor allem der Verehrung von Heroen und politischen Führern, dazu auch den Geistern der Familienahnen. Bei den Römern hingegen stand der familiäre Ahnenkult im Zentrum der Religion. Der Einfluss der Manen auf das Alltagsleben wurde als sehr hoch erachtet.[56]
Griechen
Pelike. Hades/Pluton mit einem Füllhorn und seine Schwester Demeter mit Zepter und Pflug. Orestes-Maler, 440–430 v. Chr. Archäol. Nationalmuseum, Athen. Der Ursprung des Unterweltsgottes als Fruchtbarkeitsgott ist hier noch sichtbar.
Der Jenseitsglaube der Griechen jener Zeit ist eher heterogen und hat sich im Laufe der Jahrhunderte auch stark gewandelt bis hin zum Seelenwanderungsglauben der Pythagoräer.[94] Man glaubte nach Hesiod und Pindar sowie bei Homer und Platon (z. B. in Der Staat, Buch 10) zunächst an eine Art Insel der Seligen, Elysion, wo außer den Götterverwandten und Heroen der, der sich in drei Reinkarnationen auf der Erde bewährt hatte, hin durfte; nur wenige wie Herakles, Perseus, Andromeda, Cassiopeia oder die Dioskuren wurden direkt auf den Olymp oder zu den Sternen versetzt. Vor allem die Pythagoräer nahmen dann diese Vorstellung der Seelenwanderung auf. Die spätere Vorstellung eines Strafortes Tartaros, in der die gestürzten Titanen und andere Übeltäter oder ehemalige göttliche Machtkonkurrenten leiden, die sich gegen den göttlichen Willen vergangen hatten (Hybris), eine etwas mildere, aber öde Unterwelt Hades sowie ein paradiesischer Ort, das Elysion, repräsentieren die alte kosmologische Dreiteilung.
Die Hades genannte Unterwelt ist Gott und Ort in einem (wie ursprünglich auch Hel in der nordischen Mythologie). Dort hausen die schwächlichen Totenschatten, die man durch Speise- und Trankopfer ständig stärken muss, damit sie überhaupt sprechen können. Die Toten werden von Hermes bis zum Unterweltsfluss Styx geführt, den sie mit Hilfe des Fährmannes Charon überqueren, der dafür auch noch zu bezahlen ist (man legte den Verstorbenen daher eine Münze zu diesem Zweck in den Mund, den sogenannten Obolus). Dort treten sie durch das vom Höllenhund Kerberos bewachte Unterweltstor. Der Höllenhund Garmr der nordischen Mythologie ähnelt ihm stark und ist möglicherweise auch sprachlich (kerbr → garmr) eine Übernahme aus der griechischen Mythologie.[95] Damit sie von ihm nicht gefressen werden, gibt man ihnen Honigkuchen mit.[96]
Der Hades, dieser öde und endlose Ort ohne Wiederkehr, ähnelt stark mesopotamischen und jüdischen Vorstellungen. Es ist schon aus diesem Grunde kein Wunder, dass sich die Göttervorstellungen der Griechen schnell verweltlichten und nach und nach nicht mehr allzu ernst genommen wurden, etwa bei Xenophanes. An die Stelle solch religiöser Vorstellungen traten etwa bei Platon dann philosophische, in denen der Begriff der Tugend (Areté) an Bedeutung gewann und derart dem Menschen ein selbstbestimmtes Mittel in die Hand gab, solche dunklen Vorstellungen zu überwinden. Die Orphik wiederum, in deren Zentrum die Lehre vom Schicksal der Toten stand, versuchte durch mystische Zeremonien den Gläubigen ein seliges Leben im Jenseits zu sichern.
Es existiert hier nun ein eindeutiges Totengericht. In seinem Richteramte stehen dem als Unterweltsgott unerbittlich strengen Hades nach späterer Überlieferung die drei Totenrichter Minos, Rhadamanthys und Aiakos freudlos auf der Asphodeloswiese zur Seite. Die Seelen der Gerechten werden in die von der Lethe, „dem Strom des Vergessens“, umflossenen, glückseligen Elysion-Gefilde gewiesen, die alte Insel der Seligen. Nach einem negativen Urteil mussten die Sünder hingegen lange Reinigungszeremonien durchmachen, bevor sie den Status eines Seligen erreichten und, nachdem sie ebenfalls aus Lethe, dem Fluss des Vergessens, getrunken hatten, nach Elysion gehen durften. Zuvor wurde ihnen jedoch gewährt, ihre zukünftige Inkarnation selbst zu wählen. Andere, die besonders schwer gesündigt hatten, blieben aber für immer verdammt.
Es gibt nun auch die Idee der Bestrafung von Frevlern, die den Zorn der Götter erregt haben; sie werden in den Abgrund des Tartaros, den schrecklichen Ort der Verbannung, gestoßen, wo sie auf mancherlei Weise für ihre Untaten zu büßen haben (Sisyphos, Tantalos, die Danaiden, Prometheus, Minos usw.). Außer den wenigen Vergöttlichten (siehe oben) bleibt der Hades aber keinem erspart.
Verbreitet war die Überzeugung, dass das Schicksal der Toten davon abhänge, ob die Lebenden an der Leiche die obligaten Zeremonien ausführten, weshalb diese in der griechischen Religion eine zentrale Stellung einnahmen. Die Seelen Unbestatteter fanden hingegen keine Ruhe. Totenopfer zur Speisung der Seelen wurden für sehr wichtig gehalten und gelten als Reste des uralten Fruchtbarkeitskultes.
Etrusker
→ Hauptartikel: Etruskische Religion
Die Struktur der von einem ausgeprägten Totenkult in Nekropolen geprägten etruskischen Religion[97] ist archaisch, von Vegetationsmythen und einem strengen Determinismus bestimmt, der Züge einer kosmologischen Prädestination trägt und als religionsphilosophisches System überaus komplex ist. Weiter sind Geister- und Dämonenglaube ausgebildet. Ob es ein eigentliches Totengericht gab, weiß man nicht. Auch einen eindeutig nach dem Muster des griechischen Unterweltsschiffers Charon gebildeter „Charun“ mit ähnlicher Funktion gab es, aber auch dies ist erst ab dem 4. vorchristlichen Jahrhundert bezeugt, in dem auch die Paarung Persephone/Hades (Phersipnai/Eita) in der etruskischen Überlieferung offenbar unter griechischem Einfluss auftaucht. Es gab Todesdämonen. Eine Vergöttlichung der Toten war möglich; sie konnte durch Opfer erreicht werden. Auch glaubte man offenbar, die Toten blieben in ihren Körpern und könnten so die Opfer, die man ihnen brachte, und die luxuriöse Grabausstattung direkt genießen. Ein Unterweltsglaube scheint daher im Gegensatz zum griechischen Hades zumindest in der Frühzeit vor der kulturellen griechischen Überlagerung nicht bestanden zu haben. Nach den Malereien und Plastiken in den Nekropolen zu urteilen, glaubte man also an eine freudvolle Nachexistenz, möglicherweise auch, um die Toten derart an der Rückkehr zu hindern. Ob diese allerdings lediglich für die Adelsschichten zugänglich war, wie etwa in Südamerika und anderen frühen Kulturen, und welche Jenseitsvorstellungen in der Volksreligion lebendig waren, ist bisher in Ermangelung aussagefähiger Schriftzeugnisse nicht überliefert.
Römer
Römische Manenstatue aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert. Diese in der Provinz Gallien (Dép. Nièvre, Frankreich, östl. von Paris) gefundene Begräbnisstele des zu den Manen gegangenen Apinosus Iclius zeigt das Weiterleben der alten Volksreligion abseits der Bevölkerungszentren.
Über die römischen Jenseitsvorstellungen der Frühzeit ist wenig bekannt; insgesamt blieben sie aber auch später eher vage. Götter waren ursprünglich gestaltlose, erst später personifizierte Naturgewalten bzw. Numen, wenn ihr Wirken gemeint war; das Schicksal Fatum war wie bei den Etruskern weitgehend vorgezeichnet. Insgesamt findet man also eher bäuerliche Vorstellungen. Götterbilder kamen erst unter etruskischem und griechischem Einfluss auf. Der Ahnenkult war ausgeprägt, und man glaubte an ein Weiterleben der Seele in einem irgend gearteten Paradies und an eine Art reziprokes Vertrauensverhältnis zwischen Göttern und Menschen. Die Geister der Toten, Larvae oder Lemuren, waren gefürchtet.[98] Später übernahmen die Römer weitgehend die religiösen Vorstellungen der Griechen und amalgamierten sie mit etruskischen und altitalischen Konzepten zu einem politisch effektiven Staatskult, wobei es vor allem in der Kaiserzeit zu einer starken Verweltlichung kam, indem etwa fast alle Kaiser nach ihrem Tod zum Gott erhoben wurden, zumal mit der Entstehung eines großstädtischen Proletariats mit Sklaven und Menschen aus aller Herren Ländern und einer allgemeinen sozialen Umschichtung orientalische Mysterienkulte immer stärker an Einfluss gewannen und die altrömischen Kultformen immer mehr schwanden, die noch Augustus zu erneuern versucht hatte. Unverkennbar ist dabei eine starke Erlösungssehnsucht, die die Menschen in den geistigen und politischen Wirren jener Zeit erfasste und die unter anderem auch dem Christentum den Boden bereitete.[99] Damit aber hielten auch völlig andere, weit präzisere Jenseitsvorstellungen Einzug inklusive dezidierter Totengerichtsvorstellungen, etwa griechische, ägyptische, persische und christlich-jüdische. In Vergils sechstem Gesang der Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts entstandenen Aeneis ist die Übernahme griechischer Jenseitsvorstellungen besonders gut bezeugt. In der römischen Mythologie wird Hades Pluto genannt (dem Namen nach – griech. plútos = Fülle, Reichtum – eigentlich ein alter chthonischer Fruchtbarkeitsgott) und später mit diesem gleichgesetzt. Der Hades als Ort wird in der römischen Mythologie zum Orcus. Diese Unterwelten wurden im Christentum allesamt zur Hölle als Ort ewiger Verdammnis und verschmolzen mit der Hel der germanischen Mythologie. Ein eigentlich römisches Totengericht abseits von griechischen Konzepten war aber in der ohnehin stark diesseitig orientierten römischen Kultur nicht ausgeprägt. Auch hier war jedoch die Einhaltung von Totenritualen sehr wichtig, um den Toten ein möglicherweise übles Schicksal zu ersparen.
In der Volksreligion vor allem der bäuerlichen Bevölkerung Italiens blieben jedoch archaisch-animistische Elemente lebendig mit Geisterfurcht und Angst vor der Wiederkehr Verstorbener. Gräber galten daher als sakrosankt, da man glaubte, sie würden von jenseitigen Mächten bewacht, und man glaubte ganz wie die Etrusker, eine komfortabel und prächtige Grablege würde die Toten von einer Rückkehr abhalten.[100]
Alteuropäische Religionen
Räumliche Verteilung der alteuropäischen Völker und damaligen Mächte in Europa um 218 v. Chr.
Räumliche Verteilung der alteuropäischen Völker und damaligen Mächte in Europa um 218 v. Chr.
Übersicht
Vor allem bei Kelten, Germanen und Slawen sowie erst recht bei den Balten, finno-ugrischen Völkern, den Skythen, Thrakern und Illyrern liegt die Schwierigkeit bei der Analyse ihrer Jenseitsvorstellungen und abgesehen von den Überlieferungsproblemen und archäologischen Deutungsschwierigkeiten hauptsächlich in zwei Faktoren begründet:
Diese Völker waren keine homogene Gesellschaften, sondern in Stämme und lokale Herrschaften gegliederte lose, in ihrer Vorstellungswelt oft recht heterogene Kultgemeinschaften, die teils überhaupt nie, teils erst sehr spät und dann christliche Staaten ausbildeten (etwa in Spanien und Oberitalien) und über ganz Nord-, West-, Ost- und Mitteleuropa verbreitet waren. Die Vandalen etwa kamen ja bis nach Nordafrika, die Goten bis Italien und Spanien, die Wikinger bis Grönland und Südrussland, wo sie das frühe russische Reich gründeten (Kiewer Rus). Und die Kelten fielen unter anderem in Italien und Griechenland ein, kamen bis nach Kleinasien (Galater) und bildeten als Gallier in Frankreich lange Zeit die Hauptgruppe der Bevölkerung. Die Slawen wiederum hatten ein Siedlungsgebiet von der Elbe im Westen über den Balkan im Süden bis in die Ebenen Osteuropas.
Der Einfluss des Christentums machte sich oft schon sehr früh und im Einzelnen oft heute nicht mehr genau identifizierbar bemerkbar. Aber auch alte griechische Vorstellungen wie die drei Nornen[101] und die Struktur der Unterwelt samt einigen Details, etwa die Brücke zur Unterwelt, der Höllenfluss Gjoll, der Höllenhund Garmr oder die die Brücke bewachende Riesin Modgud, scheinen relativ früh, vor allem bei den Germanen auf ihre Jenseitsvorstellungen eingewirkt zu haben. Bei vielem, was heute als „germanisch“ überliefert ist und dafür gehalten wurde (Richard Wagner, Nationalsozialisten), handelt es sich bereits um christlich beeinflusste Formen – von den Schrecken der Hölle, der Aufteilung in Gut und Böse bis hin zur möglicherweise christlich beeinflussten Eschatologie (Ragnarök[102]), wie sie uns etwa im altsächsischen Heliand begegnet. Andere Forscher werten sie als Reste einer gesamtindoeuropäischen Tradition, die im Heliand allerdings eindeutig christlich umgearbeitet sei.[103] Damit beginnen sich vor allem bei den späten Germanen erste Vorstellungen von einem Totengericht auszubilden, das ja bei einer moralisch-ethischen Einstufung der Toten notwendig wurde, die es bis dahin nicht gegeben hatte.
Kelten
Die megalithischen Dolmen waren Tore zur Unterwelt; hier die Feendolmen von Draguigna (Dép. Var) in Frankreich
Die Religion der Kelten,[104] bei der es vergleichbare, jedoch nicht ganz so ausgeprägte Überlieferungsprobleme wie bei den Slawen gibt, hat ihre Ursprünge vermutlich in der noch sehr egalitären Urnenfelderkultur. Ein ausgeprägter oppositioneller Gut-Böse-Dualismus fehlt entsprechend (im walisischen und irischen Sagenkreis allerdings kommt er aber möglicherweise als Spätentwicklung unter christlichem Einfluss vor) einschließlich der damit zusammenhängenden Götterkampfmythen samt Jenseitsfurcht und Totengericht, die ja der Urnenfelderkultur ebenfalls fremd gewesen sein dürften, zieht man die Bestattungsbräuche mit heran. Über die Villanovakultur Mittelitaliens gibt es einige Ähnlichkeiten zu den Etruskern. Möglicherweise gab es wie im frühen Palästina einen vegetativen Dualismus (siehe oben). Erstaunliche Ähnlichkeiten der keltischen Mythologie bestehen zur Mythologie der alten, wiederum stark durch die altiranischen Kulturen beeinflussten Slawen, ja sogar zum frühen Hinduismus, vermutlich Reste einer gesamtindoeuropäischen Tradition.[105]
In der keltischen Eschatologie ist nirgends die Rede von Schuld, Bestrafung und Gericht in einem Leben nach dem Tode, stattdessen gab es einen ausgeprägten Seelenwanderungsglauben (allerdings nicht im pythagoreischen Sinn, sondern als nicht systematisierter Wechsel der Seelen vom Diesseits ins Jenseits und zurück) und eine Wechselwirkung zwischen Diesseits und einem durchaus angenehm gedachten Jenseits ohne Tod, Arbeit und Winter, das sich unter der Erde (etwa in den megalithischen Dolmen oder der irischen Anderswelt), unter Wasser oder auf sagenhaften Inseln befand (z. B. Avalon) und in dem Götter, Feen, Geister und Tote miteinander wohnten. Das keltische Jenseits weist große Ähnlichkeiten zum griechischen Elysion auf und repräsentiert eine alte gesamtindoeuropäische Tradition. Keltische Sagen berichten von Helden, die aus dem Totenreich zurückkehren, und vor allem die Geschichten aus Irland sind voll von magischem Geschehen, wie es sich auch 400 Jahre später noch in den Erzählungen des Arthussagenkreises wiederfindet. Auch die Halloween-Bräuche gelten als möglicher Reflex alter keltischer Jenseitsvorstellungen, in denen die Seelen mitunter zwischen Jenseits und Diesseits hin und her wandern. Als Seelenbegleiter tritt hie und da und insbesondere in der irischen Mythologie vor allem der Schwan auf.
Skythen
Da die Skythen[106] wie die Slawen ein schriftloses Volk waren, ist über ihre religiösen Vorstellungen nur wenig bekannt. Ein Totengericht scheint es wie z. B. bei den Etruskern und Balten nicht gegeben zu haben, so dass vieles wie bei den Kelten auf die Vorstellung eines Kontinuums Diesseits/Jenseits deutet, wobei der vornehme (und dann einbalsamierte) Tote die reichen Gaben der Bestattung quasi mitnehmen konnte, ohne befürchten zu müssen, von strengen Richtern im Jenseits bestraft zu werden. Priester und Tempel gab es kaum. Die bekanntesten Hinterlassenschaften der Skythen und ihres Totenkultes sind die Kurgane, die mit enormem Arbeitsaufwand errichtet wurden, der darauf hindeutet, dass der verstorbene Fürst auch im Jenseits über seine oft mitbeerdigte Frau, sein Gefolge und seine Ausrüstung, ja sogar seine Pferde verfügen wollte, dass diese Jenseitsvorstellung somit sehr positiv gewesen ist.
Germanen
Illustration aus einem 1895 erschienenen Buch von Karl Gjellerup „Den ældre Eddas Gudesange“ zur Völuspa, Strophe 24, wo über den Qualort Nystrand der Unterwelt berichtet wird (die Sünder waten durch Gift und Schlangen). Es handelt sich hier aber bereits um eine christlich überformte Vorstellung, die man damals aber noch für rein germanisch hielt.
In der Religion der Germanen, die sich allerdings schon wegen des großen Verbreitungsgebietes keineswegs einheitlich und, was Sterben und Jenseits anging, eher dunkel darstellt, war der Aufenthaltsort der Toten das lichtlose Hel, das jedoch ursprünglich nicht als Ort der Verdammten gedacht war, die dort an „Qualorten wie dem Nystrand“ (Totenstrand) eine Strafe abbüßen müssen (das ist bereits eine christliche Vorstellung, die hier stark auf die Völuspa eingewirkt hat!); entsprechend gibt es auch kein Totengericht.[107] Manche Stämme allerdings glaubten überhaupt nicht an ein Jenseits, und das Leben war mit dem Tode unwiderruflich zu Ende, jedes Unglück war daher besser als der Tod, denn man lebte wenigstens (nach Hávamál). Öfter allerdings glaubte man, das Leben ginge nach dem Tode wie bisher weiter, und man konnte noch zwei- oder dreimal im selben Körper getötet werden, bevor es endgültig vorbei war. Ob dazu eine Totenreise notwendig war, bleibt unklar. Im Norden entwickelte sich dann aus der örtlichen die persönliche Hel als Unterweltsgöttin. Der Ort Hel wurde dabei unter christlichem Einfluss zum Strafort Hölle, und die sittliche Beschaffenheit der Toten (hier zunächst seine Verdienste als Krieger) wurde nun zunehmend zum Zuweisungsgrund, wobei zunächst nur die Positivauswahl der Walküren auf dem Schlachtfeld ausschlaggebend war, bei der es sich im übrigen ebenfalls um eine sehr späte, aus der Völkerwanderungszeit (4. Jh. n. Chr.) stammende, erst im 9. Jahrhundert n. Chr. in der Snorra-Edda schriftlich überlieferte, vielleicht sogar christlich motivierte Vorstellung handelt, denn, so Wolfgang Golther: „In Wirklichkeit sind eben Hel und Walhalla eins, das große, allumfassende Seelenreich.“[108]
Zunächst jedoch gab es für die Toten der vorchristlichen Germanen meist nur Hel, in der das Leben jedoch keineswegs elend gedacht war, vielmehr ähnelte es stark dem irdischen; und den Vornehmen wurde ein durchaus festlicher Empfang bereitet. Nur bei einigen nordgermanischen Stämmen ist Walhalla als letztes Refugium einer spezialisierten Kriegerkaste überhaupt präsent. Auch der Däne Saxo Grammaticus spricht nur von unterirdischen Totenorten – solchen für Krieger mit angenehmen grünen Gefilden und für „Neidlinge“ in schlangentriefenden, im Norden liegenden Höhlen.
Die Germanen glaubten teilweise allerdings an eine Art Seelenwanderung und an die Wiedergeburt[109] – letzteres eventuell ebenfalls schon ein christlicher Gedanke –, so dass diese dunklen Vorstellungen vom Tod doch einigermaßen entschärft sind. Jedoch kann es geschehen, dass Hel sich weigert, eine Seele wieder herzugeben (Balder-Mythos) – eine jener alten Diskrepanzen, wie sie schon im Orpheus-Mythos zum Ausdruck kommen und die das Christentum als Erlösungsreligion später so erfolgreich nutzte.
Überdies herrschte vor allem bei den nördlichen Germanen und hier insbesondere auf Island der Glaube an Schicksalsfrauen (Nornen, es waren zahlreiche, erst unter antikem Einfluss wurden es drei), die im Sinne einer kosmischen Prädestination wurd, das Schicksal jedes Einzelnen, in ihrem Gewebe oft sehr ungleich vorherbestimmten und deren Macht selbst die Götter unterworfen waren (es gab böse und gute Schicksalsfrauen in diesem Sinne; Reste davon sind noch im Märchen von Dornröschen enthalten). Die sittliche Qualität von Göttern und Helden und entsprechend ihre Behandlung in Hel richtete sich danach, wie sie wurd begegneten. Zu ihnen gehören auch die Walküren als besondere Schicksalsfrauen der Schlacht.[110]
Weiter in Teil 3
Andy- Admin
- Anzahl der Beiträge : 36197
Anmeldedatum : 03.04.11
Teil 3
Slawen
Der altslawische Glaube[111] war noch stark animistisch bis totemistisch geprägt. Teilweise aufwendige Grabbeigaben deuten auf ausgeprägte Jenseitsvorstellungen dieses schriftlosen und sehr heterogenen Volkes bin. Es scheint eine Art Paradies gegeben zu haben sowie einen feurigen Ort, wo die Bösen litten (die Unterscheidungskriterien sind allerdings unklar). Bei den Ostslawen entscheidend war auch die Art des Todes (natürlich oder unnatürlich bzw. rein/unrein, vor letzterem hatte man Angst, da die so Gestorbenen als Geister umgingen); ein Kult der Familienahnen scheint verbreitet gewesen zu sein. Es gab eine friedliche Vorstellung vom Leben nach dem Tode, entsprechend einen ausgeprägten Begräbniskult mit Grabbeigaben, kein Totengericht. Die Seele verließ nach dem Tod den Körper, blieb entweder vor Ort oder ging in ein Jenseits ein. Die Überlieferungslage für die altslawische Religion ist allerdings besonders schlecht und zudem stark christlich eingefärbt.
Baltische und finno-ugrische Religion
Beide Religionen zeigen sehr archaische Züge und kennen kein Totengericht.[112]
Die baltische Mythologie ist ein typischer Himmels- und Agrarkult auf der Basis einer allerdings durchaus positiven Schicksalserwartung. Wie bei den Kelten überquert der Tote problemlos die Grenze zum Jenseits, das auch die Welt der Götter ist, ohne Erwartung irgendwelcher Sanktionen.
Die finno-ugrische Religion wiederum hat in ihrem Zentrum einen Kult der Familienahnen. Ausführliche Begräbnisriten waren erforderlich, um den Toten derart zum heiligen Ahnen zu machen. Andere Tote wurden allerdings zu teils bösen Geistern, die durch zahlreiche Riten ferngehalten werden mussten.
Thraker und Illyrer
Über die Religion der Illyrer, einer Gruppe von indoeuropäischen Stämmen im westlichen Balkan unklarer Sprache und Herkunft, ist recht wenig bekannt. Sie waren Träger der Hallstatt-Kultur. Es gab offenbar einen Stammestotemismus.
Die religiösen Vorstellungen der zwischen Unterlauf der Donau und Ägäis lebenden, eventuell indoeuropäischen Thraker weisen starke Ähnlichkeiten mit denen der Griechen auf. Nach Herodot, der ihnen eine regelrechte Todessehnsucht nachsagte (Historiae V, 4), glaubten sie an die Unsterblichkeit der Seele, hatten sehr positive Jenseitsvorstellungen und betrieben einen Mysterienkult mit Elementen der Seelenwanderung, wie man sie auch in der Orphik findet. Ihr fast luxuriöser Bestattungskult – die Grabanlagen waren wie bei den Etruskern prächtig ausgemalt – weist viele wertvolle Grabbeigaben auf. Irgend geartete Totengerichtsvorstellungen sind schon deshalb ähnlich den Skythen unwahrscheinlich.[113]
Mesoamerikanische und andine Religionen
Statuette des aztekischen Totengottes Mictlantecuhtli, der über das nördliche Totenreich herrschte (Brit. Museum). Er wird meist mit einem Totenkopf und herabhängenden Knochen dargestellt.
Übersicht
Die Religionen dieser präkolumbianischen Regionen[114] nicht nur der formativen (1500 v. Chr.–100 n. Chr.),[115] sondern auch der klassischen (100 v. Chr.–900 n. Chr.) und nachklassischen Periode (900–1519) sind noch stark schamanisch geprägt. Wie in Alteuropa gab es hier erhebliche zeitliche (z. B. Olmeken, Zapoteken, Tolteken, Mixteken, Chavin, Nazca, Paracas, Mochica, Chimu usw.), regionale und lokale Unterschiede (z. B. La Venta, Teotihuacan, Monte Alban, Tikal, Palenque, Copán, Chichen Itza, Tenochtitlan, Tiahuanaco) in Kult und Götterwelt, wobei bestimmte Grundzüge und Mythen offenbar allen gemeinsam waren, etwa der Mythos vom Jaguarmann. Auch das Überlieferungsproblem stellt sich hier in aller Schärfe.
Eigentliche Jenseitsvorstellungen: Es gab im gesamten Altamerika Vorstellungen einer Seelenwanderung, bei der die Seele – man konnte auch mehrere haben (wie bei den Ägyptern) – auf Tiere überging oder von Tieren auf Menschen, eine noch völlig schamanische Vorstellung. Die Jenseitsvorstellungen sind im Rahmen kultureller Unterschiede zwischen den einzelnen präkolumbianischen Kulturen Mesoamerikas relativ ähnlich.
Mesoamerika
Die Maya-Religion war beherrscht von der Unterwerfung unter den Willen der Götter und die Gesetze des Universums mit einem ausgeprägten Prädestinationsglauben sowie einem starken Bewusstsein für Sünde in diesem Sinne als Vergehen gegen diese Gesetze, die von den Priestern aufgrund astronomischer und Orakel-Techniken bestimmt wurden. Dabei wurden zahlreiche Opfer dargebracht, vor allem auch Menschenopfer. Im Gegensatz zu den zentralmexikanischen Religionen gibt es bei den Mayas aber kein Paradies. Zyklische eschatologische Konzepte auf der Grundlage eines komplexen Kalenders waren bereits ausgeprägt. Bei den Mayas genossen besonders königliche Tote besondere Aufmerksamkeit, denn sie wurden für göttlich gehalten.[116]
Die Religion der Azteken war wohl der am höchsten entwickelte Teil ihrer Kultur, obwohl sie auf den Religionen der Vorgängerkulturen wie Mayas, Olmeken und Tolteken etc. fußt, jedoch weit komplexer ist als diese. Das Universum wurde als instabil betrachtet und musste durch ständige Opfer stabilisiert werden. Die meisten Götter waren wie bei den Mayas Vegetationsgottheiten. Das Schicksal war nun völlig den allmächtigen Gesetzen des Kalenders unterworfen.[117]
Bei den Azteken existiert anders als etwa in der ägyptischen Religion kein eigentliches, auf das Abwägen von Verdiensten und Vergehen gerichtetes, also rechtlich bzw. ethisch orientiertes Totengericht, allerhöchstens ein von äußerlichen Ansätzen abgeleitetes, wie man es ja bereits von anderen alten Religionen kennt. Aufgabe des Menschen war es, für Götter und Weltordnung zu kämpfen und zu sterben. Magie, Orakel und Zeichen beherrschten das Alltagsleben; die Weltsicht war stark pessimistisch. Dazu existierte dort generell ein Ahnenkult, der allerdings auch ein Fruchtbarkeitskult war. Die mesoamerikanischen Götter sind meist Vegetationsgottheiten für Regen, Mais usw. Die Jenseitsvorstellung der Azteken ist nicht von der irdischen Lebensführung einer Person, sondern von der Todesart und der früheren beruflich-sozialen Stellung der Totenseele abhängig, deren Potenz sie mit ins Totenreich nimmt (deutliches Zeichen einer sich von der Volksreligion stark unterscheidenden Herrschaftsreligion). Auch eine enge Beziehung zum Opferblut, also wiederum eine Verbindung zur Fruchtbarkeit, ist für alle präkolumbianischen Kulturen charakteristisch; ebenso ein teils exzessiver Opferkult mit Menschenopfern.
Kosmologisch gab es eine Dreiteilung der Welt in Oberwelt, feste und Wasserwelt und Unterwelt nach schamanischem Muster. Diese Hauptwelten waren wiederum teils extrem unterteilt in bis zu 13 Überwelten und neun bis 13 Unterwelten, letztere als teils gefahrvolle Aufenthaltsorte der Seelen. Das Ganze wird überlagert von einem zyklischen kosmogonischen Viererprinzip (vier Weltzeitalter, vier Quadranten der vier Himmelsrichtungen usw.).
Beherrscht wurde diese Unterwelt von den zwölf, häufig mit dem Jaguaremblem, dem Symbol der Dunkelheit und der Unterwelt, geschmückten dunklen Herren mit Namen wie „Eins-Tod“, „Hervorbringer des Eiters“, „Knochenstab“ oder „Blut ist seine Klaue“, also de facto schamanische Dämonen, wie sie ja auch die mesopotamische Unterwelt bevölkern. Wer starb, der musste nach der Vorstellung der Mayas und Azteken, aber wohl auch schon der ihnen vorausgehenden Völker an einen Ort der Angst (Xibalba) hinabsteigen und, geführt von einem Totenhund (ganz ähnlich dem Cerberos der Griechen), den gefährlichen Weg hinab auf sich nehmen, dabei einen siebenarmigen Unterweltsfluss überqueren. Von den Herren der Unterwelt wurde er dann geprüft und gedemütigt, bis diese die Seele wieder freiließen. Es scheint also, dass es eine Art allgemeines Totengericht doch in Ansätzen gegeben hat, jedoch weniger als eine Art Prüfinstanz, denn es herrschte ja offenbar dämonische Willkür und der unerklärliche Wille der Götter (ähnlich der mesopotamischen Unterwelt), sondern eher als Verteilerfunktion. Auch ist das anschließende Verfahren nicht ganz klar (gerade die religiösen Texte wurden von den spanischen Eroberern vernichtet), sofern es so etwas überhaupt gab.
Es gab im Totenreich vier Paradiese, entsprechend den vier Himmelsrichtungen: Die im Kampf getöteten Krieger gingen direkt in das östliche Paradies ein, das „Sonnenhaus“ Tonatiuhichan, wo sie mit den Menschen zusammentrafen, die den Opfertod gestorben waren. Ebenso gab es ein westliches Paradies, das „Maishaus“ Cincalco, für die im Kinderbett Gestorbenen, denen ebenfalls Verehrung zuteilwurde, die dann allerdings gelegentlich des Nachts an Kreuzungen auftauchten und denjenigen, der ihnen dort begegnete, mit Lähmung schlugen. Ins südliche, als äußerst fruchtbar geschilderte Paradies gelangten die Toten, deren Tod mit dem Regengott Tlaloc assoziiert wurde, also Ertrunkene, vom Blitz Erschlagene, aber auch solche, die an Lepra oder anderen Krankheiten gestorben waren.
Zum nördlichen Totenreich Mictlan führte hingegen kein direkter Weg. Um Mictlan zu erreichen, mussten an neun verschiedenen Orten Mutproben bestanden werden, bevor man nach vier Jahren dort eingelassen wurde. Auch einen Totengott Mictlantecuhtli gab es, der zusammen mit seiner Gattin Mictecacíhuatl das nördliche Totenreich beherrschte. War der Tote dort angelangt, verschwand er ganz einfach.
Das Schöpferpaar Ometecuhtli und Omecihuatl lebte im obersten der 13 (oder 9) Jenseitsbereiche. Hierher gelangten als einzige menschliche Toten die gestorbenen Kleinkinder. Noch jenseits dieses Himmels vermutete man Tloque Nahuaque, den „Allgegenwärtigen“ und vermutlich das, was im Schamanismus der eine oberste Weltengott gewesen war, wie er in fast allen Religionen irgendwo vorkommt.
Andine Religionen
In Südamerika sind vor allem in den Vorläuferkulturen der Inkas Mumienkulte in Nekropolen nachweisbar, etwa die Paracas-Nekropole, die auf den Glauben an ein körpergebundenes Weiterleben nach dem Tode hinweisen. Da hier keine Schriftzeugnisse, sondern nur archäologische Befunde vorliegen, sind weitere Vermutungen zur Religion dieser Kulturen spekulativ. Der Reichtum der Bestattungen vor allem der religiösen und weltlichen Führungsschicht schon in den Vorinka-Kulturen wie Mochia, Aymara, Chimu oder Nazca deutet allerdings auf bestimmte Jenseitsvorstellungen, die aber nicht genauer verifizierbar sind, jedoch auf eine Wirkung der Toten auf die Fruchtbarkeit hinweisen.[118] Die Chimu wie später auch die Inkas glaubten offenbar zudem, ein Monarch oder Adeliger werde nach seinem Tod in seinem Palast weiterleben. Derart luxuriöse Begräbniskulte wie auch die Mumifizierungen signalisieren interkulturell aber häufig, dass man glaubte, die Beigaben könnten in eine jenseitige Welt mitgenommen werden, die entsprechend der diesseitigen sozial stark geschichtet und ein Spiegel des Diesseits war. Ob es dabei wie etwa in Ägypten Totengerichtsverfahren gab, ist unklar, aber vor diesem sozialen und religiösen Hintergrund fraglich.
Typisch für die Inkas war ein Sonnen- und Mondkult, der vor allem als Staatskult imponierte, indes der Volksglaube wie auch in Mesoamerika noch stark animistisch-schamanisch geprägt blieb, denn in seinem Zentrum stehen Tier- und Ahnenkult (Vorfahren galten als heilig) sowie ein Kult von durch Götter repräsentierten Naturerscheinungen und -kräften (besonders Felsen), wie er sich etwa im teils bis heute lebendigen Kult der früher auch als Begräbnisstätten genutzten Huacas äußerte und wie er bis in die Moderne bei den nativen Indianerkulturen Südamerikas teilweise noch lebendig ist.[119] Für den Inka selbst wurde angenommen, er nehme im Jenseits dieselbe gottgleiche Position ein wie im Diesseits, für den Adel, der einen reichen Begräbniskult entwickelte, galten entsprechende Abstufungen. Für die Inkas ist jedoch im Unterschied zu den mesoamerikanischen Kulturen ein Totengericht auch nicht in Ansätzen bekannt. Man weiß allerdings, dass die Unterwelt mit dem Gedeihen der Pflanzen zu tun hatte, so dass die alte Gedankenverbindung Tod und Fruchtbarkeit naheliegt, zumal es im Zusammenhang mit dem Tod zahlreiche sexuelle Darstellungen gibt. Die Unterwelt galt somit als Quelle des Lebens, eine für frühe Bauernkulturen typische Haltung. Menschenopfer waren in diesem Zusammenhang häufig, denn nach altperuanischer Vorstellung tranken die Toten Blut.[120]
Lebende Religionen
Abrahamitische Religionen
Abraham ist im Judentum, Christentum und Islam eine zentrale Figur. Er wird auch im Koran häufig und ausführlich erwähnt (2., 6., 19., 21. Sure). Hier: Abraham soll Isaak opfern, eine Abbildung aus dem islamischen Kulturkreis der Timuriden, Anfang 15. Jahrhundert.
Vor allem in den abrahamitischen Großreligionen ist das Konzept des Totengerichts eng mit eschatologischen Vorstellungen von Apokalypse, Auferstehung, Letztem Gericht und Erlösung verbunden. Vorhandene oder übernommene Totengerichtsvorstellungen gehen schließlich darin auf, wobei Reste allerdings bestehen bleiben, oder sie werden durch äußere Einwirkungen und überkommene heidnische Traditionen modifiziert. Dies gilt vor allem im Christentum und im Islam mit ihren ausgeprägten und formalisierten Jenseitsvorstellungen, die, meist als mittelalterliche Spätentwicklungen, hochdifferenziert sein können und daher vor „Eintritt“ wiederum gewisse Prüfmechanismen erfordern. Diese sind allerdings oft relativ widersprüchlich, ja verschwommen oder werden wie im Christentum, insbesondere in seiner Gnaden- und Rechtfertigungslehre, oder in der Prädestinationslehre des Islam abermals in den göttlichen und daher unerforschlichen Willen hineinverlegt, dem man aber sekundär menschliche Gerechtigkeitsvorstellungen unterschiebt, wie das besonders schön in Dantes „Göttlicher Komödie“ mit ihren hochscholastischen Sündensystematisierungen und Strafdifferenzierungen zu beobachten ist und wie das vor allem für die Machtsicherung von Kirche und Staat, aber auch des Kalifates in Spätantike, Mittelalter und Neuzeit nützlich gewesen ist.[121] (Es gibt alleine im Inferno mehrere Dutzend davon mit jeweils „zuständigen“ Höllenkreisen und Strafarten, entsprechendes gilt für das Purgatorio, ja sogar als Grad der Seligkeit für das Paradies.)
Aus antiken, meist griechischen Traditionen sind hie und da insbesondere in das Christentum und Judentum (etwa in der Gnosis und hier ganz extrem bei den Karpokratianern) auch Gedanken der Seelenwanderung eingedrungen, haben sich meist jedoch nicht halten können, vor allem wenn sie mit dem Auferstehungs- und Erlösungsgedanken konkurrieren mussten, der die potentiell endlosen Zyklen einer Seelenwanderung positiv überlagern konnte, sofern nicht ein unabänderlicher Aufstieg der Seele bis hinein in das Göttliche selbst imaginiert wurde. Im kabbalistischen Chassidismus hat die vor allem im Buch Sohar entwickelte Vorstellung der Seelenwanderung Gilgul allerdings seit dem späten Mittelalter Fuß gefasst.[122] Der Zoroastrismus hat ebenfalls mit seinem extremen Gut-Böse-Dualismus und den damit einhergehenden Totengerichtsvorstellungen auf die abrahamitischen Religionen wesentlich eingewirkt (etwa im Manichäismus und in den von diesem abgeleiteten Sekten, die gewöhnlich von der Kirche massiv verfolgt wurden, da sie ihr Machtprivileg bedrohten).
Von besonderer Bedeutung ist zudem die Frage, inwieweit die Etablierung des in den monotheistischen Religionen besonders ausgeprägten institutionalisierten Totengerichts von dem in diesen Religionen zentralen Gewaltgedanken und exklusiven Wahrheitsbegriff beeinflusst ist, wie ihn Jan Assmann beschrieb. Damit einher geht nämlich auch die außerordentliche Bedeutung der Sünde und die exklusive Anbindung an den einen Gott, die eine ausgeprägte Reue bei der meist unvermeidlichen Übertretung seiner Gesetze produziert und einen Mechanismus zu deren Auflösung erfordert.[123]
Judentum
Das Judentum[124] spiegelt in seinen Entwicklungsstufen zahlreiche der in späteren Schwesterreligionen auftretenden Vorstellungen zu Tod, Jenseits und Eschatologie, weshalb es hier etwas ausführlicher betrachtet werden soll. Seine Vorstellungen sind allerdings außerordentlich heterogen und nur im historischen Längsschnitt vernünftig darstellbar. Denn in Palästina überlagern sich verschiedene historische und religiöse Entwicklungen. Zudem brachten die jüdischen Stämme je ihre eigenen Traditionen über das Leben nach dem Tode mit. Nekromantie war, obwohl offiziell verboten, verbreitet (vgl. Sauls Besuch bei der Hexe von Endor). Grundsätzlich lassen sich insgesamt fünf Entwicklungsphasen unterscheiden:[125]
Nomadenperiode und Vorexilzeit (Erstes Reich bis ca. 539 v. Chr.): Über die früheste Zeit des Nomadentums und ihre Jenseitsvorstellungen ist wenig bekannt. Eine Vergeltung nach dem Tode gab es jedenfalls nicht.[126] Die Kulte ähnelten denen der übrigen vorpalästinensischen und palästinensischen Religionen (siehe oben) mit ihren Fruchtbarkeitsmythen. Mit der Verehrung der Patriarchen und Erzmütter, später der Richter und von Gründergestalten wie Mose, Saul, David, Salomon und den Propheten zeigen sich auch Spuren einer auf die Kollektivität des Volkes bezogenen Ahnenverehrung, wie sie für frühe Nomaden, aus denen die Stämme Israels ja hervorgegangen sind, typisch waren. Und nicht umsonst führen sich auch die Sippen und Stämme Israels auf Stammesväter zurück.[127] Verbreitet war in dieser Periode der Glaube an Sippenschutzgötter (Teraphim) und eventuell Ahnengeister. Typisch für diese Periode dürfte die sogenannte Stiftshütte gewesen sein, ein transportables Gebäude, in dem die Bundeslade aufbewahrt wurde.
Über den Bestattungskult weiß man wenig, ebenso über die Jenseitsvorstellungen. An eine Vergeltung nach dem Tode glaubte man aber nicht, denn Gott strafte die Menschen entweder im Diesseits oder in ihren Nachkommen.[128] Die jüdische Eschatologie dieser Periode ist aber insofern einzigartig, als sie sich hauptsächlich mit dem kollektiven Schicksal der jüdischen Nation beschäftigt, jedoch kaum Interesse zeigt für das Schicksal des Einzelnen nach dem Tod (vgl. Pred. [Kohelet] 9, 5).[129]
Die primären Jenseitsvorstellungen des Judentums sind in der archaischen Periode Israels vor dem Exil extrem pessimistisch. Der Tod gehörte ursprünglich nicht zur Schöpfung, sondern war Folge des Sündenfalls; zudem sind die Darstellungen von Genesis 1–11 zur Entstehung des Bösen sehr uneinheitlich.[130] Auch eine Vorstellung von Leib und Seele und einem entsprechenden Dualismus gab es nicht (das war ein griechisches Konzept), vielmehr wurde das Leben einheitlich gesehen, und Blut galt als Seele oder doch als deren Träger. Zunächst ging man daher im frühen Judentum davon aus, dass es kein Weiterleben nach dem Tode gibt und damit auch keine Unsterblichkeit (außer indirekt durch Nachkommen). Man wünschte sich entsprechend ein langes irdisches Leben, um dieses Schicksal so lange wie möglich hinauszuschieben. Das Totenreich Scheol, in das unterschiedslos alle Toten gelangten, hatte keine Verbindung mehr mit Gott, unterlag allerdings seiner Oberhoheit. Es wurde als unterirdisch, kalt und dunkel vorgestellt und folgt offenbar mesopotamischen Vorbildern. Alle Unterschiede, auch Gut und Böse, hörten dort auf, es gab kein Denken, Fühlen und keine Weisheit. Ein hier überflüssiges Totengericht gab es somit nicht. Nur ganz wenige Menschen, die Gott direkt zu sich nahm, entrannen dem. Ewigkeitsvorstellungen bezogen sich stets auf das gesamte auserwählte Volk Israel. Die Striktheit der altjüdischen, vorexilischen Todesvorstellung hat allerdings paradoxerweise dazu geführt, dass sich zahllose Riten der Lebenden um den Tod entwickelten, die alle den Sinn hatten, das Gedächtnis an den Verstorbenen bei den Lebenden so lange wie möglich zu erhalten, da er nur so in gewissem Sinne weiterlebte. Zudem verfuhr man mit dem toten Körper extrem sorgfältig, da er Eigentum Gottes sei und daher nicht zerstört werden dürfe und später, als man eine Auferstehung für denkbar hielt, abermals unversehrt zur Verfügung stehen müsse, was allerdings die Frage impliziert, warum Gott das nicht von sich aus gewährleistete, also der Hilfe der Menschen dabei bedurfte. Wann die Vorstellung von einer Seele aufkam, ist unklar, zumal es dafür zwei Worte gab: nefesch und ruach.
Illumination zum Psalm 137 „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten“ (Chludov-Psalter, 9. Jh.). Aus diesem Babylonischen Exil brachten die Juden allerdings auch einige Elemente ihrer Religion mit, nicht zuletzt auch manche Jenseitsvorstellungen.
Babylonisches Exil (597–538 v. Chr.) und Nachexilzeit (Zweites Reich 538 v. Chr. bis 70. n. Chr.): In einer späteren, nachexilischen Periode kam es dann bereits zu einer ersten Differenzierung des Totenreiches, als man begann, die Scheol von der Gehenna zu unterscheiden, die nun als Strafort vorgestellt wurde (Eingang im Hinnomtal), entsprechend der griechischen Unterscheidung zwischen Hades und Tartaros, die wohl über den Hellenismus (4. Jh. vor bis 2. Jh. nach Chr.) ins Judentum eingedrungen ist. Gehenna ist die griechische Form von Gehinnom.
Die ebenfalls stark durch mesopotamische Vorstellungen beeinflusste, später während der Perserherrschaft durch den Zoroastrismus zusätzlich angereicherte, eher verworrene Kosmologie der Juden verhinderte offenbar zudem eine deutliche Ausprägung von Jenseitsvorstellungen. Nach S. A. Tokarew ersetzte die bereits vorexilisch in Erscheinung getretene Idee des „Auserwähltseins des Volkes Israel“, die vor allem nachexilisch in der Zeit des Zweiten Tempels besonders auffällig in Erscheinung trat, nun mehr und mehr die Idee der Vergeltung nach dem Tode, da nach Verschärfung der Klassengegensätze die Notwendigkeit entstand, dem unterdrückten Volk eine Art religiösen Trost zu spenden, der in den meisten Religionen als Vergeltung nach dem Tode und Belohnung im Jenseits für die Leiden im Diesseits entschädigt und damit ein Totengericht notwendig macht, das hier nun aber wegen der rein kollektiven Auserwähltseinsvorstellung individuell überflüssig war, zumal die göttlichen Strafen das Volk stets bereits im Diesseits trafen. Auch die Reformen der Könige Hiskia und vor allem Josia zielten bereits in diese Richtung.[131]
Das religionsphilosophische Gedankengut des Hellenismus hat hingegen trotz dessen zeitweilig großen Einflusses vor allem im östlichen Mittelmeerraum in dieser Periode kaum Spuren im Judentum hinterlassen, und seine abstrakten metaphysischen Begriffe sind nicht oder kaum in es eingedrungen bzw. erst sehr viel später in der ersten Phase der Diaspora. Jenseitsvorstellungen, Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele, von einer Vergeltung nach dem Tode usw. fehlen noch völlig. Gott belohnt und bestraft die Menschen hier auf der Erde, wenn nicht unmittelbar, so doch ihre Nachkommenschaft.[132] Später und bereits in der Endphase des staatlichen Judentums der ersten beiden vorchristlichen Jahrhunderte gewann dann zunächst bei Jesaja (26,19), später bei Daniel (168 v. Chr.) die Lehre von der Auferstehung des Leibes, teilweise bei Daniel mit dem Gedanken der Belohnung oder Bestrafung, immer mehr Anhänger (zuerst galt sie den im Kampf Gefallenen), wurde jedoch, wie auch die Idee eines dann notwendigen Totengerichtes, etwa von den Sadduzäern strikt abgelehnt, für die der Tod das absolute Ende bedeutete (so Paulus, Apg. 23, . Allerdings erhielt Scheol nun mehrere „Abteilungen“, je nach der Sündhaftigkeit der Insassen.
Wichtig sind in diesem Zusammenhang die drei damals um die Zeitenwende konkurrierenden theologischen Strömungen des Judentums, Sadduzäer, Pharisäer und Essener, von denen letztlich nur die Pharisäer im Rabbinismus überlebten. Nach dem bedeutendsten jüdischen Historiker Flavius Josephus (37/38 bis ca. 100 n. Chr.), dessen Überlieferungen hier jedoch unvollständig bis verzerrt sein könnten, glaubten die Sadduzäer, der Mensch habe einen freien Willen, die Essener glaubten an eine Prädestination des Menschen, während die Pharisäer einen freien Willen mit einem Vorherwissen Gottes lehrten (ähnlich die Aschariten im Islam). Die Pharisäer unterschieden sich darin weiter von den Sadduzäern, die die Jerusalemer Tempelpriester stellten, dass sie an eine Auferstehung der Toten glaubten, die unter der Erde gerichtet würden. Die Gerechten gehen in andere Körper über (womit keine Seelenwanderung gemeint sein dürfte, da es sich hier wohl nicht um materielle Körper gehandelt hat), indes die Bösen auf ewig bestraft und in Gefangenschaft gehalten werden. Das ewige Leben verliert nach der Mischna nur, wer die Auferstehung der Toten, den göttlichen Ursprung der Thora, der bis heute wichtigsten religiösen Grundlage des Judentumes, oder die göttliche Fügung des menschlichen Schicksals leugnet. Die Leistung der Pharisäer bestand darin, die Ausrichtung des Judentums auf den Tempel zu überwinden, indem sie den Alltag durch Einhaltung jüdischer Vorschriften heiligten. Jesus stand in seiner Lehre sowohl den Essenern wie den Pharisäern nahe. Insgesamt übte der Hellenismus mit orphischem und platonischem Gedankengut ab dem 1. vorchristlichen Jahrhundert nun zunehmend Einfluss auf das Judentum und seine Vorstellungen über den Tod aus.[133]
Talmudische Periode und Rabbinismus (bis ca. 700 n. Chr.): Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. und dem Beginn der Diaspora gewann die rabbinische Lehre vom Messias immer mehr Anhänger, und hellenistisches Gedankengut setzte sich, bedingt durch das Zusammenleben mit diesen Völkern, endgültig durch. Damit verbunden war der Glaube an eine leibliche Auferstehung des Körpers im Rahmen einer Eschatologie, der sich seither auch in strikten Begräbnisvorschriften wie dem Verbot der Feuerbestattung, der Autopsie und der den Körper ja teilweise zerstörenden Mumifizierung usw. niederschlägt. Das Judentum wandelte sich so von einer reinen, ethnisch und diesseitig bestimmten Offenbarungsreligion (durch die Erzväter, Moses und die Propheten) mit dem Ziel des „Gelobten Landes“ zur Erlösungsreligion mit jenseitiger Ausrichtung auf eine Auferstehung und ein ewiges Leben. Daraus ergab sich allerdings auch die theoretische Notwendigkeit, eine quasi vorselektierende Zwischeninstanz zu erdenken, welche die Menschen entsprechend verteilte in Hölle (Gehenna) und den Wartebereich Scheol für das Paradies Gan Eden, dem allerdings eher vage gedachten Ort der Gerechten nach dem Tod bzw. einem Jüngsten Gericht, das nun ebenso notwendig blieb. Das Strafgericht, so glaubte man, werde in Gehenna zwölf Monate (bei Einhaltung des Sabbats auch dort, da an diesem Tage keine Feuer brennen dürfen) dauern und sich an der Rechtschaffenheit der Menschen orientieren, auch der der Nichtjuden.[134] Die alte und vor allem durch Klassengegensätze beförderte Idee, sich durch gute Werke im Diesseits (und das Studium der Thora) die ewige Seligkeit im Jenseits zu erwerben, gewann nun im Talmud an Bedeutung.[135]
Das mittelalterliche Judentum (700 bis ca. 1750 n. Chr.): Im rabbinischen Judentum der Diaspora hatte ein gravierender theologischer Wandel eingesetzt, und die Auferstehung (bis heute vor allem im Achtzehnbittengebet, dem Schemone Esre präsent) samt Jüngstem Gericht und ewigem Leben im Paradies wurden nun wohl auch durch Aufnahme christlichen Gedankengutes als solche akzeptiert, ein Vorgang, der bis zum 9. Jahrhundert abgeschlossen war, wobei die Orthodoxie von der leiblichen Auferstehung ausgeht, das moderne Judentum hingegen die Auferstehung als geistig-seelischen Erlösungsprozess versteht. Vor allem die mystisch orientierte Kabbala widmete sich dem Problem der Wiedergeburt und des Totengerichtes, indem sie eine hochkomplexe Struktur der menschlichen Seele entwarf, wobei nur deren niedrigste Stufe nefesh, die animalische Seele, göttliche Strafen zu erdulden hatte, die geistige Seele ruach jedoch ins Paradies eingelassen wurde und die unbefleckte Seele neschamah in Gott einging. Dabei entwickelten sich dann auch Vorstellungen einer Seelenwanderung Gilgul. Dabei wurde die leibliche Wiederauferstehung als gegenüber dem wahren ewigen Leben nur als minderwertig angesehen.[136]
Das moderne Judentum ab 1750: Der Messianismus und der Auferstehungsgedanke sind heute ein zentraler Gedanke vor allem des orthodoxen Judentums. Das rationalem Gedankengut anhängende reformierte Judentum der Haskala lehnte beides allerdings ab und meidet vor allem im 20. Jahrhundert alle Diskussionen um das Leben nach dem Tod. Beide Konzepte waren als unverrückbare Hoffnung während der fast zweitausend Jahre der Diaspora wohl auch dringend notwendig, denn sie hielten wie die strikte Einhaltung der überkommenen Grundsätze und Riten das Volk zusammen, mit komplexen Vorschriftskatalogen wie etwa im Schulchan Aruch, der neben anderem auch die Kaschrut-Speisegesetze enthält. Allerdings hat dieses Verhalten nicht wenig zu einer Isolierung und Ghettoisierung der Juden in anderen Gesellschaften und damit zum Antijudaismus und Antisemitismus mit seinen immer wieder aufflammenden Pogromen beigetragen, vor allem in Polen und Russland. Doch liegt der Schwerpunkt im Judentum nach wie vor auf der diesseitigen Welt, da der Mensch nur hier das Gute aufnehmen und tun kann. Das Hauptinteresse des Judentums richtete sich seither auf die Wiederkunft des Messias und was dabei geschehen würde, Hoffnungen, in denen sich ekstatische Katastrophenfantasien mit Erlösungsvorstellungen vom Bau des dritten Tempels und eher realistischen historisch-politischen Vorstellungen (Zionismus, Groß-Israel, Siedlerbewegung) kontrovers bündeln und etwa dem Staat Israel einen nicht geringen Teil seiner inneren wie äußeren Spannungen bescheren.
Die moderne jüdische Theologie hat sich auch unter dem Einfluss der rationalistischen Philosophie Baruch Spinozas der Diskussion über eine praktische Ausgestaltung von Jenseits und Totengericht allerdings weitgehend entzogen, vor allem mit dem Kunstgriff, den Tod nun als Schlaf an einem rein geistigen Ort (so später der unter dem Einfluss aristotelischen Gedankengutes stehende Maimonides) anzusehen mit einem Erwachen beim Jüngsten Gericht, von dem die Gottlosen, also vor allem die Nichtjuden (und früher die Sklaven), allerdings ausgeschlossen bleiben (und die Christus dann durch seinen Tod samt Höllenfahrt erlöste, was vor allem in der Unterschicht des Römischen Reiches und bei den Sklaven zu seinem großen Erfolg erheblich beitrug). Es entstanden so zwei konträre, auch in den eschatologischen und Jenseitsvorstellungen unvereinbare theologische Strömungen, die das Judentum (und den Staat Israel) bis heute bestimmen:
der letztlich zur Haskala, der jüdischen Aufklärung, führende Rationalismus eines Maimonides und Moses Mendelssohns, der auch den Zionismus eines Theodor Herzl mit hervorbrachte,
die dem entgegengesetzte, in den osteuropäischen Chassidismus und die Ultraorthodoxie führende Mystik der Kabbala, vor allem des Buches Sohar, die nicht zuletzt in die nationalreligiösen Parteien oder die Siedlerbewegung etwa der Gusch Emunim mündete.[137]
Einen weiteren tiefen Einfluss auf diese Konzepte hat dann die Schoah ausgeübt. Wie sehr davon beeinflusste Straf- und Gerichtsvorstellungen noch heute das orthodoxe Judentum bestimmen, zeigt zum Beispiel eine später unter öffentlichem Druck formal wieder zurückgenommenen Aussage des hochrangigen ultrakonservativen Rabbiners Ovadja Josef aus dem Jahre 2000: „Die sechs Millionen Juden, welche von den Händen der verfluchten Nazis ermordet wurden, waren wiederbelebte Seelen von Sündern, die gesündigt hatten und andere zur Sünde verleiteten, sowie alle mögliche (für Juden) verbotene Dinge taten. Ihre armen Seelen kamen zurück, um durch all die schlimmen Folterungen und durch ihren Tod von ihren Sünden gereinigt zu werden.“[138]
Christentum
Botticellis Karte der Hölle zu Dantes Inferno
Grundlagen: Der Tod ist der Kern der christlichen Religion. Er kam mit dem Sündenfall in die Welt und beherrscht seither das menschliche Schicksal. Fragt man aber nach einem christlichen Totengericht, so trifft man auf ein fast undurchdringliches Dickicht aus historisch wuchernden Vorstellungen, die jüdische, griechisch-hellenistische, orientalische und mittelalterliche Entwicklungen (Patristik, Scholastik, Mystik) und Einflüsse in sich vereinen und immer wieder auch politische Situationen widerspiegeln (z. B. West- und Ostrom, Schismen, Zweischwerterlehre, Reformation).[139] Deren Machtansprüche nahmen auf Jenseitsglauben und Totengericht Einfluss (sehr schön bei Dante, der die ihm missliebigen Päpste und Fürsten in die Hölle verbannte) und nutzten diese ökonomisch. Beispiele sind die Kreuzzüge[140] und der die Reformation mit auslösende Ablasshandel. Dabei kam es schließlich etwa mit der Ketzer- und Hexenverbrennung und dem Kirchenbann bzw. der Exkommunikation zum paradoxen Phänomen eines de facto ins Diesseits verlegten Totengerichtes, denn die Verbrennungen wurden damit begründet, dass die Opfer nur der ewigen Verdammnis entgingen, weil so die Seele durch das Feuer gereinigt würde. Zu diesem Zweck richtete die Kirche Ende des 12. Jahrhunderts eine eigene gerichtliche Institution, die Heilige Inquisition ein; und auch der Bann bedeutete den Ausschluss von der allein durch die Kirche vermittelten göttlichen Gnade mit, wie Heinrich IV. vor Canossa wusste, auch drohendem weltlichem Machtverlust.
Tatsache ist außerdem, dass ein solches vorläufiges Gericht trotz aller Legenden über Dämonen, Todesengel, Geister, verirrte Seelen usw. (Halloween!) im Christentum des Neuen Testamentes als geschlossenes und in sich stimmiges Konstrukt wie etwa im Zoroastrismus oder Islam nicht existiert und die Frage nach Art und Struktur des Jenseits vor der Apokalypse ohne genauere Antwort bleibt, die zudem wegen ihrer komplexen und nur Eingeweihten zugänglichen Symbolik der Offenbarung des Johannes eher irreführend wirkt. Der Grund ist einfach: Schon Christus und erst recht seine ersten Anhänger glaubten an eine von ihm ja geweissagte Apokalypse in nächster Zukunft und noch zur Lebenszeit der Evangelisten (Parusie). Weiterführende Konstrukte über Tod und Unterwelt waren daher schlicht zunächst nicht notwendig, eine dann im Laufe der Zeit verständlicherweise immer schmerzlicher empfundene Lücke, in die später leicht heidnische und regional oft sehr unterschiedliche volkstümliche Vorstellungen von teils äußerst brutalen Jenseitsbräuchen, wie sie etwa Dante beschreibt, eindringen und sie ersatzweise füllen konnten. Zudem darf nicht übersehen werden, dass die christliche Lehre von Tod und Auferstehung Christi eng mit den orientalischen Mythen von sterbenden und auferstehenden Göttern (Osiris, Baal, Ischtar, Adonis usw.) zusammenhängt, wie sie bereits im alten Ägypten und später in Palästina im Rahmen von Fruchtbarkeits- und Vegetationskulten ausgeprägt waren.[141] Später kamen noch Vorstellungen der Gnostik und anderer philosophisch-theologischer Strömungen wie des Manichäismus hinzu (Augustinus etwa war einige Zeit Manichäer). Dabei prägte vor allem der Streit darüber, in welcher Form der Körper wiederauferstehen würde, die Debatten. Und die schon in der Parusie angelegte Verwurzelung des Christentums in Endzeitvorstellungen war dominant, insbesondere hoch- und spätmittelalterlich im Verlauf der europäischen Kreuzzüge und Pestepidemien sowie der Entstehung von Sekten wie den Katharern. Der Gedanke der Wiedergeburt verschwand hingegen ab dem 6. Jahrhundert weitgehend aus der christlichen Theologie und lebte vor allem in der Gnostik (bei den Juden in der Kabbala und im Islam z. B. bei den Drusen) als Geheimlehre untergründig fort.[142]
Hieronymus Bosch: „Das Letzte Gericht“ (Triptychon)
Folgende wesentliche, teilweise schlecht miteinander verträgliche allgemeine Aspekte des christlichen Jenseits- und Totengerichtsglaubens, wie sie vor allem vom Apostel Paulus, einem Pharisäer, und den Kirchenvätern formuliert wurden, finden sich:
Die in der Praxis so gut wie unerfüllbaren, teilweise stoischem Denken entstammenden[143] ethischen Ansprüche Gottes wie Demut, Nächstenliebe, Feinden vergeben, linke/rechte Wange hinhalten usw., die quasi, da sie niemand einhalten kann, automatisch Sündhaftigkeit erzeugen. Sie sind viel strenger, ja radikaler als im Judentum (im Islam jedoch wesentlich milder), dessen übriges Erbe das Christentum allerdings übernimmt mitsamt den Vorstellungen zu Gehenna (Hölle), Auferstehung und Messias, wie sie zur Zeit Jesu theologisch diskutiert wurden.
Neu ist damit die Idee der Sündhaftigkeit des Menschen und seiner Erlösung durch göttliche Gnade, die zentralen Denkfiguren des Christentums überhaupt, die dann auch das ethische Fundament des Totengerichtes bilden, wobei die Erlösung allerdings auch durch die bedingungslose Unterordnung unter die Kirche erst garantiert wird.[144]
Die dualistische Lehre der Gnosis mit der zentralen Idee des Logos ging ins Christentum ein, und der Logos verschmolz mit der Gestalt des Erlösers Jesus.[145] Damit war ein Gut-Böse-Dualismus etabliert, der nur in der Gestalt Jesu aufgelöst werden konnte, Voraussetzung für seine spätere Funktion als Weltenrichter, den es so im Judentum nicht gab. Die Lehre von der Dreieinigkeit, die mittelalterliche Mariologie und Heiligenverehrung stellten dann weitere Komponenten eines endzeitlichen Weltgerichts zur Verfügung, die als Fürsprecher oder Verteidiger fungieren konnten. Gleichzeitig wurde das Böse als Satan personifiziert, eine Rolle, die es so im Judentum auch nicht gab und die schon ikonographisch griechische Einflüsse aufnahm (Pan, der wiederum wie die Satyrn auf den frühneolithischen Ziegendämon zurückgeführt werden kann[146]).
Ebenfalls im Mittelpunkt steht der Glaube an die Existenz eines Jenseits und an die Auferstehung sowie an die Existenz einer unsterblichen Seele, deren Identität im Zwischenreich allerdings unklar bleibt. Daraus ergibt sich eine Trennung von Seele und Körper, wie sie bereits in der Patristik postuliert wurde, wobei es vor allem im Mittelalter theologische Kontroversen über die Einzelheiten der Seelenlehre gab und man die Seele in immer mehr Komponenten aufteilte. Jedoch stimmte man bis Descartes zumindest darin überein, die Seele sei gemäß der alten griechischen Konzeption sowohl für Willensbildung, Bewusstsein und Vernunft wie auch für die physiologischen Funktionen einschließlich der Sinneseindrücke verantwortlich. Später hat sich daraus in der abendländischen Philosophie und zuletzt in der Psychologie das bis heute diskutierte Leib-Seele-Problem entwickelt.[147]
Das Schicksal der Toten orientierte sich ursprünglich an der klassischen dreistöckigen Kosmologie Himmel/Erde/Hölle, wie sie noch Dante und John Milton beschrieben haben und wie sie konzeptionell auch noch Goethes Faust zugrunde liegt, ja bis in unser Jahrhundert der christlichen Theologie, vor allem, was die Hölle angeht.
Der Tod ist Folge des Bösen, das durch Adam und Eva in die Welt gekommen ist (Erbsünde, eine Idee, die etwa dem Islam völlig fehlt) und das nun jeder Mensch mit sich trägt als eine vor allem von Augustinus vertretene, unbarmherzige Idee, die daher auch in Ostrom nicht wie in Westrom personalisiert, sondern in kosmologische und heilstheoretische Zusammenhänge von Tod und Auferstehung eingebettet bleibt.[148]
Die Kirche repräsentiert ein weltliches Zwischenreich bis zur Wiederkunft Jesu mit der Auferstehung der Toten, die dann aber keinen materiellen Leib mehr haben, sondern einen spirituellen (soma pneumatikon). Allerdings ist auch dies heftig umstritten.
Wiedererweckt werden alle, erlöst jedoch nur die, die Jesus anhängen. Entschieden wird darüber beim Jüngsten Gericht. Das lässt wie die Lehre vom auserwählten Volk Israel die grundlegende Frage nach der Gerechtigkeit Gottes gegenüber allen seinen Geschöpfen offen.
Gnade und Liebe Gottes sind entsprechend als Mechanismus des eschatologischen Totengerichtes bis heute in ihrer Ausdehnung auf alle, nur christliche, nur gläubige oder gar nur besonders auserwählte Menschen umstritten. Auch für die damit zusammenhängende und besonders im Calvinismus grundlegende Prädestinationslehre gilt ähnliches.
Es ergaben sich entsprechend mehrere teils sich widersprechende und vor allem in den ersten Jahrhunderten durch Sektenbildung gekennzeichnete Entwicklungsphasen und Kernideen:
Nachdem die Naherwartung der Parusie sich nicht erfüllt hatte, wandte man sich zunehmend dem allerdings stets sehr umstrittenen Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung zu. Dabei machten sich nun wieder vorchristliche Vorstellungen breit, nach denen jeder Einzelne bereits im Tode gerichtet würde, um dann bei Gott zu sein oder aber ganz von ihm abgeschnitten. Diese Deutung war Folge der neutestamentlichen Prophezeiungen einer kollektiven Massenauferstehung mit einem darauf folgenden Massentribunal.
Mit der Vorstellung vom Zwischenreich der Toten entstand neben der Idee eines sofortigen Eingehens ins Paradies nach dem Tod, das dieses Zwischenreich vermied, aber auch die Vorstellung von zwei Gerichten, dem persönlichen nach dem Tod und dem eschatologischen am Ende der Zeiten.
Ein weiteres Konzept postulierte den Schlaf der Toten bis zum Letzten Gericht. Das erschien aber ungerecht, da hier die Strafe der Sünder wie die Belohnung der Guten verzögert würden, und Kirchenväter wie Tertullian entwarfen deshalb später von der byzantinischen Kirche Ostroms übernommene Hilfskonstruktionen, die zumindest den Seelen der Gerechten während dieser Periode eine Art Labsal zuteilwerden ließen.[30]
Die Konzeption des Bösen – und sie ist ja Voraussetzung für ein ethisches Totengericht – blieb im Christentum vor allem in seiner Interaktion mit Kultur und Religion sehr uneinheitlich, konnte in ihrer inhärenten Problematik nie wirklich gelöst werden und mündete recht bald entweder in die religiöse Mystik des Volksglaubens oder in die philosophische Theodizee. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Schoah stellte sich das Problem erneut in voller Schärfe.[149]
Diffuse chiliastische Vorstellungen von der Wiederkunft Christi in einem tausend Jahre währenden irdischen Reich (Off. 20,1–6) vor dem eigentlichen Weltende mit einer „Vorweg-Auferstehung“ der Gläubigen noch vor dem Letzten Gericht, eine christlichen Umprägung alter jüdischer Messias-Konzepte, trugen weiter zur Verwirrung bei, zumal auch dann bereits gerichtet und gereinigt wurde, Satan am Ende aber dann doch noch einmal vorübergehend die Oberhand gewann.[150]
All diese sehr inkohärenten Glaubenskonzepte, die zudem das Fehlen einer Möglichkeit zur Neuorientierung nach dem Tode unterstellten, führten im Katholizismus letztlich zur Entwicklung einer Vorstellung vom Limbus und vor allem vom Fegefeuer bzw. Purgatorium (lat. Reinigung), in dem ebendiese Läuterung von minderen Sünden (bei Dante die sieben Todsünden) doch noch möglich war, die allerdings durch die Fürbitte der Kirche verkürzt werden konnte (Ablass wie etwa bei Johann Tetzel: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“[151]). Das setzte nun aber wieder voraus, dass der Urteilsspruch Verdammnis oder Erlösung bereits beim Tode endgültig war, weshalb der Protestantismus diese Lehre strikt ablehnte und sie durch die bereits von Augustinus, ausgehend von Paulus (Röm., 3,28) konzipierte Rechtfertigungslehre ersetzte, bei der letztlich ein individuelles Totengericht unnötig wurde und sich das kollektive durch die göttliche Gnade, die allerdings nur dem Gläubigen zuteilwurde, auf diesen einen Punkt, den des bemühten Glaubens reduzierte.
Man könnte also durchaus philosophisch argumentieren, dass es ein Totengericht im Christentum mit den notwendigen Ideen, Ikonographien, Instanzen und Verfahren zwar konzeptuell und vage gibt – diese aber sind nicht wirklich christlich im engeren, nicht machtpolitisch oder religionsgeschichtlich etc. definierten, dazu auch noch im modernen akzeptablen Sinne.[152]
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere die mittelalterliche Ikonographie des Gerichtes, die sich vor allem an der wegen ihres hochgradigen und extrem esoterischen Bildsymbolismus meist missverstandenen[153] und erst nach 367 n. Chr. kanonisierten, von Martin Luther und Johannes Calvin als unpaulinisch abgelehnten Apokalypse des Johannes (Kap. 21) sowie am jüdischen Garten Eden, Himmlischen Jerusalem und antiken Vorbildern orientiert, dazu auch andere heidnische, z. B. keltische, slawische[154] und germanische[155] Vorstellungen aufnahm bzw. auf diese rückwirkte (vgl. insbesondere „Germanen“). Dabei wurde auf die Abschreckung großer Wert gelegt, andererseits die Hoffnung auf das Himmlische Jerusalem bei den Gläubigen durch besonders prächtige Darstellungen genährt, wohl auch um so von der Hoffnungslosigkeit des irdischen Daseins, die das Leben der damaligen Menschen mit seinen sozialen Missständen meist beherrschte, abzulenken, indem Erlösung und vor allem Gerechtigkeit im Jenseits versprochen wurde. Der Volksglaube hat diese bildlichen Vorstellungen teils bis heute bewahrt, obwohl die moderne Theologie diese Konzepte etwa des Jüngsten Gerichtes mit einem thronenden Richter Jesus über der Schar der Engelschöre längst als mythologisch betrachtet.[156] Manche Sekten, wie zum Beispiel die Zeugen Jehovas, halten allerdings nach wie vor an derartigen endzeitlichen Gerichtsvorstellungen fest und haben sie teilweise noch weiter differenziert und mit oft elitären Auserwähltseinskomplexen versehen.
Weiter geht es in Teil 4
Der altslawische Glaube[111] war noch stark animistisch bis totemistisch geprägt. Teilweise aufwendige Grabbeigaben deuten auf ausgeprägte Jenseitsvorstellungen dieses schriftlosen und sehr heterogenen Volkes bin. Es scheint eine Art Paradies gegeben zu haben sowie einen feurigen Ort, wo die Bösen litten (die Unterscheidungskriterien sind allerdings unklar). Bei den Ostslawen entscheidend war auch die Art des Todes (natürlich oder unnatürlich bzw. rein/unrein, vor letzterem hatte man Angst, da die so Gestorbenen als Geister umgingen); ein Kult der Familienahnen scheint verbreitet gewesen zu sein. Es gab eine friedliche Vorstellung vom Leben nach dem Tode, entsprechend einen ausgeprägten Begräbniskult mit Grabbeigaben, kein Totengericht. Die Seele verließ nach dem Tod den Körper, blieb entweder vor Ort oder ging in ein Jenseits ein. Die Überlieferungslage für die altslawische Religion ist allerdings besonders schlecht und zudem stark christlich eingefärbt.
Baltische und finno-ugrische Religion
Beide Religionen zeigen sehr archaische Züge und kennen kein Totengericht.[112]
Die baltische Mythologie ist ein typischer Himmels- und Agrarkult auf der Basis einer allerdings durchaus positiven Schicksalserwartung. Wie bei den Kelten überquert der Tote problemlos die Grenze zum Jenseits, das auch die Welt der Götter ist, ohne Erwartung irgendwelcher Sanktionen.
Die finno-ugrische Religion wiederum hat in ihrem Zentrum einen Kult der Familienahnen. Ausführliche Begräbnisriten waren erforderlich, um den Toten derart zum heiligen Ahnen zu machen. Andere Tote wurden allerdings zu teils bösen Geistern, die durch zahlreiche Riten ferngehalten werden mussten.
Thraker und Illyrer
Über die Religion der Illyrer, einer Gruppe von indoeuropäischen Stämmen im westlichen Balkan unklarer Sprache und Herkunft, ist recht wenig bekannt. Sie waren Träger der Hallstatt-Kultur. Es gab offenbar einen Stammestotemismus.
Die religiösen Vorstellungen der zwischen Unterlauf der Donau und Ägäis lebenden, eventuell indoeuropäischen Thraker weisen starke Ähnlichkeiten mit denen der Griechen auf. Nach Herodot, der ihnen eine regelrechte Todessehnsucht nachsagte (Historiae V, 4), glaubten sie an die Unsterblichkeit der Seele, hatten sehr positive Jenseitsvorstellungen und betrieben einen Mysterienkult mit Elementen der Seelenwanderung, wie man sie auch in der Orphik findet. Ihr fast luxuriöser Bestattungskult – die Grabanlagen waren wie bei den Etruskern prächtig ausgemalt – weist viele wertvolle Grabbeigaben auf. Irgend geartete Totengerichtsvorstellungen sind schon deshalb ähnlich den Skythen unwahrscheinlich.[113]
Mesoamerikanische und andine Religionen
Statuette des aztekischen Totengottes Mictlantecuhtli, der über das nördliche Totenreich herrschte (Brit. Museum). Er wird meist mit einem Totenkopf und herabhängenden Knochen dargestellt.
Übersicht
Die Religionen dieser präkolumbianischen Regionen[114] nicht nur der formativen (1500 v. Chr.–100 n. Chr.),[115] sondern auch der klassischen (100 v. Chr.–900 n. Chr.) und nachklassischen Periode (900–1519) sind noch stark schamanisch geprägt. Wie in Alteuropa gab es hier erhebliche zeitliche (z. B. Olmeken, Zapoteken, Tolteken, Mixteken, Chavin, Nazca, Paracas, Mochica, Chimu usw.), regionale und lokale Unterschiede (z. B. La Venta, Teotihuacan, Monte Alban, Tikal, Palenque, Copán, Chichen Itza, Tenochtitlan, Tiahuanaco) in Kult und Götterwelt, wobei bestimmte Grundzüge und Mythen offenbar allen gemeinsam waren, etwa der Mythos vom Jaguarmann. Auch das Überlieferungsproblem stellt sich hier in aller Schärfe.
Eigentliche Jenseitsvorstellungen: Es gab im gesamten Altamerika Vorstellungen einer Seelenwanderung, bei der die Seele – man konnte auch mehrere haben (wie bei den Ägyptern) – auf Tiere überging oder von Tieren auf Menschen, eine noch völlig schamanische Vorstellung. Die Jenseitsvorstellungen sind im Rahmen kultureller Unterschiede zwischen den einzelnen präkolumbianischen Kulturen Mesoamerikas relativ ähnlich.
Mesoamerika
Die Maya-Religion war beherrscht von der Unterwerfung unter den Willen der Götter und die Gesetze des Universums mit einem ausgeprägten Prädestinationsglauben sowie einem starken Bewusstsein für Sünde in diesem Sinne als Vergehen gegen diese Gesetze, die von den Priestern aufgrund astronomischer und Orakel-Techniken bestimmt wurden. Dabei wurden zahlreiche Opfer dargebracht, vor allem auch Menschenopfer. Im Gegensatz zu den zentralmexikanischen Religionen gibt es bei den Mayas aber kein Paradies. Zyklische eschatologische Konzepte auf der Grundlage eines komplexen Kalenders waren bereits ausgeprägt. Bei den Mayas genossen besonders königliche Tote besondere Aufmerksamkeit, denn sie wurden für göttlich gehalten.[116]
Die Religion der Azteken war wohl der am höchsten entwickelte Teil ihrer Kultur, obwohl sie auf den Religionen der Vorgängerkulturen wie Mayas, Olmeken und Tolteken etc. fußt, jedoch weit komplexer ist als diese. Das Universum wurde als instabil betrachtet und musste durch ständige Opfer stabilisiert werden. Die meisten Götter waren wie bei den Mayas Vegetationsgottheiten. Das Schicksal war nun völlig den allmächtigen Gesetzen des Kalenders unterworfen.[117]
Bei den Azteken existiert anders als etwa in der ägyptischen Religion kein eigentliches, auf das Abwägen von Verdiensten und Vergehen gerichtetes, also rechtlich bzw. ethisch orientiertes Totengericht, allerhöchstens ein von äußerlichen Ansätzen abgeleitetes, wie man es ja bereits von anderen alten Religionen kennt. Aufgabe des Menschen war es, für Götter und Weltordnung zu kämpfen und zu sterben. Magie, Orakel und Zeichen beherrschten das Alltagsleben; die Weltsicht war stark pessimistisch. Dazu existierte dort generell ein Ahnenkult, der allerdings auch ein Fruchtbarkeitskult war. Die mesoamerikanischen Götter sind meist Vegetationsgottheiten für Regen, Mais usw. Die Jenseitsvorstellung der Azteken ist nicht von der irdischen Lebensführung einer Person, sondern von der Todesart und der früheren beruflich-sozialen Stellung der Totenseele abhängig, deren Potenz sie mit ins Totenreich nimmt (deutliches Zeichen einer sich von der Volksreligion stark unterscheidenden Herrschaftsreligion). Auch eine enge Beziehung zum Opferblut, also wiederum eine Verbindung zur Fruchtbarkeit, ist für alle präkolumbianischen Kulturen charakteristisch; ebenso ein teils exzessiver Opferkult mit Menschenopfern.
Kosmologisch gab es eine Dreiteilung der Welt in Oberwelt, feste und Wasserwelt und Unterwelt nach schamanischem Muster. Diese Hauptwelten waren wiederum teils extrem unterteilt in bis zu 13 Überwelten und neun bis 13 Unterwelten, letztere als teils gefahrvolle Aufenthaltsorte der Seelen. Das Ganze wird überlagert von einem zyklischen kosmogonischen Viererprinzip (vier Weltzeitalter, vier Quadranten der vier Himmelsrichtungen usw.).
Beherrscht wurde diese Unterwelt von den zwölf, häufig mit dem Jaguaremblem, dem Symbol der Dunkelheit und der Unterwelt, geschmückten dunklen Herren mit Namen wie „Eins-Tod“, „Hervorbringer des Eiters“, „Knochenstab“ oder „Blut ist seine Klaue“, also de facto schamanische Dämonen, wie sie ja auch die mesopotamische Unterwelt bevölkern. Wer starb, der musste nach der Vorstellung der Mayas und Azteken, aber wohl auch schon der ihnen vorausgehenden Völker an einen Ort der Angst (Xibalba) hinabsteigen und, geführt von einem Totenhund (ganz ähnlich dem Cerberos der Griechen), den gefährlichen Weg hinab auf sich nehmen, dabei einen siebenarmigen Unterweltsfluss überqueren. Von den Herren der Unterwelt wurde er dann geprüft und gedemütigt, bis diese die Seele wieder freiließen. Es scheint also, dass es eine Art allgemeines Totengericht doch in Ansätzen gegeben hat, jedoch weniger als eine Art Prüfinstanz, denn es herrschte ja offenbar dämonische Willkür und der unerklärliche Wille der Götter (ähnlich der mesopotamischen Unterwelt), sondern eher als Verteilerfunktion. Auch ist das anschließende Verfahren nicht ganz klar (gerade die religiösen Texte wurden von den spanischen Eroberern vernichtet), sofern es so etwas überhaupt gab.
Es gab im Totenreich vier Paradiese, entsprechend den vier Himmelsrichtungen: Die im Kampf getöteten Krieger gingen direkt in das östliche Paradies ein, das „Sonnenhaus“ Tonatiuhichan, wo sie mit den Menschen zusammentrafen, die den Opfertod gestorben waren. Ebenso gab es ein westliches Paradies, das „Maishaus“ Cincalco, für die im Kinderbett Gestorbenen, denen ebenfalls Verehrung zuteilwurde, die dann allerdings gelegentlich des Nachts an Kreuzungen auftauchten und denjenigen, der ihnen dort begegnete, mit Lähmung schlugen. Ins südliche, als äußerst fruchtbar geschilderte Paradies gelangten die Toten, deren Tod mit dem Regengott Tlaloc assoziiert wurde, also Ertrunkene, vom Blitz Erschlagene, aber auch solche, die an Lepra oder anderen Krankheiten gestorben waren.
Zum nördlichen Totenreich Mictlan führte hingegen kein direkter Weg. Um Mictlan zu erreichen, mussten an neun verschiedenen Orten Mutproben bestanden werden, bevor man nach vier Jahren dort eingelassen wurde. Auch einen Totengott Mictlantecuhtli gab es, der zusammen mit seiner Gattin Mictecacíhuatl das nördliche Totenreich beherrschte. War der Tote dort angelangt, verschwand er ganz einfach.
Das Schöpferpaar Ometecuhtli und Omecihuatl lebte im obersten der 13 (oder 9) Jenseitsbereiche. Hierher gelangten als einzige menschliche Toten die gestorbenen Kleinkinder. Noch jenseits dieses Himmels vermutete man Tloque Nahuaque, den „Allgegenwärtigen“ und vermutlich das, was im Schamanismus der eine oberste Weltengott gewesen war, wie er in fast allen Religionen irgendwo vorkommt.
Andine Religionen
In Südamerika sind vor allem in den Vorläuferkulturen der Inkas Mumienkulte in Nekropolen nachweisbar, etwa die Paracas-Nekropole, die auf den Glauben an ein körpergebundenes Weiterleben nach dem Tode hinweisen. Da hier keine Schriftzeugnisse, sondern nur archäologische Befunde vorliegen, sind weitere Vermutungen zur Religion dieser Kulturen spekulativ. Der Reichtum der Bestattungen vor allem der religiösen und weltlichen Führungsschicht schon in den Vorinka-Kulturen wie Mochia, Aymara, Chimu oder Nazca deutet allerdings auf bestimmte Jenseitsvorstellungen, die aber nicht genauer verifizierbar sind, jedoch auf eine Wirkung der Toten auf die Fruchtbarkeit hinweisen.[118] Die Chimu wie später auch die Inkas glaubten offenbar zudem, ein Monarch oder Adeliger werde nach seinem Tod in seinem Palast weiterleben. Derart luxuriöse Begräbniskulte wie auch die Mumifizierungen signalisieren interkulturell aber häufig, dass man glaubte, die Beigaben könnten in eine jenseitige Welt mitgenommen werden, die entsprechend der diesseitigen sozial stark geschichtet und ein Spiegel des Diesseits war. Ob es dabei wie etwa in Ägypten Totengerichtsverfahren gab, ist unklar, aber vor diesem sozialen und religiösen Hintergrund fraglich.
Typisch für die Inkas war ein Sonnen- und Mondkult, der vor allem als Staatskult imponierte, indes der Volksglaube wie auch in Mesoamerika noch stark animistisch-schamanisch geprägt blieb, denn in seinem Zentrum stehen Tier- und Ahnenkult (Vorfahren galten als heilig) sowie ein Kult von durch Götter repräsentierten Naturerscheinungen und -kräften (besonders Felsen), wie er sich etwa im teils bis heute lebendigen Kult der früher auch als Begräbnisstätten genutzten Huacas äußerte und wie er bis in die Moderne bei den nativen Indianerkulturen Südamerikas teilweise noch lebendig ist.[119] Für den Inka selbst wurde angenommen, er nehme im Jenseits dieselbe gottgleiche Position ein wie im Diesseits, für den Adel, der einen reichen Begräbniskult entwickelte, galten entsprechende Abstufungen. Für die Inkas ist jedoch im Unterschied zu den mesoamerikanischen Kulturen ein Totengericht auch nicht in Ansätzen bekannt. Man weiß allerdings, dass die Unterwelt mit dem Gedeihen der Pflanzen zu tun hatte, so dass die alte Gedankenverbindung Tod und Fruchtbarkeit naheliegt, zumal es im Zusammenhang mit dem Tod zahlreiche sexuelle Darstellungen gibt. Die Unterwelt galt somit als Quelle des Lebens, eine für frühe Bauernkulturen typische Haltung. Menschenopfer waren in diesem Zusammenhang häufig, denn nach altperuanischer Vorstellung tranken die Toten Blut.[120]
Lebende Religionen
Abrahamitische Religionen
Abraham ist im Judentum, Christentum und Islam eine zentrale Figur. Er wird auch im Koran häufig und ausführlich erwähnt (2., 6., 19., 21. Sure). Hier: Abraham soll Isaak opfern, eine Abbildung aus dem islamischen Kulturkreis der Timuriden, Anfang 15. Jahrhundert.
Vor allem in den abrahamitischen Großreligionen ist das Konzept des Totengerichts eng mit eschatologischen Vorstellungen von Apokalypse, Auferstehung, Letztem Gericht und Erlösung verbunden. Vorhandene oder übernommene Totengerichtsvorstellungen gehen schließlich darin auf, wobei Reste allerdings bestehen bleiben, oder sie werden durch äußere Einwirkungen und überkommene heidnische Traditionen modifiziert. Dies gilt vor allem im Christentum und im Islam mit ihren ausgeprägten und formalisierten Jenseitsvorstellungen, die, meist als mittelalterliche Spätentwicklungen, hochdifferenziert sein können und daher vor „Eintritt“ wiederum gewisse Prüfmechanismen erfordern. Diese sind allerdings oft relativ widersprüchlich, ja verschwommen oder werden wie im Christentum, insbesondere in seiner Gnaden- und Rechtfertigungslehre, oder in der Prädestinationslehre des Islam abermals in den göttlichen und daher unerforschlichen Willen hineinverlegt, dem man aber sekundär menschliche Gerechtigkeitsvorstellungen unterschiebt, wie das besonders schön in Dantes „Göttlicher Komödie“ mit ihren hochscholastischen Sündensystematisierungen und Strafdifferenzierungen zu beobachten ist und wie das vor allem für die Machtsicherung von Kirche und Staat, aber auch des Kalifates in Spätantike, Mittelalter und Neuzeit nützlich gewesen ist.[121] (Es gibt alleine im Inferno mehrere Dutzend davon mit jeweils „zuständigen“ Höllenkreisen und Strafarten, entsprechendes gilt für das Purgatorio, ja sogar als Grad der Seligkeit für das Paradies.)
Aus antiken, meist griechischen Traditionen sind hie und da insbesondere in das Christentum und Judentum (etwa in der Gnosis und hier ganz extrem bei den Karpokratianern) auch Gedanken der Seelenwanderung eingedrungen, haben sich meist jedoch nicht halten können, vor allem wenn sie mit dem Auferstehungs- und Erlösungsgedanken konkurrieren mussten, der die potentiell endlosen Zyklen einer Seelenwanderung positiv überlagern konnte, sofern nicht ein unabänderlicher Aufstieg der Seele bis hinein in das Göttliche selbst imaginiert wurde. Im kabbalistischen Chassidismus hat die vor allem im Buch Sohar entwickelte Vorstellung der Seelenwanderung Gilgul allerdings seit dem späten Mittelalter Fuß gefasst.[122] Der Zoroastrismus hat ebenfalls mit seinem extremen Gut-Böse-Dualismus und den damit einhergehenden Totengerichtsvorstellungen auf die abrahamitischen Religionen wesentlich eingewirkt (etwa im Manichäismus und in den von diesem abgeleiteten Sekten, die gewöhnlich von der Kirche massiv verfolgt wurden, da sie ihr Machtprivileg bedrohten).
Von besonderer Bedeutung ist zudem die Frage, inwieweit die Etablierung des in den monotheistischen Religionen besonders ausgeprägten institutionalisierten Totengerichts von dem in diesen Religionen zentralen Gewaltgedanken und exklusiven Wahrheitsbegriff beeinflusst ist, wie ihn Jan Assmann beschrieb. Damit einher geht nämlich auch die außerordentliche Bedeutung der Sünde und die exklusive Anbindung an den einen Gott, die eine ausgeprägte Reue bei der meist unvermeidlichen Übertretung seiner Gesetze produziert und einen Mechanismus zu deren Auflösung erfordert.[123]
Judentum
Das Judentum[124] spiegelt in seinen Entwicklungsstufen zahlreiche der in späteren Schwesterreligionen auftretenden Vorstellungen zu Tod, Jenseits und Eschatologie, weshalb es hier etwas ausführlicher betrachtet werden soll. Seine Vorstellungen sind allerdings außerordentlich heterogen und nur im historischen Längsschnitt vernünftig darstellbar. Denn in Palästina überlagern sich verschiedene historische und religiöse Entwicklungen. Zudem brachten die jüdischen Stämme je ihre eigenen Traditionen über das Leben nach dem Tode mit. Nekromantie war, obwohl offiziell verboten, verbreitet (vgl. Sauls Besuch bei der Hexe von Endor). Grundsätzlich lassen sich insgesamt fünf Entwicklungsphasen unterscheiden:[125]
Nomadenperiode und Vorexilzeit (Erstes Reich bis ca. 539 v. Chr.): Über die früheste Zeit des Nomadentums und ihre Jenseitsvorstellungen ist wenig bekannt. Eine Vergeltung nach dem Tode gab es jedenfalls nicht.[126] Die Kulte ähnelten denen der übrigen vorpalästinensischen und palästinensischen Religionen (siehe oben) mit ihren Fruchtbarkeitsmythen. Mit der Verehrung der Patriarchen und Erzmütter, später der Richter und von Gründergestalten wie Mose, Saul, David, Salomon und den Propheten zeigen sich auch Spuren einer auf die Kollektivität des Volkes bezogenen Ahnenverehrung, wie sie für frühe Nomaden, aus denen die Stämme Israels ja hervorgegangen sind, typisch waren. Und nicht umsonst führen sich auch die Sippen und Stämme Israels auf Stammesväter zurück.[127] Verbreitet war in dieser Periode der Glaube an Sippenschutzgötter (Teraphim) und eventuell Ahnengeister. Typisch für diese Periode dürfte die sogenannte Stiftshütte gewesen sein, ein transportables Gebäude, in dem die Bundeslade aufbewahrt wurde.
Über den Bestattungskult weiß man wenig, ebenso über die Jenseitsvorstellungen. An eine Vergeltung nach dem Tode glaubte man aber nicht, denn Gott strafte die Menschen entweder im Diesseits oder in ihren Nachkommen.[128] Die jüdische Eschatologie dieser Periode ist aber insofern einzigartig, als sie sich hauptsächlich mit dem kollektiven Schicksal der jüdischen Nation beschäftigt, jedoch kaum Interesse zeigt für das Schicksal des Einzelnen nach dem Tod (vgl. Pred. [Kohelet] 9, 5).[129]
Die primären Jenseitsvorstellungen des Judentums sind in der archaischen Periode Israels vor dem Exil extrem pessimistisch. Der Tod gehörte ursprünglich nicht zur Schöpfung, sondern war Folge des Sündenfalls; zudem sind die Darstellungen von Genesis 1–11 zur Entstehung des Bösen sehr uneinheitlich.[130] Auch eine Vorstellung von Leib und Seele und einem entsprechenden Dualismus gab es nicht (das war ein griechisches Konzept), vielmehr wurde das Leben einheitlich gesehen, und Blut galt als Seele oder doch als deren Träger. Zunächst ging man daher im frühen Judentum davon aus, dass es kein Weiterleben nach dem Tode gibt und damit auch keine Unsterblichkeit (außer indirekt durch Nachkommen). Man wünschte sich entsprechend ein langes irdisches Leben, um dieses Schicksal so lange wie möglich hinauszuschieben. Das Totenreich Scheol, in das unterschiedslos alle Toten gelangten, hatte keine Verbindung mehr mit Gott, unterlag allerdings seiner Oberhoheit. Es wurde als unterirdisch, kalt und dunkel vorgestellt und folgt offenbar mesopotamischen Vorbildern. Alle Unterschiede, auch Gut und Böse, hörten dort auf, es gab kein Denken, Fühlen und keine Weisheit. Ein hier überflüssiges Totengericht gab es somit nicht. Nur ganz wenige Menschen, die Gott direkt zu sich nahm, entrannen dem. Ewigkeitsvorstellungen bezogen sich stets auf das gesamte auserwählte Volk Israel. Die Striktheit der altjüdischen, vorexilischen Todesvorstellung hat allerdings paradoxerweise dazu geführt, dass sich zahllose Riten der Lebenden um den Tod entwickelten, die alle den Sinn hatten, das Gedächtnis an den Verstorbenen bei den Lebenden so lange wie möglich zu erhalten, da er nur so in gewissem Sinne weiterlebte. Zudem verfuhr man mit dem toten Körper extrem sorgfältig, da er Eigentum Gottes sei und daher nicht zerstört werden dürfe und später, als man eine Auferstehung für denkbar hielt, abermals unversehrt zur Verfügung stehen müsse, was allerdings die Frage impliziert, warum Gott das nicht von sich aus gewährleistete, also der Hilfe der Menschen dabei bedurfte. Wann die Vorstellung von einer Seele aufkam, ist unklar, zumal es dafür zwei Worte gab: nefesch und ruach.
Illumination zum Psalm 137 „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten“ (Chludov-Psalter, 9. Jh.). Aus diesem Babylonischen Exil brachten die Juden allerdings auch einige Elemente ihrer Religion mit, nicht zuletzt auch manche Jenseitsvorstellungen.
Babylonisches Exil (597–538 v. Chr.) und Nachexilzeit (Zweites Reich 538 v. Chr. bis 70. n. Chr.): In einer späteren, nachexilischen Periode kam es dann bereits zu einer ersten Differenzierung des Totenreiches, als man begann, die Scheol von der Gehenna zu unterscheiden, die nun als Strafort vorgestellt wurde (Eingang im Hinnomtal), entsprechend der griechischen Unterscheidung zwischen Hades und Tartaros, die wohl über den Hellenismus (4. Jh. vor bis 2. Jh. nach Chr.) ins Judentum eingedrungen ist. Gehenna ist die griechische Form von Gehinnom.
Die ebenfalls stark durch mesopotamische Vorstellungen beeinflusste, später während der Perserherrschaft durch den Zoroastrismus zusätzlich angereicherte, eher verworrene Kosmologie der Juden verhinderte offenbar zudem eine deutliche Ausprägung von Jenseitsvorstellungen. Nach S. A. Tokarew ersetzte die bereits vorexilisch in Erscheinung getretene Idee des „Auserwähltseins des Volkes Israel“, die vor allem nachexilisch in der Zeit des Zweiten Tempels besonders auffällig in Erscheinung trat, nun mehr und mehr die Idee der Vergeltung nach dem Tode, da nach Verschärfung der Klassengegensätze die Notwendigkeit entstand, dem unterdrückten Volk eine Art religiösen Trost zu spenden, der in den meisten Religionen als Vergeltung nach dem Tode und Belohnung im Jenseits für die Leiden im Diesseits entschädigt und damit ein Totengericht notwendig macht, das hier nun aber wegen der rein kollektiven Auserwähltseinsvorstellung individuell überflüssig war, zumal die göttlichen Strafen das Volk stets bereits im Diesseits trafen. Auch die Reformen der Könige Hiskia und vor allem Josia zielten bereits in diese Richtung.[131]
Das religionsphilosophische Gedankengut des Hellenismus hat hingegen trotz dessen zeitweilig großen Einflusses vor allem im östlichen Mittelmeerraum in dieser Periode kaum Spuren im Judentum hinterlassen, und seine abstrakten metaphysischen Begriffe sind nicht oder kaum in es eingedrungen bzw. erst sehr viel später in der ersten Phase der Diaspora. Jenseitsvorstellungen, Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele, von einer Vergeltung nach dem Tode usw. fehlen noch völlig. Gott belohnt und bestraft die Menschen hier auf der Erde, wenn nicht unmittelbar, so doch ihre Nachkommenschaft.[132] Später und bereits in der Endphase des staatlichen Judentums der ersten beiden vorchristlichen Jahrhunderte gewann dann zunächst bei Jesaja (26,19), später bei Daniel (168 v. Chr.) die Lehre von der Auferstehung des Leibes, teilweise bei Daniel mit dem Gedanken der Belohnung oder Bestrafung, immer mehr Anhänger (zuerst galt sie den im Kampf Gefallenen), wurde jedoch, wie auch die Idee eines dann notwendigen Totengerichtes, etwa von den Sadduzäern strikt abgelehnt, für die der Tod das absolute Ende bedeutete (so Paulus, Apg. 23, . Allerdings erhielt Scheol nun mehrere „Abteilungen“, je nach der Sündhaftigkeit der Insassen.
Wichtig sind in diesem Zusammenhang die drei damals um die Zeitenwende konkurrierenden theologischen Strömungen des Judentums, Sadduzäer, Pharisäer und Essener, von denen letztlich nur die Pharisäer im Rabbinismus überlebten. Nach dem bedeutendsten jüdischen Historiker Flavius Josephus (37/38 bis ca. 100 n. Chr.), dessen Überlieferungen hier jedoch unvollständig bis verzerrt sein könnten, glaubten die Sadduzäer, der Mensch habe einen freien Willen, die Essener glaubten an eine Prädestination des Menschen, während die Pharisäer einen freien Willen mit einem Vorherwissen Gottes lehrten (ähnlich die Aschariten im Islam). Die Pharisäer unterschieden sich darin weiter von den Sadduzäern, die die Jerusalemer Tempelpriester stellten, dass sie an eine Auferstehung der Toten glaubten, die unter der Erde gerichtet würden. Die Gerechten gehen in andere Körper über (womit keine Seelenwanderung gemeint sein dürfte, da es sich hier wohl nicht um materielle Körper gehandelt hat), indes die Bösen auf ewig bestraft und in Gefangenschaft gehalten werden. Das ewige Leben verliert nach der Mischna nur, wer die Auferstehung der Toten, den göttlichen Ursprung der Thora, der bis heute wichtigsten religiösen Grundlage des Judentumes, oder die göttliche Fügung des menschlichen Schicksals leugnet. Die Leistung der Pharisäer bestand darin, die Ausrichtung des Judentums auf den Tempel zu überwinden, indem sie den Alltag durch Einhaltung jüdischer Vorschriften heiligten. Jesus stand in seiner Lehre sowohl den Essenern wie den Pharisäern nahe. Insgesamt übte der Hellenismus mit orphischem und platonischem Gedankengut ab dem 1. vorchristlichen Jahrhundert nun zunehmend Einfluss auf das Judentum und seine Vorstellungen über den Tod aus.[133]
Talmudische Periode und Rabbinismus (bis ca. 700 n. Chr.): Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. und dem Beginn der Diaspora gewann die rabbinische Lehre vom Messias immer mehr Anhänger, und hellenistisches Gedankengut setzte sich, bedingt durch das Zusammenleben mit diesen Völkern, endgültig durch. Damit verbunden war der Glaube an eine leibliche Auferstehung des Körpers im Rahmen einer Eschatologie, der sich seither auch in strikten Begräbnisvorschriften wie dem Verbot der Feuerbestattung, der Autopsie und der den Körper ja teilweise zerstörenden Mumifizierung usw. niederschlägt. Das Judentum wandelte sich so von einer reinen, ethnisch und diesseitig bestimmten Offenbarungsreligion (durch die Erzväter, Moses und die Propheten) mit dem Ziel des „Gelobten Landes“ zur Erlösungsreligion mit jenseitiger Ausrichtung auf eine Auferstehung und ein ewiges Leben. Daraus ergab sich allerdings auch die theoretische Notwendigkeit, eine quasi vorselektierende Zwischeninstanz zu erdenken, welche die Menschen entsprechend verteilte in Hölle (Gehenna) und den Wartebereich Scheol für das Paradies Gan Eden, dem allerdings eher vage gedachten Ort der Gerechten nach dem Tod bzw. einem Jüngsten Gericht, das nun ebenso notwendig blieb. Das Strafgericht, so glaubte man, werde in Gehenna zwölf Monate (bei Einhaltung des Sabbats auch dort, da an diesem Tage keine Feuer brennen dürfen) dauern und sich an der Rechtschaffenheit der Menschen orientieren, auch der der Nichtjuden.[134] Die alte und vor allem durch Klassengegensätze beförderte Idee, sich durch gute Werke im Diesseits (und das Studium der Thora) die ewige Seligkeit im Jenseits zu erwerben, gewann nun im Talmud an Bedeutung.[135]
Das mittelalterliche Judentum (700 bis ca. 1750 n. Chr.): Im rabbinischen Judentum der Diaspora hatte ein gravierender theologischer Wandel eingesetzt, und die Auferstehung (bis heute vor allem im Achtzehnbittengebet, dem Schemone Esre präsent) samt Jüngstem Gericht und ewigem Leben im Paradies wurden nun wohl auch durch Aufnahme christlichen Gedankengutes als solche akzeptiert, ein Vorgang, der bis zum 9. Jahrhundert abgeschlossen war, wobei die Orthodoxie von der leiblichen Auferstehung ausgeht, das moderne Judentum hingegen die Auferstehung als geistig-seelischen Erlösungsprozess versteht. Vor allem die mystisch orientierte Kabbala widmete sich dem Problem der Wiedergeburt und des Totengerichtes, indem sie eine hochkomplexe Struktur der menschlichen Seele entwarf, wobei nur deren niedrigste Stufe nefesh, die animalische Seele, göttliche Strafen zu erdulden hatte, die geistige Seele ruach jedoch ins Paradies eingelassen wurde und die unbefleckte Seele neschamah in Gott einging. Dabei entwickelten sich dann auch Vorstellungen einer Seelenwanderung Gilgul. Dabei wurde die leibliche Wiederauferstehung als gegenüber dem wahren ewigen Leben nur als minderwertig angesehen.[136]
Das moderne Judentum ab 1750: Der Messianismus und der Auferstehungsgedanke sind heute ein zentraler Gedanke vor allem des orthodoxen Judentums. Das rationalem Gedankengut anhängende reformierte Judentum der Haskala lehnte beides allerdings ab und meidet vor allem im 20. Jahrhundert alle Diskussionen um das Leben nach dem Tod. Beide Konzepte waren als unverrückbare Hoffnung während der fast zweitausend Jahre der Diaspora wohl auch dringend notwendig, denn sie hielten wie die strikte Einhaltung der überkommenen Grundsätze und Riten das Volk zusammen, mit komplexen Vorschriftskatalogen wie etwa im Schulchan Aruch, der neben anderem auch die Kaschrut-Speisegesetze enthält. Allerdings hat dieses Verhalten nicht wenig zu einer Isolierung und Ghettoisierung der Juden in anderen Gesellschaften und damit zum Antijudaismus und Antisemitismus mit seinen immer wieder aufflammenden Pogromen beigetragen, vor allem in Polen und Russland. Doch liegt der Schwerpunkt im Judentum nach wie vor auf der diesseitigen Welt, da der Mensch nur hier das Gute aufnehmen und tun kann. Das Hauptinteresse des Judentums richtete sich seither auf die Wiederkunft des Messias und was dabei geschehen würde, Hoffnungen, in denen sich ekstatische Katastrophenfantasien mit Erlösungsvorstellungen vom Bau des dritten Tempels und eher realistischen historisch-politischen Vorstellungen (Zionismus, Groß-Israel, Siedlerbewegung) kontrovers bündeln und etwa dem Staat Israel einen nicht geringen Teil seiner inneren wie äußeren Spannungen bescheren.
Die moderne jüdische Theologie hat sich auch unter dem Einfluss der rationalistischen Philosophie Baruch Spinozas der Diskussion über eine praktische Ausgestaltung von Jenseits und Totengericht allerdings weitgehend entzogen, vor allem mit dem Kunstgriff, den Tod nun als Schlaf an einem rein geistigen Ort (so später der unter dem Einfluss aristotelischen Gedankengutes stehende Maimonides) anzusehen mit einem Erwachen beim Jüngsten Gericht, von dem die Gottlosen, also vor allem die Nichtjuden (und früher die Sklaven), allerdings ausgeschlossen bleiben (und die Christus dann durch seinen Tod samt Höllenfahrt erlöste, was vor allem in der Unterschicht des Römischen Reiches und bei den Sklaven zu seinem großen Erfolg erheblich beitrug). Es entstanden so zwei konträre, auch in den eschatologischen und Jenseitsvorstellungen unvereinbare theologische Strömungen, die das Judentum (und den Staat Israel) bis heute bestimmen:
der letztlich zur Haskala, der jüdischen Aufklärung, führende Rationalismus eines Maimonides und Moses Mendelssohns, der auch den Zionismus eines Theodor Herzl mit hervorbrachte,
die dem entgegengesetzte, in den osteuropäischen Chassidismus und die Ultraorthodoxie führende Mystik der Kabbala, vor allem des Buches Sohar, die nicht zuletzt in die nationalreligiösen Parteien oder die Siedlerbewegung etwa der Gusch Emunim mündete.[137]
Einen weiteren tiefen Einfluss auf diese Konzepte hat dann die Schoah ausgeübt. Wie sehr davon beeinflusste Straf- und Gerichtsvorstellungen noch heute das orthodoxe Judentum bestimmen, zeigt zum Beispiel eine später unter öffentlichem Druck formal wieder zurückgenommenen Aussage des hochrangigen ultrakonservativen Rabbiners Ovadja Josef aus dem Jahre 2000: „Die sechs Millionen Juden, welche von den Händen der verfluchten Nazis ermordet wurden, waren wiederbelebte Seelen von Sündern, die gesündigt hatten und andere zur Sünde verleiteten, sowie alle mögliche (für Juden) verbotene Dinge taten. Ihre armen Seelen kamen zurück, um durch all die schlimmen Folterungen und durch ihren Tod von ihren Sünden gereinigt zu werden.“[138]
Christentum
Botticellis Karte der Hölle zu Dantes Inferno
Grundlagen: Der Tod ist der Kern der christlichen Religion. Er kam mit dem Sündenfall in die Welt und beherrscht seither das menschliche Schicksal. Fragt man aber nach einem christlichen Totengericht, so trifft man auf ein fast undurchdringliches Dickicht aus historisch wuchernden Vorstellungen, die jüdische, griechisch-hellenistische, orientalische und mittelalterliche Entwicklungen (Patristik, Scholastik, Mystik) und Einflüsse in sich vereinen und immer wieder auch politische Situationen widerspiegeln (z. B. West- und Ostrom, Schismen, Zweischwerterlehre, Reformation).[139] Deren Machtansprüche nahmen auf Jenseitsglauben und Totengericht Einfluss (sehr schön bei Dante, der die ihm missliebigen Päpste und Fürsten in die Hölle verbannte) und nutzten diese ökonomisch. Beispiele sind die Kreuzzüge[140] und der die Reformation mit auslösende Ablasshandel. Dabei kam es schließlich etwa mit der Ketzer- und Hexenverbrennung und dem Kirchenbann bzw. der Exkommunikation zum paradoxen Phänomen eines de facto ins Diesseits verlegten Totengerichtes, denn die Verbrennungen wurden damit begründet, dass die Opfer nur der ewigen Verdammnis entgingen, weil so die Seele durch das Feuer gereinigt würde. Zu diesem Zweck richtete die Kirche Ende des 12. Jahrhunderts eine eigene gerichtliche Institution, die Heilige Inquisition ein; und auch der Bann bedeutete den Ausschluss von der allein durch die Kirche vermittelten göttlichen Gnade mit, wie Heinrich IV. vor Canossa wusste, auch drohendem weltlichem Machtverlust.
Tatsache ist außerdem, dass ein solches vorläufiges Gericht trotz aller Legenden über Dämonen, Todesengel, Geister, verirrte Seelen usw. (Halloween!) im Christentum des Neuen Testamentes als geschlossenes und in sich stimmiges Konstrukt wie etwa im Zoroastrismus oder Islam nicht existiert und die Frage nach Art und Struktur des Jenseits vor der Apokalypse ohne genauere Antwort bleibt, die zudem wegen ihrer komplexen und nur Eingeweihten zugänglichen Symbolik der Offenbarung des Johannes eher irreführend wirkt. Der Grund ist einfach: Schon Christus und erst recht seine ersten Anhänger glaubten an eine von ihm ja geweissagte Apokalypse in nächster Zukunft und noch zur Lebenszeit der Evangelisten (Parusie). Weiterführende Konstrukte über Tod und Unterwelt waren daher schlicht zunächst nicht notwendig, eine dann im Laufe der Zeit verständlicherweise immer schmerzlicher empfundene Lücke, in die später leicht heidnische und regional oft sehr unterschiedliche volkstümliche Vorstellungen von teils äußerst brutalen Jenseitsbräuchen, wie sie etwa Dante beschreibt, eindringen und sie ersatzweise füllen konnten. Zudem darf nicht übersehen werden, dass die christliche Lehre von Tod und Auferstehung Christi eng mit den orientalischen Mythen von sterbenden und auferstehenden Göttern (Osiris, Baal, Ischtar, Adonis usw.) zusammenhängt, wie sie bereits im alten Ägypten und später in Palästina im Rahmen von Fruchtbarkeits- und Vegetationskulten ausgeprägt waren.[141] Später kamen noch Vorstellungen der Gnostik und anderer philosophisch-theologischer Strömungen wie des Manichäismus hinzu (Augustinus etwa war einige Zeit Manichäer). Dabei prägte vor allem der Streit darüber, in welcher Form der Körper wiederauferstehen würde, die Debatten. Und die schon in der Parusie angelegte Verwurzelung des Christentums in Endzeitvorstellungen war dominant, insbesondere hoch- und spätmittelalterlich im Verlauf der europäischen Kreuzzüge und Pestepidemien sowie der Entstehung von Sekten wie den Katharern. Der Gedanke der Wiedergeburt verschwand hingegen ab dem 6. Jahrhundert weitgehend aus der christlichen Theologie und lebte vor allem in der Gnostik (bei den Juden in der Kabbala und im Islam z. B. bei den Drusen) als Geheimlehre untergründig fort.[142]
Hieronymus Bosch: „Das Letzte Gericht“ (Triptychon)
Folgende wesentliche, teilweise schlecht miteinander verträgliche allgemeine Aspekte des christlichen Jenseits- und Totengerichtsglaubens, wie sie vor allem vom Apostel Paulus, einem Pharisäer, und den Kirchenvätern formuliert wurden, finden sich:
Die in der Praxis so gut wie unerfüllbaren, teilweise stoischem Denken entstammenden[143] ethischen Ansprüche Gottes wie Demut, Nächstenliebe, Feinden vergeben, linke/rechte Wange hinhalten usw., die quasi, da sie niemand einhalten kann, automatisch Sündhaftigkeit erzeugen. Sie sind viel strenger, ja radikaler als im Judentum (im Islam jedoch wesentlich milder), dessen übriges Erbe das Christentum allerdings übernimmt mitsamt den Vorstellungen zu Gehenna (Hölle), Auferstehung und Messias, wie sie zur Zeit Jesu theologisch diskutiert wurden.
Neu ist damit die Idee der Sündhaftigkeit des Menschen und seiner Erlösung durch göttliche Gnade, die zentralen Denkfiguren des Christentums überhaupt, die dann auch das ethische Fundament des Totengerichtes bilden, wobei die Erlösung allerdings auch durch die bedingungslose Unterordnung unter die Kirche erst garantiert wird.[144]
Die dualistische Lehre der Gnosis mit der zentralen Idee des Logos ging ins Christentum ein, und der Logos verschmolz mit der Gestalt des Erlösers Jesus.[145] Damit war ein Gut-Böse-Dualismus etabliert, der nur in der Gestalt Jesu aufgelöst werden konnte, Voraussetzung für seine spätere Funktion als Weltenrichter, den es so im Judentum nicht gab. Die Lehre von der Dreieinigkeit, die mittelalterliche Mariologie und Heiligenverehrung stellten dann weitere Komponenten eines endzeitlichen Weltgerichts zur Verfügung, die als Fürsprecher oder Verteidiger fungieren konnten. Gleichzeitig wurde das Böse als Satan personifiziert, eine Rolle, die es so im Judentum auch nicht gab und die schon ikonographisch griechische Einflüsse aufnahm (Pan, der wiederum wie die Satyrn auf den frühneolithischen Ziegendämon zurückgeführt werden kann[146]).
Ebenfalls im Mittelpunkt steht der Glaube an die Existenz eines Jenseits und an die Auferstehung sowie an die Existenz einer unsterblichen Seele, deren Identität im Zwischenreich allerdings unklar bleibt. Daraus ergibt sich eine Trennung von Seele und Körper, wie sie bereits in der Patristik postuliert wurde, wobei es vor allem im Mittelalter theologische Kontroversen über die Einzelheiten der Seelenlehre gab und man die Seele in immer mehr Komponenten aufteilte. Jedoch stimmte man bis Descartes zumindest darin überein, die Seele sei gemäß der alten griechischen Konzeption sowohl für Willensbildung, Bewusstsein und Vernunft wie auch für die physiologischen Funktionen einschließlich der Sinneseindrücke verantwortlich. Später hat sich daraus in der abendländischen Philosophie und zuletzt in der Psychologie das bis heute diskutierte Leib-Seele-Problem entwickelt.[147]
Das Schicksal der Toten orientierte sich ursprünglich an der klassischen dreistöckigen Kosmologie Himmel/Erde/Hölle, wie sie noch Dante und John Milton beschrieben haben und wie sie konzeptionell auch noch Goethes Faust zugrunde liegt, ja bis in unser Jahrhundert der christlichen Theologie, vor allem, was die Hölle angeht.
Der Tod ist Folge des Bösen, das durch Adam und Eva in die Welt gekommen ist (Erbsünde, eine Idee, die etwa dem Islam völlig fehlt) und das nun jeder Mensch mit sich trägt als eine vor allem von Augustinus vertretene, unbarmherzige Idee, die daher auch in Ostrom nicht wie in Westrom personalisiert, sondern in kosmologische und heilstheoretische Zusammenhänge von Tod und Auferstehung eingebettet bleibt.[148]
Die Kirche repräsentiert ein weltliches Zwischenreich bis zur Wiederkunft Jesu mit der Auferstehung der Toten, die dann aber keinen materiellen Leib mehr haben, sondern einen spirituellen (soma pneumatikon). Allerdings ist auch dies heftig umstritten.
Wiedererweckt werden alle, erlöst jedoch nur die, die Jesus anhängen. Entschieden wird darüber beim Jüngsten Gericht. Das lässt wie die Lehre vom auserwählten Volk Israel die grundlegende Frage nach der Gerechtigkeit Gottes gegenüber allen seinen Geschöpfen offen.
Gnade und Liebe Gottes sind entsprechend als Mechanismus des eschatologischen Totengerichtes bis heute in ihrer Ausdehnung auf alle, nur christliche, nur gläubige oder gar nur besonders auserwählte Menschen umstritten. Auch für die damit zusammenhängende und besonders im Calvinismus grundlegende Prädestinationslehre gilt ähnliches.
Es ergaben sich entsprechend mehrere teils sich widersprechende und vor allem in den ersten Jahrhunderten durch Sektenbildung gekennzeichnete Entwicklungsphasen und Kernideen:
Nachdem die Naherwartung der Parusie sich nicht erfüllt hatte, wandte man sich zunehmend dem allerdings stets sehr umstrittenen Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung zu. Dabei machten sich nun wieder vorchristliche Vorstellungen breit, nach denen jeder Einzelne bereits im Tode gerichtet würde, um dann bei Gott zu sein oder aber ganz von ihm abgeschnitten. Diese Deutung war Folge der neutestamentlichen Prophezeiungen einer kollektiven Massenauferstehung mit einem darauf folgenden Massentribunal.
Mit der Vorstellung vom Zwischenreich der Toten entstand neben der Idee eines sofortigen Eingehens ins Paradies nach dem Tod, das dieses Zwischenreich vermied, aber auch die Vorstellung von zwei Gerichten, dem persönlichen nach dem Tod und dem eschatologischen am Ende der Zeiten.
Ein weiteres Konzept postulierte den Schlaf der Toten bis zum Letzten Gericht. Das erschien aber ungerecht, da hier die Strafe der Sünder wie die Belohnung der Guten verzögert würden, und Kirchenväter wie Tertullian entwarfen deshalb später von der byzantinischen Kirche Ostroms übernommene Hilfskonstruktionen, die zumindest den Seelen der Gerechten während dieser Periode eine Art Labsal zuteilwerden ließen.[30]
Die Konzeption des Bösen – und sie ist ja Voraussetzung für ein ethisches Totengericht – blieb im Christentum vor allem in seiner Interaktion mit Kultur und Religion sehr uneinheitlich, konnte in ihrer inhärenten Problematik nie wirklich gelöst werden und mündete recht bald entweder in die religiöse Mystik des Volksglaubens oder in die philosophische Theodizee. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Schoah stellte sich das Problem erneut in voller Schärfe.[149]
Diffuse chiliastische Vorstellungen von der Wiederkunft Christi in einem tausend Jahre währenden irdischen Reich (Off. 20,1–6) vor dem eigentlichen Weltende mit einer „Vorweg-Auferstehung“ der Gläubigen noch vor dem Letzten Gericht, eine christlichen Umprägung alter jüdischer Messias-Konzepte, trugen weiter zur Verwirrung bei, zumal auch dann bereits gerichtet und gereinigt wurde, Satan am Ende aber dann doch noch einmal vorübergehend die Oberhand gewann.[150]
All diese sehr inkohärenten Glaubenskonzepte, die zudem das Fehlen einer Möglichkeit zur Neuorientierung nach dem Tode unterstellten, führten im Katholizismus letztlich zur Entwicklung einer Vorstellung vom Limbus und vor allem vom Fegefeuer bzw. Purgatorium (lat. Reinigung), in dem ebendiese Läuterung von minderen Sünden (bei Dante die sieben Todsünden) doch noch möglich war, die allerdings durch die Fürbitte der Kirche verkürzt werden konnte (Ablass wie etwa bei Johann Tetzel: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“[151]). Das setzte nun aber wieder voraus, dass der Urteilsspruch Verdammnis oder Erlösung bereits beim Tode endgültig war, weshalb der Protestantismus diese Lehre strikt ablehnte und sie durch die bereits von Augustinus, ausgehend von Paulus (Röm., 3,28) konzipierte Rechtfertigungslehre ersetzte, bei der letztlich ein individuelles Totengericht unnötig wurde und sich das kollektive durch die göttliche Gnade, die allerdings nur dem Gläubigen zuteilwurde, auf diesen einen Punkt, den des bemühten Glaubens reduzierte.
Man könnte also durchaus philosophisch argumentieren, dass es ein Totengericht im Christentum mit den notwendigen Ideen, Ikonographien, Instanzen und Verfahren zwar konzeptuell und vage gibt – diese aber sind nicht wirklich christlich im engeren, nicht machtpolitisch oder religionsgeschichtlich etc. definierten, dazu auch noch im modernen akzeptablen Sinne.[152]
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere die mittelalterliche Ikonographie des Gerichtes, die sich vor allem an der wegen ihres hochgradigen und extrem esoterischen Bildsymbolismus meist missverstandenen[153] und erst nach 367 n. Chr. kanonisierten, von Martin Luther und Johannes Calvin als unpaulinisch abgelehnten Apokalypse des Johannes (Kap. 21) sowie am jüdischen Garten Eden, Himmlischen Jerusalem und antiken Vorbildern orientiert, dazu auch andere heidnische, z. B. keltische, slawische[154] und germanische[155] Vorstellungen aufnahm bzw. auf diese rückwirkte (vgl. insbesondere „Germanen“). Dabei wurde auf die Abschreckung großer Wert gelegt, andererseits die Hoffnung auf das Himmlische Jerusalem bei den Gläubigen durch besonders prächtige Darstellungen genährt, wohl auch um so von der Hoffnungslosigkeit des irdischen Daseins, die das Leben der damaligen Menschen mit seinen sozialen Missständen meist beherrschte, abzulenken, indem Erlösung und vor allem Gerechtigkeit im Jenseits versprochen wurde. Der Volksglaube hat diese bildlichen Vorstellungen teils bis heute bewahrt, obwohl die moderne Theologie diese Konzepte etwa des Jüngsten Gerichtes mit einem thronenden Richter Jesus über der Schar der Engelschöre längst als mythologisch betrachtet.[156] Manche Sekten, wie zum Beispiel die Zeugen Jehovas, halten allerdings nach wie vor an derartigen endzeitlichen Gerichtsvorstellungen fest und haben sie teilweise noch weiter differenziert und mit oft elitären Auserwähltseinskomplexen versehen.
Weiter geht es in Teil 4
Andy- Admin
- Anzahl der Beiträge : 36197
Anmeldedatum : 03.04.11
Teil 4
Islam
Der Prophet Mohammed besucht mit Buraq und dem Erzengel Gabriel die Hölle, wo ein Dämon „schamlose Weiber“ peinigt, die ihr Haar Fremden gezeigt haben. Sie werden dafür über den Flammen an ihrem Haar aufgehängt und brennen ewig. Persien, 15. Jh.
Grundlagen: Die Vorstellungen des Islam zu Totengericht, Eschatologie und Jenseits[157] sind weit klarer als die der anderen beiden abrahamitischen Religionen, wenn auch nicht ganz ohne Widersprüche. Das ist vermutlich nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der Islam weit jünger ist und zudem über den Koran verfügt, ein auf den Stifter Mohammed persönlich zurückgehendes, allerdings erst vom dritten Kalifen Uthman kodifiziertes heiliges Buch, das der späteren Ausdeutung Grenzen setzte trotz der starken Zersplitterung des Islam in unterschiedliche Glaubensrichtungen, beginnend mit dem Schisma zwischen Sunniten und Schiiten. Allerdings bietet gerade der Koran kein einheitliches oder gar systematisches Bild in diesem Zusammenhang. Erst die sogenannten „Traditionen“ (Hadith bzw. Sunna) und spätere theologische Abhandlungen präzisierten die Vorstellungen. Der Islam übernahm zudem altägyptische Vorstellungen (Wiegen der Seele) und passte sich dem christlichen Gedanken von Fürbitten und Erlösung an, desgleichen flossen regionale Konzepte eroberter Völker mit ein.[158]
Der Prophet Mohammed (oben rechts) besucht mit Buraq und dem Erzengel Gabriel (oben links) das Paradies. Darunter sieht man einige der legendären Huris, auf Kamelen reitend. Persien, 15. Jh.
Grundlagen:
Vorislamisch war in Arabien der Tod ein Bereich, in den man hinüberging in einen unvergänglichen, aber unbelebten, vom lebendigen Diesseits völlig getrennten kosmischen Raum, über den andere Götter herrschten. Um die Ruhe des Toten zu gewährleisten, waren Bestattungsbräuche sehr wichtig. Ein Mord musste etwa auch im Sinne der Stammesehre gerächt werden, damit der Tote ruhen konnte.
Mit diesen Sitten brach der Islam völlig. Alles untersteht nun Allahs alleiniger Herrschaft, dem absolute Treue und Unterwerfung gebührt. Allah bestimmt nun die Dauer des Lebens. Persönliche Verdienste zählen nichts. Entscheidend ist ausschließlich, dass der Mensch sein Leben im Dienste Gottes führt. Entsprechend wird am Jüngsten Tag auch über ihn gerichtet (2. Sure, 3–.[159] Obwohl der Koran nichts dazu sagt, entwickelten sich bald ausgefeilte Bestattungsbräuche, damit der Tote am Tage der Auferstehung bereit sei. Ein Totenkult wurde in den Traditionen zwar untersagt,[160] doch auch dieser bildete sich nach und nach unter dem Einfluss alter lokaler Traditionen mit prächtigen Grabmälern heraus (vgl. Mameluckenfriedhof in Kairo oder das Tadsch Mahal im indischen Agra oder modern das Chomeini-Mausoleum in Teheran).[160]
Die Ethik des Islam[161] ist einfach und weit leichter erfüllbar als die christliche. Vorgeschrieben wird, gerecht zu sein, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem zu vergelten (im Christentum Böses mit Gutem), freigebig zu sein, den Armen zu helfen etc., dazu auch die formalen Gebote der Fünf Säulen des Islam. Die Ethik geht davon aus, dass die Schöpfung gut ist und der Mensch in ihr eine Bewährungsprobe zu bestehen hat, wobei ihm das koranische Gesetz als Richtschnur dienen soll. Das Prinzip der Gerechtigkeit steht dabei im Mittelpunkt und umfasst alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens, führt im Extremfall zur Anwendung des Talion-Prinzips. Im Zentrum steht dabei stets die Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma. Unerfüllbare moralische Gebote kennt der Islam im Unterschied zum Christentum also nicht.[162] Der Koran ist gleichzeitig das Sittengesetz des Islam und ist für den Muslim somit ein primär göttliches Gesetz.
Eine weitere zentrale Grundlage ist die mit dem Gut-Böse-Problem unmittelbar zusammenhängende Prädestinationslehre des Islam, die innerislamisch schon bald kontrovers diskutiert wurde und theologisch zu mehreren Aufspaltungen führte und deren Deutungsvarianten naturgemäß jeweils wesentliche Auswirkungen auf die inhaltliche Gestaltung des Totengerichtes haben und hatten:[163]
Dschabrianer leugnen jeden freien Willen. Sie sind eine radikale Abspaltung der Aschariten, mit denen sie in den meisten Punkten übereinstimmen.
Qadrianer gestehen dem Menschen einen völlig freien Willen zu und sind den Mutaziliten sehr ähnlich, nach deren Glauben das Sittengesetz nicht durch göttliche Offenbarung festgelegt ist, sondern sich notwendigerweise aus der Natur- bzw. Seinsordnung ergibt. Eine Handlung sei an sich schon gut oder böse, und selbst Gott könne eine böse Tat nicht in eine gute umwerten und umgekehrt.
Aschariten nehmen eine mittlere Position ein und billigen dem Menschen einen eingeschränkt freien Willen im Rahmen des ewigen göttlichen Willens zu. Sie glauben, das Böse sei das, was Gott durch die Offenbarung verbiete, das Gute hingegen das, was er nicht verbiete.
Eine dritte Kernaussage des Islam ist die eschatologische Lehre vom Letzten Gericht und dem Leben nach dem Tode.
Totengerichte:[164] Es gibt im Islam nach dem Tode nicht nur ein Gericht, sondern wie im Christentum deren zwei, die allerdings weit klarer voneinander geschieden sind und auch, was die Zeit dazwischen angeht, besser definiert. Im Grunde kann man, wenn man diese Zwischenzeit miteinbezieht, von drei Gerichten sprechen. Von dem unten geschilderten Ablauf gibt es zudem im Totenbuch des Islam mehrere Varianten:[165]
Zwischengericht: Eine besondere Bedeutung hat dabei der Todesengel Izra’il (diese Vorstellung gibt es auch im mittelalterlichen Christentum wohl als Übernahme aus anderen Religionen, wo es einen solchen Begleiter meist gibt, der andererseits in der Bibel nirgends erwähnt wird). Aufgabe des Todesengels ist es, die Seele Ruh direkt nach dem Tod vom Körper zu trennen (sanft bei Muslimen, grob bei Nichtmuslimen und „unreinen“ Seelen) und mit Hilfe zweier weißgesichtiger Engel zum Himmel zu führen, wo sie, sofern gerecht, aufgenommen in die höchsten Sphären, vor Allah geführt wird, danach aber nochmals zu ihrem Körper auf die Erde zurückkehrt, wo dieser bis zur Auferstehung schläft. Gehört sie aber zu den Verdammten, also den Nichtmuslimen und Schlechtgläubigen (nur dieses Kriterium gilt!), wird sie, nachdem die Seele grob vom Körper getrennt wurde, von zwei schwarzgesichtigen, grünäugigen Engeln zum Himmel getragen, am untersten Himmelstor jedoch abgewiesen, auf die Erde zurückgestoßen und dort von den Höllenwärterengeln zu den anderen Verdammten gebracht.
Befragung im Grab: Sie erfolgt nach der Bestattung und ist, da das Ergebnis ja bereits bekannt ist, eine Art Schauprozess.[166] Der Verstorbene wird dabei von zwei Engeln, Munkar und Nakir (blau und schwarz), durch vier Fragen (Wer ist dein Gott? Wer ist dein Prophet? Was ist deine Religion? Wohin zeigt deine Gebetsrichtung?) auf seinen Glauben geprüft. Antwortet er richtig (die Antworten werden von einem Schreiber notiert), nehmen sich seiner die Engel Mubashar und Bashir an, trösten ihn und verheißen ihm das Paradies. Ansonsten wird er bis zum Letzten Gericht in Ruhe gelassen. Bei falschen Antworten wird der Tote bereits im Grab von den Engeln Nakir und Munkar gepeinigt, indem sie im Grab ein Tor zur Hölle öffnen, während sich das Grab qualvoll eng um den Toten zusammenzieht. Dieses Prinzip der doppelten Strafe ist zwar im Koran nicht direkt belegt, entwickelte sich aber schon früh.
Daran schließt sich in einer Art Schlaf die Wartezeit (al-barzakh) zum durch die Auferstehung eingeleiteten Jüngsten Gericht an. Vor seinem Beginn kommt es aber nochmals zu einer vierzigjährigen Herrschaft des Anti-Christ. Diese Herrschaft wird in einer kosmischen Schlacht durch den Messias nach dem Muster von Harmagedon beendet, dessen Sieg ein Goldenes Zeitalter bis zur Auferstehung einleitet.
Jüngstes Gericht:[167] Während des Jüngsten Gerichts wird jeder Einzelne nochmals von Gott persönlich bewertet und abgeurteilt. Dabei spielen sein Lebensbuch, in dem alle Taten verzeichnet sind, eine Waage (ägyptisch), die gute und böse Taten sowie bereits Gesühntes bewertet, und eine schmale Brücke „Sirat“, die über den Höllenbrand ins Paradies führt[168] (zoroastrisch), eine wesentliche Rolle. Die Verurteilten müssen bis in alle Ewigkeit in der Hölle bleiben und dort endlos physisch leiden, so dass dies auch als „zweiter Tod“ bezeichnet wird. Doch gibt es zwischen Paradies und Hölle noch einen dritten Ort, das A’raf, wo diejenigen bleiben, bei denen gute und böse Taten im Gleichgewicht sind (zoroastrisch). Ihr Aufenthalt dort ist jedoch zeitlich begrenzt, und sie werden, sofern Muslime, später in das Paradies gelassen.
Jenseits und Auferstehung: Die Hölle, die der Koran als brennendes Feuer schildert, ist wie im Christentum mehrfach unterteilt (sieben Teile: Muslime, Juden, Christen etc. haben z. B jeweils eigene Abteilungen). Der Aufenthalt ist nur für die Ungläubigen endlos, für Gläubige hingegen nach Abbüßung ihrer Sünden beendet (fast alle müssen einige Zeit dort büßen).
Das Paradies al-Dschanna (der Garten, Sure 54) wiederum ist in acht Himmel unterteilt, und die dort gebotenen, durchaus sinnlichen (vor allem männlichen) Genüsse (Huris) sind fraglos diesseitig gedacht.
Die durch gewaltige, wohl der jüdischen Eschatologie entnommene Zeichen eingeleitete Auferstehung (Sure 75), die es so in den altarabischen Religionen ebenfalls nicht gab – sicher mit ein Grund für die schnelle Ausbreitung des Islam –, wird ganz lebenspraktisch als glückseliges, für Männer von Sex und Schlemmerei erfülltes Leben im Jenseits verstanden. Der Märtyrer (Schahid) gelangt ohne all diese Zeremonien direkt in dieses Paradies (ein Grund für die Märtyrerseligkeit islamischer Terroristen, denn der Märtyrertod ist das Beste, was ihnen passieren kann. Besonders ausgeprägt ist diese Vorstellung bei Schiiten.[169]) Der Sufismus wiederum etablierte im Laufe der Jahrhunderte eine etwas sanftere Eschatologie, die vor allem die individuelle Verantwortung in den Vordergrund stellte.
Religionssoziologie: Weshalb es im Islam diese noch dazu teils widersprüchliche (einerseits heißt es, alle Toten müssten eine Zeitlang in die Hölle, andererseits sollen die Reinen dem Jüngsten Gericht friedlich entgegenschlummern), teils überflüssige Filterfunktion gibt (ob Muslim oder nicht, wird gleich zweimal geprüft), ist unklar. Im Gegensatz zum Christentum war er jedoch von vorneherein auch eine politische Bewegung, das heißt, ideologisch-religiöse Geschlossenheit war schon früh und fast von Anfang an dazu auch in Gestalt militärischer Potenz enorm wichtig, damit aber auch die Tatsache, dass eroberte Stämme und Völker den Islam übernahmen, um besser beherrscht werden zu können, wobei es regelmäßig zu Adaptionsprozessen mit lokalen Religionen und Bräuchen kam. Diese Instrumentalisierung, die sich vielfältig bereits im Koran findet, hat zweifellos ihre Parallelen zu den wuchernden und ebenfalls als Machtinstrument genutzten Jenseitsvorstellungen des Christentums, im Islam jedoch zusätzlich mit dem Hinweis, dass vor allem Nichtmuslime sich zu fürchten hätten, halbwegs fromme Muslime hingegen weniger oder gar nicht.
Ein grundlegendes Problem des Islam in diesem Zusammenhang ist allerdings die teilweise als äußerst strikt verstandene Prädestinationslehre.[170] Sie schließt an sich eine menschliche Verantwortung völlig aus, da in ihr ein freier Wille nicht vorgesehen ist, zu dem sich der Koran allerdings widersprüchlich äußert. Es gab daher entsprechend auch zahlreiche Kontroversen zu diesem Problem (und drei Denkschulen, siehe oben), das zudem notwendigerweise in das Theodizee-Problem übergeht. Allerdings gibt es im Islam, im Gegensatz zum Christentum (Sünde), kein eigentliches Problem des Bösen, da es nicht als autonom mit dem Seinsgrund verbunden gedacht war, sondern rein individuell, so dass deshalb das philosophische Problem der Theodizee entfiel. Das Böse wird vielmehr als Teil von Gottes Barmherzigkeit, als eine Art Prüfinstanz verstanden, der dem Menschen so die Möglichkeit gibt, das Gute zu tun.[171] Im Koran gibt es daher in Bezug auf menschliches Handeln zwei Ebenen: die der göttlichen Wirkung im Rahmen seines vorherbestimmenden Willens. Darunter existiert die Ebene des Menschen, auf der dieser seine Handlungen im Rahmen des göttlichen Vorwissens eigenverantwortlich ausführt. Die islamische Theologie beschreibt daher auch keine eigentliche Erlösung durch Gott aus Schuld und Sünde, denn es existiert ein „Mitbedenken Gottes in allen irdischen Angelegenheiten“.[172]
Süd- und ostasiatische Religionen
Das Rad des Schicksals, hier ein tibetisches Chakra mit der Hölle als einem der sechs Wege der Wiedergeburt; im Hinduismus, Buddhismus und Jainismus repräsentiert es das zyklische Zeitverständnis dieser Religionen
In den östlichen Systemen des Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, Sikhismus und Daoismus (nicht jedoch im Shintoismus) mit ihrer teils betonten Geringschätzung oder doch zumindest der Hinnahme des Irdischen wird der ethische Konflikt, sofern man ihm überhaupt Bedeutung zugemessen hat, auf dem Wege der Seelenwanderung transpersonal weitergeleitet in jeweils neue, im wünschenswerten Falle stetig nach oben weisende, in der Selbstauflösung des Nirwana endende Existenzformen, deren Eigenart jeweils die Folgen der früheren sind (das kosmisch diesseitig sich manifestierende Dharma, welches das jenseitige Karma bestimmt), so dass man durchaus auch hier von einem Totengericht sprechen kann, da eine Abrechnung mit dem irdischen Lebenswandel indirekt innerhalb bestimmter metaphysischer Abläufe stattfindet, allerdings nach Kriterien, die vor allem Demut und Nächstenliebe zur Grundlage haben. Doch haben sich dann sekundär oder als Übernahme aus älteren Traditionen auch Höllenvorstellungen ausgebildet, und es gab im Hinduismus und Buddhismus einen Totengott Yama (in der chinesischen Religion gleich zehn), der als Richter auftritt und gewisse Ähnlichkeiten mit Ymir aus der nordischen Sagenwelt und Yima aus der Götterwelt des Iran aufweist, was seine Herkunft aus der Götterwelt der arischen Invasoren vermuten lässt, zumal er da wie dort und wie sein Bruder Manu auch als erster Sterblicher erscheint, der somit auch den Tod als Erster erfuhr.[173]
Hinduismus
Grundlagen und Begriffe, soweit für Jenseits und Totengericht relevant (sie sind teilweise auch für den Buddhismus zentral):
Der Hinduismus[174] ist keine monolithische Religion; vielmehr finden sich in ihm vielfältige Traditionen mit einer breiten Menge verschiedener Glaubensrichtungen und Praktiken und zahlreichen geographischen, kulturellen und sprachlichen Erscheinungsformen in ganz Indien und Hinterindien, China und Japan sowie auch auf der südasiatischen Inselwelt, so dass der Hinduismus gelegentlich als „zusammengesetzte Religion“ bezeichnet wird, die aus vielen verschiedenen und mitunter gegensätzlichen Elementen besteht.[175] Er tritt vor allem auf als[176]
klassischer Sanskrit-Hinduismus bzw. Brahmanismus
Volksreligion Südasiens und hinduistische Stammes- und Volksreligion mit starkem Polytheismus bis Animismus
gestiftete Religion mit meist asketischen, oft antibrahmanischen Zügen sowie Basistexten der charismatischen Stifter (z. B. Jainismus, Sikhismus), die gelegentlich als missionierende Erlösungsreligionen auftreten
Entsprechend vielfältig sind auch die Jenseitsvorstellungen. Gemeinsam ist ihnen allen der Ursprung in den Veden, die eine Art Offenbarungsstatus genießen. Alle Hindu-Traditionen halten am Glauben an die Lehre vom Karma als einem Gesetz von Ursache und Wirkung fest, das die moralischen und spirituellen Dimensionen einschließt, auch das Prinzip des freien Willens umfasst und keinesfalls fatalistisch gedeutet werden darf. Der Kreislauf von Geburt, Wiedergeburten und Tod Samsara wiederum ist eng verknüpft mit der Karma-Lehre. Endziel ist Moksha, die Freiheit von Unwissenheit als der eigentlichen Ursache von Leiden und Unfreiheit, das Wissen um die wahre Natur des Selbst (Atman), ein unwandelbares Wissen, das den Kreislauf der Wiedergeburten Samsara durchbricht.
Das Selbst ist in drei Körper gekleidet. Vor allem die Art dieses vom Körper (Nicht-Selbst) geschiedenen Selbst (Analogie: Haus und Bewohner), etwa im Körper oder außerhalb, wird in den verschiedenen Traditionen unterschiedlich interpretiert (manche Traditionen unterschieden sogar fünf Körper).
Neben dem physischen, vergänglichen Körper sthula sarira tritt als zweiter der
„feine Körper“ sukshma sarira, der durch seine Fähigkeit zur Handlung, zur Sinneswahrnehmung sowie durch Geist und Verstand eine Zwischenposition einnimmt und durch den Tod nicht zerstört wird, sondern mit dem Selbst eine enge Verbindung eingeht, bis dieses die letzte Freiheit moksha erreicht. Er ist das individuelle Karma (quasi der Charakter) und trägt alle persönlichen Eigenschaften und das Muster aller Handlungen, Sehnsüchte etc. in sich.
Ein dritter Körper schließlich ist karana sarira, der ursächliche Körper oder Körper des Nichtwissens, eine Art Embryonal- oder Traumzustand des feinen Körpers.
Alle drei Körper sind dem Wandel ausgesetzt, nur das Atman ist wissend und beherrschend. In hinduistischer Sicht ist der Tod die Trennung des feinen Körpers vom physischen Körper. Ist das Individuum nicht endgültig befreit, wird der feine Körper, erhellt vom Bewusstsein des Selbst und identisch mit dem eigenen Karma und den persönlichen Neigungen (Unterschied zum Buddhismus), sich einen anderen physischen Körper suchen, wobei von der individuellen Struktur des feinen Körpers, dem Bewusstsein zum Zeitpunkt des Todes, auch Reise und Ziel nach dem Tode abhängen, so dass eine logische Kontinuität zwischen den einzelnen Leben existiert.
Grundzüge der historischen Entwicklung:[177] Ähnlich der historischen Entwicklung der anderen Großreligionen sind auch hier der in diesem Falle vom Karma-Glauben bestimmte Jenseitsglaube und das zusätzlich dazu und recht systemwidrig auftretende Totengericht nur vor dem Hintergrund sich abwechselnder soziohistorischer Vorgänge verständlich.
Vorarische Vorstellungen: Über die religiösen Vorstellungen der vorarischen Periode der Induskulturen von Harappa und Mohenjo Daro weiß man sehr wenig. Es gab offenbar, wie archäologische Belege andeuten, eine Art totemistischen Tierkult, der aber wohl noch kein entwickeltes Totengericht kannte. Damit verbunden war auch eine bei dravidischen Stämmen Indiens bis heute nachweisbare Reinkarnationsvorstellung.
Vedische Phase und früher Brahamanismus (ca. 1500–500 v. Chr.): Die vermutlich aus dem Gebiet nördlich des Kaspischen Meeres stammenden, dort wohl als Hirtennomaden lebenden, offenbar recht kriegerischen Arier brachten um 1500 v. Chr., aus dem Iran kommend (Indoiraner), einen umfangreichen, später 33 Götter umfassenden Pantheon nach Indien mit, dessen in zwei Gruppen, Asuras und Devas, sich feindlich gegenüberstehende Mitglieder vorzugsweise in Streitwagen gegen die Mächte der Finsternis (Dämonen) kämpften, wie sie in den Veden, insbesondere der sehr alten Rigveda, dargestellt werden. Einer der wichtigsten Götter scheint Indra gewesen zu sein, dazu Varuna und andere, bis heute das hinduistische Pantheon bevölkernde Gottheiten. Zentral war der Opferkult. Priester, Idole und Tempel gab es in der frühen Phase offenbar keine. Daneben gab es einen Ahnenkult, wie er für in Sippen und Clans lebende Nomaden und Halbnomaden typisch ist, heute zwar weiter existiert, jedoch nur einen kleinen Teil des gesamten religiösen Systems bildet, vor allem im Rahmen des Kastensystems und der Reinkarnation sowie bei den Begräbnisriten, mit deren Hilfe die Geister der Verstorbenen beschwichtigt werden müssen, indem man ihnen durch bestimmte Rituale den Weg zwischen Tod, Höllengericht und Wiedergeburt erleichtert.[56] Magische Rituale waren häufig. Die Jenseitsvorstellungen jener frühen Periode sind recht verworren. Von Vergeltung nach dem Tod ist noch keine Rede, auch eine Seelenvorstellung im engeren Sinne scheint es nicht gegeben zu haben, so dass die vedische Religion als vor allem diesseitig ausgerichtet charakterisiert wird. Parallel dazu hat es zwischen 1000 und 500 v. Chr. den reinen Materialismus des von Brihaspati gegründeten Lokayata gegeben, der nur das als real ansieht, was sichtbar ist, und dessen Lehren nur indirekt aus den Berichten der Veden (Barhaspati Sutras) erhalten sind, die ihn heftig bekämpften, da er eine starke Konkurrenz gewesen zu sein scheint und in einigen materialistischen Aspekten des Hinduismus durchaus Spuren hinterlassen haben könnte.[178]
Die spätere vedische Philosophie entwickelte dann Vorstellungen von einem unwandelbaren Gesetz, nach dem jeder für seine Taten verantwortlich war, nicht nur in diesem Leben, sondern auch in künftigen Wiedergeburten. Größter Wert wurde nun auf die korrekte Durchführung von Opferriten gelegt, und den Brahmanen, Priestern, die mit den Göttern verhandeln konnten, wurde höchste Achtung gezollt. Offenbar spielte hier die immer ungleicher werdende Gesellschaftsordnung eine wichtige Rolle bei der in ihren Einzelheiten bisher allerdings nicht geklärten Entstehung dieser Vorstellungen, da diese Konzepte nun erlaubten, Ungerechtigkeiten des eigenen Lebens als Folge von Handlungen in früheren Existenzen darzustellen.[179]
Klassischer Hinduismus/Brahmanismus (500 v.–1000 n. Chr.): Das komplexe Konzept der Seele wird nun zentral. Mit der Entstehung der Brahmanen als Priesterkaste, deren Aufgabe das Studium der Veden war, hatten sich die auf einem Himmelskult basierenden religiösen Vorstellungen der arischen Eroberer zu einer aristokratischen Religion gewandelt, die nun als Herrschaftsinstrument fungieren konnte.
Die möglicherweise aus alten einheimischen Vorstellungen stammende Idee der Wiedergeburt entwickelte sich nach und nach unter dem Einfluss der beiden konkurrierenden Religionssysteme und vor dem Hintergrund des entstehenden, zunächst nur vierteiligen, vermutlich als Abgrenzung der Eroberer gegenüber der eingeborenen Bevölkerung gedachten Kastensystems (heute gibt es etwa 3000 Kasten) zunächst zu einem Doppelsystem, das etwas unstet in der Mitte zwischen den indoeuropäischen Gut-Böse-Systemen und kosmisch geprägten Harmoniesystemen mit ihren rein weltlichen, manchmal utilitaristischen Ausprägungen von Gerechtigkeit angesiedelt war, denn ausweislich des Rechtsbuches des Manu nahm die Seelenwanderung neben der sehr ausführlichen Darstellung von Höllenqualen, Dämonen und Götterkampfmythen in den Veden zunächst einen eher unbedeutenden Platz ein, um dann in späteren brahmanischen Schriften immer wichtiger zu werden, was allerdings de facto einer Verfälschung der ursprünglichen Veden gleichkam. Dabei spielte das Kastensystem als Regulativ der Wiedergeburt eine immer zentralere Rolle, denn der Sünder wurde in einer niedereren Kaste wiedergeboren. S. A. Tokarew schreibt: „Der alte Wiederverkörperungsglaube nahm also die Form des Dogmas von der Vergeltung nach dem Tode an und wurde dazu benutzt, der auf Ausbeutung beruhenden Kastenordnung die religiöse Weihe zu geben.“[180]
Ein weiteres Regulativ in S. A. Tokarews Sinne war dann der Dharma-Gedanke, das heißt die Erfüllung der Pflicht nach Maßgabe der persönlichen Lebensumstände. Das bedeutet letztlich, dass man zu tun hat, was einem nach Geburt, Stand und sozialer Rolle zukam, und nicht versuchen durfte, die Rolle anderer zu übernehmen. Dharma bringt damit auch für die Wiedergeburt die größte Belohnung und stützt so eine Ideologie, die Ungleichheit als gegeben ansieht, denn sie erklärt soziale Hierarchien, bildet neue und ist essentiell für das Karma.[181]
Die spätere hinduistische Religionsphilosophie versuchte dann, das ganze System mit der Idee des Karmas theoretisch zu untermauern, und diese Karma-Philosophie entwickelte im Laufe der Jahrhunderte ein enormes und hochdifferenziertes Eigenleben. Es entstanden nach und nach fast 250 Traktate, die Upanischaden. Von der alten arischen Religion der Veden, die dennoch formal bis heute im Hinduismus zentral sind, blieb allerdings nicht mehr viel übrig, und viele Glaubensvorstellungen des Brahamanismus hängen eher mit vorarischen religiösen Vorstellungen zusammen. Derartige oft eklatante Widersprüche zwischen Gewaltlosigkeit einerseits und oft blutigen Ritualen, Askese und Sexualität des Tantrismus sowie einem ausgeprägten Geisterglauben andererseits werden jedoch im Hinduismus dadurch aufgelöst, dass sie nicht als Widersprüche wahrgenommen werden.[182]
Der ethische und metaphysische Mechanismus des Karma-Gedankens abseits sozialer Begründungen bestand vor allem darin, dass er den überkommenen oppositionellen Dualismus der Eroberer in den Menschen hinein verlagerte als etwas, das er selbst mit sich auszutragen und zu überwinden hatte. Dabei wurde weltliche Gerechtigkeit letztlich im Diesseits relativ bedeutungslos und blieb lediglich innerhalb des Karmas präsent. Hier war sie jedoch nicht in Form eines institutionellen Totengerichtes wichtig (abgesehen von der Hölle des Todesgottes Yama, siehe unten), sondern vielmehr als selbstverantwortetes Element auf der zu erstrebenden Stufenleiter der Existenzen mit dem letzten Ziel einer Durchbrechung des Zyklus der Wiedergeburten, in den die Götter selbst und ihre sich nun immer vielfältiger darstellenden hierarchischen Beziehungen und Aufgaben mit eingebunden waren. Andererseits blieb in diesem Zusammenhang die Stellung der die Schöpfung dominierenden und überwölbenden Trimurti Brahma (Schöpfer), Vishnu (Erhalter) und Shiva (Zerstörer) ambivalent als eine Art grundsätzliche kosmische Dreieinigkeit und Repräsentanz des kosmischen Bewusstseins, in dessen Rahmen die einzelne Seele nur ein Partikel war, etwa wie eine einzelne Welle in einem Ozean, jedoch mit moralischen Attributen, die als kausale Agentien von Wiedergeburt zu Wiedergeburt genau quantifizierbar waren und sind.
Im Widerstand gegen dieses immer mehr erstarrende Kastensystem und diese wenig trostversprechende Philosophie endloser Wiedergeburtsketten, in denen das persönliche Karma von vergangenen Taten bestimmt wird, entstanden dann fast gleichzeitig im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert der von den Brahmanen heftig bekämpfte und aus Indien ab dem 12. Jahrhundert vertriebene Buddhismus und der Jainismus. Beide Religionen stellten die Macht der Götter in Frage und unterminierten die Autorität der Brahmanen als irdische Fürsprecher und Vollzieher von Sühnehandlungen.[179]
Im jüngeren Hinduismus ab 1000 n. Chr. sowie im Gefolge der für die abstrakten Gedankengänge der Brahmanen nicht empfänglichen Volksfrömmigkeit und in der Auseinandersetzung mit dem Islam, einer prophetischen, egalitären Religion mit Absolutheitsanspruch, die vor allem viele Menschen aus niederen Kasten und Kastenlose anzog, entstanden zudem zahlreiche Sekten, in deren Zentrum Avatare als Erlösungsgötter standen, die schließlich zum wesentlichen Merkmal des Hinduismus wurden und an deren Spitze gewöhnlich Gurus standen, wobei oft auch vorhinduistische Bräuche fortgeführt wurden.
Die Hölle der Hindus; in der Mitte der Totengott Yama, der auch als Totenrichter fungiert (1895).
Grundzüge des hinduistischen Lebens nach dem Tode:
Der Tod ist eine Gabe der Götter, vor allem des Weltenschöpfers Prajapati (später als Brahma bekannt), die so auf Kosten der Menschen – und um den Gott des Todes zufriedenzustellen – ihre eigene Unsterblichkeit errangen, die sie ursprünglich nicht besaßen. Er betrifft aber nur den Körper, nicht die Seele.[183] Direkt nach dem Tod wird die Seele daher des Körpers entkleidet und ist als nur daumengroße Erscheinung linga sarira existent, die sofort von zwei dämonischen Dienern des Todesgottes Yama ergriffen wird, der sie einer vorläufigen Überprüfung unterzieht. Danach kehrt sie zu ihrer alten Wohnung zurück und schwebt vor der Türschwelle. Bis dahin muss die Leichenverbrennung abgeschlossen sein, damit sie nicht in ihren alten Körper zurückkehren kann. Weitere recht komplizierte zeremonielle Schritte folgen, die auch dafür sorgen, dass die Seele eine Art Übergangskörper erhält und zu einem Ahnengeist pitri wird. Danach verlässt die Seele die Welt, um ihre einjährige gefährliche Reise in Yamas Reich anzutreten, wobei sie, indem sie sich an einem Kuhschwanz festhält, auch den schrecklichen Unterweltsfluss Vaitarani überquert, der die Grenze zu Yamas Reich markiert. Opfer und weitere Zeremonien ihrer Hinterbliebenen unterstützen sie bei dieser Reise. Bei Yama wird sie nun einem endgültigen Totengericht unterzogen. Vor allem die Upanischaden schildern dabei bei allen Unterschieden im Detail fünf grundlegende Möglichkeiten.
Waren das Leben böse und die Gedanken grausam und zerstörerisch, dann führt die Reise in Regionen der Dunkelheit oder zur Wiedergeburt in nicht-menschlicher Form, die so lange währt, bis die Wirkung der ursächlichen Taten aufgebraucht ist und man als Mensch wiedergeboren wird. Allerdings ist das Böse als Vorstellung und Begriff im Hinduismus nicht ausgebildet und findet sich eher als Negation des Guten, Geordneten, Tugendhaften, Wahren, Reinen etc., zeigt überdies in diesem Zusammenhang regional, sozial, historisch usw. teilweise sehr unterschiedliche Varianten. Entsprechend sind die wichtigsten Mittel zur Befreiung vom Bösen rituelle Entsühnung und Reinigung, Erlösung, Askese, Karmahygiene oder Gnade.[184]
Doch existiert auch im Hinduismus die Vorstellung von einer Hölle, eben jene dunklen Regionen. Danach wird der mit solch schlechtem Karma Beladene nach dem Urteil von den dämonischen Schergen des Todesgottes Yama brutal in einen Strafort gezerrt (die Vorstellungen darüber sind allerdings im Hinduismus sehr uneinheitlich) und dort gequält. Da jeder Verstorbene durch sein Karma Schuld auf sich geladen hat außer den ganz wenigen zu Lebzeiten Erlösten, die nicht sterben, sondern vergehen, ist dieser Weg zunächst für alle gleich. Anschließend wird der so Verurteilte in eine der acht Millionen Höllen eingewiesen (nach anderen Traditionen 8 oder 16). Nun zieht er von Hölle zu Hölle bis zum Ende des Weltzeitalters. Danach wird er als niederes Wesen, also Stein oder Tier, wiedergeboren.[185]
Die Wiedergeburt als Mensch ohne Reise in andere Regionen: Dies geschieht dann, wenn positive und negative Taten sich die Waage halten oder der Mensch zwar tugendhaft ist, aber nicht an die Existenz anderer Regionen glaubt. Anders als die Jainas glauben die Hindus dabei, dass, welchen Körper auch immer die Seele bewohnen wird, sie dort einziger Bewohner ist, kein Untermieter oder Bewohner eines „Mietshauses“.
Das Erreichen der himmlischen Welt (svargaloka) bei tugendhaften Menschen, die jedoch eine derartige Belohnung erwarten. Das dortige angenehme Leben währt aber nur so lange, bis die Verdienste aufgebraucht sind. Neue Verdienste können dort nicht erworben werden.
Die Reise ins brahmaloka, die Welt des Schöpfers Brahma. Dieser erleuchtete Pfad ist jenen gestattet, die Gott um Gottes willen suchen. Da die Voraussetzungen dafür jedoch dualistischer Natur sind, gilt dieser Weg vielfach nicht als endgültig. Doch besteht hier die Möglichkeit weiterer geistiger Entwicklung, die in einem Verstehen der Identität des eigenen und des göttlichen Selbst gipfelt als Weg der graduellen Befreiung karma mukti.
In der höchsten, nur für wenige erreichbaren Form gibt es keine Reise, vielmehr ist dies das Schicksal jener, die im diesseitigen Leben bereits die Identität von Atman und Brahman erkennen. Sie gelten bereits in ihrem Körper als Erlöste. Im Tod lösen sich physischer und feiner Körper auf, und es bleibt das ewige, befreite Selbst (nicht zu verwechseln mit dem buddhistischen Nirwana, im Hinduismus spricht man allenfalls vom Brahma-Nirwana, also dem Aufgehen in Brahma).
Einen eigentlichen Totenkult als solchen gibt es in den indischen Religionen allerdings nicht, jedoch zahlreiche Riten und Zeremonien im Umfeld von Sterben und Tod, die vor allem dazu dienen, der Seele ihren Weg zu erleichtern, aber auch sie an einer Rückkehr zu hindern. Der Körper wird vielmehr durch das reinigende Feuer von der ja reinkarnierenden Seele gelöst, also zerstört, und seine Bestandteile kehren zu ihrem Ursprung zurück. Der Tod selbst hingegen wird als eine Art Schlaf der unsterblichen und unzerstörbaren Seele betrachtet.
Entsprechend dem zyklischen Charakter der Seelenwanderung gibt es im Hinduismus auch keine eigentliche Eschatologie, nur das Konzept zyklisch sich ablösender Weltalter (Yuga bzw. Kalpa), die, beginnend mit dem Goldenen Zeitalter, entstehen, verfallen und apokalyptisch durch Wischnu, der auch ihr Schöpfer war, untergehen und im Zyklus des Samsara durchlaufen werden.[186] Zur Zeit herrscht das Kali-Weltalter. Die gesamten Zeitalter sind identisch mit dem Leben Brahmas.
Der Tantrismus hat ein etwas abweichendes Zeitkonzept. Dort ist die Zeit eine abwärts führende Leiter. Der Tantriker will darauf aber nicht nach unten, sondern nach oben steigen (Parawritti) und so den normalen Zeitablauf umkehren.[187] Zeit ist im klassischen Hinduismus eine kosmische Macht, die Glück und Unheil bringt.[188]
Weiter geht es in Teil 5
Der Prophet Mohammed besucht mit Buraq und dem Erzengel Gabriel die Hölle, wo ein Dämon „schamlose Weiber“ peinigt, die ihr Haar Fremden gezeigt haben. Sie werden dafür über den Flammen an ihrem Haar aufgehängt und brennen ewig. Persien, 15. Jh.
Grundlagen: Die Vorstellungen des Islam zu Totengericht, Eschatologie und Jenseits[157] sind weit klarer als die der anderen beiden abrahamitischen Religionen, wenn auch nicht ganz ohne Widersprüche. Das ist vermutlich nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der Islam weit jünger ist und zudem über den Koran verfügt, ein auf den Stifter Mohammed persönlich zurückgehendes, allerdings erst vom dritten Kalifen Uthman kodifiziertes heiliges Buch, das der späteren Ausdeutung Grenzen setzte trotz der starken Zersplitterung des Islam in unterschiedliche Glaubensrichtungen, beginnend mit dem Schisma zwischen Sunniten und Schiiten. Allerdings bietet gerade der Koran kein einheitliches oder gar systematisches Bild in diesem Zusammenhang. Erst die sogenannten „Traditionen“ (Hadith bzw. Sunna) und spätere theologische Abhandlungen präzisierten die Vorstellungen. Der Islam übernahm zudem altägyptische Vorstellungen (Wiegen der Seele) und passte sich dem christlichen Gedanken von Fürbitten und Erlösung an, desgleichen flossen regionale Konzepte eroberter Völker mit ein.[158]
Der Prophet Mohammed (oben rechts) besucht mit Buraq und dem Erzengel Gabriel (oben links) das Paradies. Darunter sieht man einige der legendären Huris, auf Kamelen reitend. Persien, 15. Jh.
Grundlagen:
Vorislamisch war in Arabien der Tod ein Bereich, in den man hinüberging in einen unvergänglichen, aber unbelebten, vom lebendigen Diesseits völlig getrennten kosmischen Raum, über den andere Götter herrschten. Um die Ruhe des Toten zu gewährleisten, waren Bestattungsbräuche sehr wichtig. Ein Mord musste etwa auch im Sinne der Stammesehre gerächt werden, damit der Tote ruhen konnte.
Mit diesen Sitten brach der Islam völlig. Alles untersteht nun Allahs alleiniger Herrschaft, dem absolute Treue und Unterwerfung gebührt. Allah bestimmt nun die Dauer des Lebens. Persönliche Verdienste zählen nichts. Entscheidend ist ausschließlich, dass der Mensch sein Leben im Dienste Gottes führt. Entsprechend wird am Jüngsten Tag auch über ihn gerichtet (2. Sure, 3–.[159] Obwohl der Koran nichts dazu sagt, entwickelten sich bald ausgefeilte Bestattungsbräuche, damit der Tote am Tage der Auferstehung bereit sei. Ein Totenkult wurde in den Traditionen zwar untersagt,[160] doch auch dieser bildete sich nach und nach unter dem Einfluss alter lokaler Traditionen mit prächtigen Grabmälern heraus (vgl. Mameluckenfriedhof in Kairo oder das Tadsch Mahal im indischen Agra oder modern das Chomeini-Mausoleum in Teheran).[160]
Die Ethik des Islam[161] ist einfach und weit leichter erfüllbar als die christliche. Vorgeschrieben wird, gerecht zu sein, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem zu vergelten (im Christentum Böses mit Gutem), freigebig zu sein, den Armen zu helfen etc., dazu auch die formalen Gebote der Fünf Säulen des Islam. Die Ethik geht davon aus, dass die Schöpfung gut ist und der Mensch in ihr eine Bewährungsprobe zu bestehen hat, wobei ihm das koranische Gesetz als Richtschnur dienen soll. Das Prinzip der Gerechtigkeit steht dabei im Mittelpunkt und umfasst alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens, führt im Extremfall zur Anwendung des Talion-Prinzips. Im Zentrum steht dabei stets die Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma. Unerfüllbare moralische Gebote kennt der Islam im Unterschied zum Christentum also nicht.[162] Der Koran ist gleichzeitig das Sittengesetz des Islam und ist für den Muslim somit ein primär göttliches Gesetz.
Eine weitere zentrale Grundlage ist die mit dem Gut-Böse-Problem unmittelbar zusammenhängende Prädestinationslehre des Islam, die innerislamisch schon bald kontrovers diskutiert wurde und theologisch zu mehreren Aufspaltungen führte und deren Deutungsvarianten naturgemäß jeweils wesentliche Auswirkungen auf die inhaltliche Gestaltung des Totengerichtes haben und hatten:[163]
Dschabrianer leugnen jeden freien Willen. Sie sind eine radikale Abspaltung der Aschariten, mit denen sie in den meisten Punkten übereinstimmen.
Qadrianer gestehen dem Menschen einen völlig freien Willen zu und sind den Mutaziliten sehr ähnlich, nach deren Glauben das Sittengesetz nicht durch göttliche Offenbarung festgelegt ist, sondern sich notwendigerweise aus der Natur- bzw. Seinsordnung ergibt. Eine Handlung sei an sich schon gut oder böse, und selbst Gott könne eine böse Tat nicht in eine gute umwerten und umgekehrt.
Aschariten nehmen eine mittlere Position ein und billigen dem Menschen einen eingeschränkt freien Willen im Rahmen des ewigen göttlichen Willens zu. Sie glauben, das Böse sei das, was Gott durch die Offenbarung verbiete, das Gute hingegen das, was er nicht verbiete.
Eine dritte Kernaussage des Islam ist die eschatologische Lehre vom Letzten Gericht und dem Leben nach dem Tode.
Totengerichte:[164] Es gibt im Islam nach dem Tode nicht nur ein Gericht, sondern wie im Christentum deren zwei, die allerdings weit klarer voneinander geschieden sind und auch, was die Zeit dazwischen angeht, besser definiert. Im Grunde kann man, wenn man diese Zwischenzeit miteinbezieht, von drei Gerichten sprechen. Von dem unten geschilderten Ablauf gibt es zudem im Totenbuch des Islam mehrere Varianten:[165]
Zwischengericht: Eine besondere Bedeutung hat dabei der Todesengel Izra’il (diese Vorstellung gibt es auch im mittelalterlichen Christentum wohl als Übernahme aus anderen Religionen, wo es einen solchen Begleiter meist gibt, der andererseits in der Bibel nirgends erwähnt wird). Aufgabe des Todesengels ist es, die Seele Ruh direkt nach dem Tod vom Körper zu trennen (sanft bei Muslimen, grob bei Nichtmuslimen und „unreinen“ Seelen) und mit Hilfe zweier weißgesichtiger Engel zum Himmel zu führen, wo sie, sofern gerecht, aufgenommen in die höchsten Sphären, vor Allah geführt wird, danach aber nochmals zu ihrem Körper auf die Erde zurückkehrt, wo dieser bis zur Auferstehung schläft. Gehört sie aber zu den Verdammten, also den Nichtmuslimen und Schlechtgläubigen (nur dieses Kriterium gilt!), wird sie, nachdem die Seele grob vom Körper getrennt wurde, von zwei schwarzgesichtigen, grünäugigen Engeln zum Himmel getragen, am untersten Himmelstor jedoch abgewiesen, auf die Erde zurückgestoßen und dort von den Höllenwärterengeln zu den anderen Verdammten gebracht.
Befragung im Grab: Sie erfolgt nach der Bestattung und ist, da das Ergebnis ja bereits bekannt ist, eine Art Schauprozess.[166] Der Verstorbene wird dabei von zwei Engeln, Munkar und Nakir (blau und schwarz), durch vier Fragen (Wer ist dein Gott? Wer ist dein Prophet? Was ist deine Religion? Wohin zeigt deine Gebetsrichtung?) auf seinen Glauben geprüft. Antwortet er richtig (die Antworten werden von einem Schreiber notiert), nehmen sich seiner die Engel Mubashar und Bashir an, trösten ihn und verheißen ihm das Paradies. Ansonsten wird er bis zum Letzten Gericht in Ruhe gelassen. Bei falschen Antworten wird der Tote bereits im Grab von den Engeln Nakir und Munkar gepeinigt, indem sie im Grab ein Tor zur Hölle öffnen, während sich das Grab qualvoll eng um den Toten zusammenzieht. Dieses Prinzip der doppelten Strafe ist zwar im Koran nicht direkt belegt, entwickelte sich aber schon früh.
Daran schließt sich in einer Art Schlaf die Wartezeit (al-barzakh) zum durch die Auferstehung eingeleiteten Jüngsten Gericht an. Vor seinem Beginn kommt es aber nochmals zu einer vierzigjährigen Herrschaft des Anti-Christ. Diese Herrschaft wird in einer kosmischen Schlacht durch den Messias nach dem Muster von Harmagedon beendet, dessen Sieg ein Goldenes Zeitalter bis zur Auferstehung einleitet.
Jüngstes Gericht:[167] Während des Jüngsten Gerichts wird jeder Einzelne nochmals von Gott persönlich bewertet und abgeurteilt. Dabei spielen sein Lebensbuch, in dem alle Taten verzeichnet sind, eine Waage (ägyptisch), die gute und böse Taten sowie bereits Gesühntes bewertet, und eine schmale Brücke „Sirat“, die über den Höllenbrand ins Paradies führt[168] (zoroastrisch), eine wesentliche Rolle. Die Verurteilten müssen bis in alle Ewigkeit in der Hölle bleiben und dort endlos physisch leiden, so dass dies auch als „zweiter Tod“ bezeichnet wird. Doch gibt es zwischen Paradies und Hölle noch einen dritten Ort, das A’raf, wo diejenigen bleiben, bei denen gute und böse Taten im Gleichgewicht sind (zoroastrisch). Ihr Aufenthalt dort ist jedoch zeitlich begrenzt, und sie werden, sofern Muslime, später in das Paradies gelassen.
Jenseits und Auferstehung: Die Hölle, die der Koran als brennendes Feuer schildert, ist wie im Christentum mehrfach unterteilt (sieben Teile: Muslime, Juden, Christen etc. haben z. B jeweils eigene Abteilungen). Der Aufenthalt ist nur für die Ungläubigen endlos, für Gläubige hingegen nach Abbüßung ihrer Sünden beendet (fast alle müssen einige Zeit dort büßen).
Das Paradies al-Dschanna (der Garten, Sure 54) wiederum ist in acht Himmel unterteilt, und die dort gebotenen, durchaus sinnlichen (vor allem männlichen) Genüsse (Huris) sind fraglos diesseitig gedacht.
Die durch gewaltige, wohl der jüdischen Eschatologie entnommene Zeichen eingeleitete Auferstehung (Sure 75), die es so in den altarabischen Religionen ebenfalls nicht gab – sicher mit ein Grund für die schnelle Ausbreitung des Islam –, wird ganz lebenspraktisch als glückseliges, für Männer von Sex und Schlemmerei erfülltes Leben im Jenseits verstanden. Der Märtyrer (Schahid) gelangt ohne all diese Zeremonien direkt in dieses Paradies (ein Grund für die Märtyrerseligkeit islamischer Terroristen, denn der Märtyrertod ist das Beste, was ihnen passieren kann. Besonders ausgeprägt ist diese Vorstellung bei Schiiten.[169]) Der Sufismus wiederum etablierte im Laufe der Jahrhunderte eine etwas sanftere Eschatologie, die vor allem die individuelle Verantwortung in den Vordergrund stellte.
Religionssoziologie: Weshalb es im Islam diese noch dazu teils widersprüchliche (einerseits heißt es, alle Toten müssten eine Zeitlang in die Hölle, andererseits sollen die Reinen dem Jüngsten Gericht friedlich entgegenschlummern), teils überflüssige Filterfunktion gibt (ob Muslim oder nicht, wird gleich zweimal geprüft), ist unklar. Im Gegensatz zum Christentum war er jedoch von vorneherein auch eine politische Bewegung, das heißt, ideologisch-religiöse Geschlossenheit war schon früh und fast von Anfang an dazu auch in Gestalt militärischer Potenz enorm wichtig, damit aber auch die Tatsache, dass eroberte Stämme und Völker den Islam übernahmen, um besser beherrscht werden zu können, wobei es regelmäßig zu Adaptionsprozessen mit lokalen Religionen und Bräuchen kam. Diese Instrumentalisierung, die sich vielfältig bereits im Koran findet, hat zweifellos ihre Parallelen zu den wuchernden und ebenfalls als Machtinstrument genutzten Jenseitsvorstellungen des Christentums, im Islam jedoch zusätzlich mit dem Hinweis, dass vor allem Nichtmuslime sich zu fürchten hätten, halbwegs fromme Muslime hingegen weniger oder gar nicht.
Ein grundlegendes Problem des Islam in diesem Zusammenhang ist allerdings die teilweise als äußerst strikt verstandene Prädestinationslehre.[170] Sie schließt an sich eine menschliche Verantwortung völlig aus, da in ihr ein freier Wille nicht vorgesehen ist, zu dem sich der Koran allerdings widersprüchlich äußert. Es gab daher entsprechend auch zahlreiche Kontroversen zu diesem Problem (und drei Denkschulen, siehe oben), das zudem notwendigerweise in das Theodizee-Problem übergeht. Allerdings gibt es im Islam, im Gegensatz zum Christentum (Sünde), kein eigentliches Problem des Bösen, da es nicht als autonom mit dem Seinsgrund verbunden gedacht war, sondern rein individuell, so dass deshalb das philosophische Problem der Theodizee entfiel. Das Böse wird vielmehr als Teil von Gottes Barmherzigkeit, als eine Art Prüfinstanz verstanden, der dem Menschen so die Möglichkeit gibt, das Gute zu tun.[171] Im Koran gibt es daher in Bezug auf menschliches Handeln zwei Ebenen: die der göttlichen Wirkung im Rahmen seines vorherbestimmenden Willens. Darunter existiert die Ebene des Menschen, auf der dieser seine Handlungen im Rahmen des göttlichen Vorwissens eigenverantwortlich ausführt. Die islamische Theologie beschreibt daher auch keine eigentliche Erlösung durch Gott aus Schuld und Sünde, denn es existiert ein „Mitbedenken Gottes in allen irdischen Angelegenheiten“.[172]
Süd- und ostasiatische Religionen
Das Rad des Schicksals, hier ein tibetisches Chakra mit der Hölle als einem der sechs Wege der Wiedergeburt; im Hinduismus, Buddhismus und Jainismus repräsentiert es das zyklische Zeitverständnis dieser Religionen
In den östlichen Systemen des Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, Sikhismus und Daoismus (nicht jedoch im Shintoismus) mit ihrer teils betonten Geringschätzung oder doch zumindest der Hinnahme des Irdischen wird der ethische Konflikt, sofern man ihm überhaupt Bedeutung zugemessen hat, auf dem Wege der Seelenwanderung transpersonal weitergeleitet in jeweils neue, im wünschenswerten Falle stetig nach oben weisende, in der Selbstauflösung des Nirwana endende Existenzformen, deren Eigenart jeweils die Folgen der früheren sind (das kosmisch diesseitig sich manifestierende Dharma, welches das jenseitige Karma bestimmt), so dass man durchaus auch hier von einem Totengericht sprechen kann, da eine Abrechnung mit dem irdischen Lebenswandel indirekt innerhalb bestimmter metaphysischer Abläufe stattfindet, allerdings nach Kriterien, die vor allem Demut und Nächstenliebe zur Grundlage haben. Doch haben sich dann sekundär oder als Übernahme aus älteren Traditionen auch Höllenvorstellungen ausgebildet, und es gab im Hinduismus und Buddhismus einen Totengott Yama (in der chinesischen Religion gleich zehn), der als Richter auftritt und gewisse Ähnlichkeiten mit Ymir aus der nordischen Sagenwelt und Yima aus der Götterwelt des Iran aufweist, was seine Herkunft aus der Götterwelt der arischen Invasoren vermuten lässt, zumal er da wie dort und wie sein Bruder Manu auch als erster Sterblicher erscheint, der somit auch den Tod als Erster erfuhr.[173]
Hinduismus
Grundlagen und Begriffe, soweit für Jenseits und Totengericht relevant (sie sind teilweise auch für den Buddhismus zentral):
Der Hinduismus[174] ist keine monolithische Religion; vielmehr finden sich in ihm vielfältige Traditionen mit einer breiten Menge verschiedener Glaubensrichtungen und Praktiken und zahlreichen geographischen, kulturellen und sprachlichen Erscheinungsformen in ganz Indien und Hinterindien, China und Japan sowie auch auf der südasiatischen Inselwelt, so dass der Hinduismus gelegentlich als „zusammengesetzte Religion“ bezeichnet wird, die aus vielen verschiedenen und mitunter gegensätzlichen Elementen besteht.[175] Er tritt vor allem auf als[176]
klassischer Sanskrit-Hinduismus bzw. Brahmanismus
Volksreligion Südasiens und hinduistische Stammes- und Volksreligion mit starkem Polytheismus bis Animismus
gestiftete Religion mit meist asketischen, oft antibrahmanischen Zügen sowie Basistexten der charismatischen Stifter (z. B. Jainismus, Sikhismus), die gelegentlich als missionierende Erlösungsreligionen auftreten
Entsprechend vielfältig sind auch die Jenseitsvorstellungen. Gemeinsam ist ihnen allen der Ursprung in den Veden, die eine Art Offenbarungsstatus genießen. Alle Hindu-Traditionen halten am Glauben an die Lehre vom Karma als einem Gesetz von Ursache und Wirkung fest, das die moralischen und spirituellen Dimensionen einschließt, auch das Prinzip des freien Willens umfasst und keinesfalls fatalistisch gedeutet werden darf. Der Kreislauf von Geburt, Wiedergeburten und Tod Samsara wiederum ist eng verknüpft mit der Karma-Lehre. Endziel ist Moksha, die Freiheit von Unwissenheit als der eigentlichen Ursache von Leiden und Unfreiheit, das Wissen um die wahre Natur des Selbst (Atman), ein unwandelbares Wissen, das den Kreislauf der Wiedergeburten Samsara durchbricht.
Das Selbst ist in drei Körper gekleidet. Vor allem die Art dieses vom Körper (Nicht-Selbst) geschiedenen Selbst (Analogie: Haus und Bewohner), etwa im Körper oder außerhalb, wird in den verschiedenen Traditionen unterschiedlich interpretiert (manche Traditionen unterschieden sogar fünf Körper).
Neben dem physischen, vergänglichen Körper sthula sarira tritt als zweiter der
„feine Körper“ sukshma sarira, der durch seine Fähigkeit zur Handlung, zur Sinneswahrnehmung sowie durch Geist und Verstand eine Zwischenposition einnimmt und durch den Tod nicht zerstört wird, sondern mit dem Selbst eine enge Verbindung eingeht, bis dieses die letzte Freiheit moksha erreicht. Er ist das individuelle Karma (quasi der Charakter) und trägt alle persönlichen Eigenschaften und das Muster aller Handlungen, Sehnsüchte etc. in sich.
Ein dritter Körper schließlich ist karana sarira, der ursächliche Körper oder Körper des Nichtwissens, eine Art Embryonal- oder Traumzustand des feinen Körpers.
Alle drei Körper sind dem Wandel ausgesetzt, nur das Atman ist wissend und beherrschend. In hinduistischer Sicht ist der Tod die Trennung des feinen Körpers vom physischen Körper. Ist das Individuum nicht endgültig befreit, wird der feine Körper, erhellt vom Bewusstsein des Selbst und identisch mit dem eigenen Karma und den persönlichen Neigungen (Unterschied zum Buddhismus), sich einen anderen physischen Körper suchen, wobei von der individuellen Struktur des feinen Körpers, dem Bewusstsein zum Zeitpunkt des Todes, auch Reise und Ziel nach dem Tode abhängen, so dass eine logische Kontinuität zwischen den einzelnen Leben existiert.
Grundzüge der historischen Entwicklung:[177] Ähnlich der historischen Entwicklung der anderen Großreligionen sind auch hier der in diesem Falle vom Karma-Glauben bestimmte Jenseitsglaube und das zusätzlich dazu und recht systemwidrig auftretende Totengericht nur vor dem Hintergrund sich abwechselnder soziohistorischer Vorgänge verständlich.
Vorarische Vorstellungen: Über die religiösen Vorstellungen der vorarischen Periode der Induskulturen von Harappa und Mohenjo Daro weiß man sehr wenig. Es gab offenbar, wie archäologische Belege andeuten, eine Art totemistischen Tierkult, der aber wohl noch kein entwickeltes Totengericht kannte. Damit verbunden war auch eine bei dravidischen Stämmen Indiens bis heute nachweisbare Reinkarnationsvorstellung.
Vedische Phase und früher Brahamanismus (ca. 1500–500 v. Chr.): Die vermutlich aus dem Gebiet nördlich des Kaspischen Meeres stammenden, dort wohl als Hirtennomaden lebenden, offenbar recht kriegerischen Arier brachten um 1500 v. Chr., aus dem Iran kommend (Indoiraner), einen umfangreichen, später 33 Götter umfassenden Pantheon nach Indien mit, dessen in zwei Gruppen, Asuras und Devas, sich feindlich gegenüberstehende Mitglieder vorzugsweise in Streitwagen gegen die Mächte der Finsternis (Dämonen) kämpften, wie sie in den Veden, insbesondere der sehr alten Rigveda, dargestellt werden. Einer der wichtigsten Götter scheint Indra gewesen zu sein, dazu Varuna und andere, bis heute das hinduistische Pantheon bevölkernde Gottheiten. Zentral war der Opferkult. Priester, Idole und Tempel gab es in der frühen Phase offenbar keine. Daneben gab es einen Ahnenkult, wie er für in Sippen und Clans lebende Nomaden und Halbnomaden typisch ist, heute zwar weiter existiert, jedoch nur einen kleinen Teil des gesamten religiösen Systems bildet, vor allem im Rahmen des Kastensystems und der Reinkarnation sowie bei den Begräbnisriten, mit deren Hilfe die Geister der Verstorbenen beschwichtigt werden müssen, indem man ihnen durch bestimmte Rituale den Weg zwischen Tod, Höllengericht und Wiedergeburt erleichtert.[56] Magische Rituale waren häufig. Die Jenseitsvorstellungen jener frühen Periode sind recht verworren. Von Vergeltung nach dem Tod ist noch keine Rede, auch eine Seelenvorstellung im engeren Sinne scheint es nicht gegeben zu haben, so dass die vedische Religion als vor allem diesseitig ausgerichtet charakterisiert wird. Parallel dazu hat es zwischen 1000 und 500 v. Chr. den reinen Materialismus des von Brihaspati gegründeten Lokayata gegeben, der nur das als real ansieht, was sichtbar ist, und dessen Lehren nur indirekt aus den Berichten der Veden (Barhaspati Sutras) erhalten sind, die ihn heftig bekämpften, da er eine starke Konkurrenz gewesen zu sein scheint und in einigen materialistischen Aspekten des Hinduismus durchaus Spuren hinterlassen haben könnte.[178]
Die spätere vedische Philosophie entwickelte dann Vorstellungen von einem unwandelbaren Gesetz, nach dem jeder für seine Taten verantwortlich war, nicht nur in diesem Leben, sondern auch in künftigen Wiedergeburten. Größter Wert wurde nun auf die korrekte Durchführung von Opferriten gelegt, und den Brahmanen, Priestern, die mit den Göttern verhandeln konnten, wurde höchste Achtung gezollt. Offenbar spielte hier die immer ungleicher werdende Gesellschaftsordnung eine wichtige Rolle bei der in ihren Einzelheiten bisher allerdings nicht geklärten Entstehung dieser Vorstellungen, da diese Konzepte nun erlaubten, Ungerechtigkeiten des eigenen Lebens als Folge von Handlungen in früheren Existenzen darzustellen.[179]
Klassischer Hinduismus/Brahmanismus (500 v.–1000 n. Chr.): Das komplexe Konzept der Seele wird nun zentral. Mit der Entstehung der Brahmanen als Priesterkaste, deren Aufgabe das Studium der Veden war, hatten sich die auf einem Himmelskult basierenden religiösen Vorstellungen der arischen Eroberer zu einer aristokratischen Religion gewandelt, die nun als Herrschaftsinstrument fungieren konnte.
Die möglicherweise aus alten einheimischen Vorstellungen stammende Idee der Wiedergeburt entwickelte sich nach und nach unter dem Einfluss der beiden konkurrierenden Religionssysteme und vor dem Hintergrund des entstehenden, zunächst nur vierteiligen, vermutlich als Abgrenzung der Eroberer gegenüber der eingeborenen Bevölkerung gedachten Kastensystems (heute gibt es etwa 3000 Kasten) zunächst zu einem Doppelsystem, das etwas unstet in der Mitte zwischen den indoeuropäischen Gut-Böse-Systemen und kosmisch geprägten Harmoniesystemen mit ihren rein weltlichen, manchmal utilitaristischen Ausprägungen von Gerechtigkeit angesiedelt war, denn ausweislich des Rechtsbuches des Manu nahm die Seelenwanderung neben der sehr ausführlichen Darstellung von Höllenqualen, Dämonen und Götterkampfmythen in den Veden zunächst einen eher unbedeutenden Platz ein, um dann in späteren brahmanischen Schriften immer wichtiger zu werden, was allerdings de facto einer Verfälschung der ursprünglichen Veden gleichkam. Dabei spielte das Kastensystem als Regulativ der Wiedergeburt eine immer zentralere Rolle, denn der Sünder wurde in einer niedereren Kaste wiedergeboren. S. A. Tokarew schreibt: „Der alte Wiederverkörperungsglaube nahm also die Form des Dogmas von der Vergeltung nach dem Tode an und wurde dazu benutzt, der auf Ausbeutung beruhenden Kastenordnung die religiöse Weihe zu geben.“[180]
Ein weiteres Regulativ in S. A. Tokarews Sinne war dann der Dharma-Gedanke, das heißt die Erfüllung der Pflicht nach Maßgabe der persönlichen Lebensumstände. Das bedeutet letztlich, dass man zu tun hat, was einem nach Geburt, Stand und sozialer Rolle zukam, und nicht versuchen durfte, die Rolle anderer zu übernehmen. Dharma bringt damit auch für die Wiedergeburt die größte Belohnung und stützt so eine Ideologie, die Ungleichheit als gegeben ansieht, denn sie erklärt soziale Hierarchien, bildet neue und ist essentiell für das Karma.[181]
Die spätere hinduistische Religionsphilosophie versuchte dann, das ganze System mit der Idee des Karmas theoretisch zu untermauern, und diese Karma-Philosophie entwickelte im Laufe der Jahrhunderte ein enormes und hochdifferenziertes Eigenleben. Es entstanden nach und nach fast 250 Traktate, die Upanischaden. Von der alten arischen Religion der Veden, die dennoch formal bis heute im Hinduismus zentral sind, blieb allerdings nicht mehr viel übrig, und viele Glaubensvorstellungen des Brahamanismus hängen eher mit vorarischen religiösen Vorstellungen zusammen. Derartige oft eklatante Widersprüche zwischen Gewaltlosigkeit einerseits und oft blutigen Ritualen, Askese und Sexualität des Tantrismus sowie einem ausgeprägten Geisterglauben andererseits werden jedoch im Hinduismus dadurch aufgelöst, dass sie nicht als Widersprüche wahrgenommen werden.[182]
Der ethische und metaphysische Mechanismus des Karma-Gedankens abseits sozialer Begründungen bestand vor allem darin, dass er den überkommenen oppositionellen Dualismus der Eroberer in den Menschen hinein verlagerte als etwas, das er selbst mit sich auszutragen und zu überwinden hatte. Dabei wurde weltliche Gerechtigkeit letztlich im Diesseits relativ bedeutungslos und blieb lediglich innerhalb des Karmas präsent. Hier war sie jedoch nicht in Form eines institutionellen Totengerichtes wichtig (abgesehen von der Hölle des Todesgottes Yama, siehe unten), sondern vielmehr als selbstverantwortetes Element auf der zu erstrebenden Stufenleiter der Existenzen mit dem letzten Ziel einer Durchbrechung des Zyklus der Wiedergeburten, in den die Götter selbst und ihre sich nun immer vielfältiger darstellenden hierarchischen Beziehungen und Aufgaben mit eingebunden waren. Andererseits blieb in diesem Zusammenhang die Stellung der die Schöpfung dominierenden und überwölbenden Trimurti Brahma (Schöpfer), Vishnu (Erhalter) und Shiva (Zerstörer) ambivalent als eine Art grundsätzliche kosmische Dreieinigkeit und Repräsentanz des kosmischen Bewusstseins, in dessen Rahmen die einzelne Seele nur ein Partikel war, etwa wie eine einzelne Welle in einem Ozean, jedoch mit moralischen Attributen, die als kausale Agentien von Wiedergeburt zu Wiedergeburt genau quantifizierbar waren und sind.
Im Widerstand gegen dieses immer mehr erstarrende Kastensystem und diese wenig trostversprechende Philosophie endloser Wiedergeburtsketten, in denen das persönliche Karma von vergangenen Taten bestimmt wird, entstanden dann fast gleichzeitig im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert der von den Brahmanen heftig bekämpfte und aus Indien ab dem 12. Jahrhundert vertriebene Buddhismus und der Jainismus. Beide Religionen stellten die Macht der Götter in Frage und unterminierten die Autorität der Brahmanen als irdische Fürsprecher und Vollzieher von Sühnehandlungen.[179]
Im jüngeren Hinduismus ab 1000 n. Chr. sowie im Gefolge der für die abstrakten Gedankengänge der Brahmanen nicht empfänglichen Volksfrömmigkeit und in der Auseinandersetzung mit dem Islam, einer prophetischen, egalitären Religion mit Absolutheitsanspruch, die vor allem viele Menschen aus niederen Kasten und Kastenlose anzog, entstanden zudem zahlreiche Sekten, in deren Zentrum Avatare als Erlösungsgötter standen, die schließlich zum wesentlichen Merkmal des Hinduismus wurden und an deren Spitze gewöhnlich Gurus standen, wobei oft auch vorhinduistische Bräuche fortgeführt wurden.
Die Hölle der Hindus; in der Mitte der Totengott Yama, der auch als Totenrichter fungiert (1895).
Grundzüge des hinduistischen Lebens nach dem Tode:
Der Tod ist eine Gabe der Götter, vor allem des Weltenschöpfers Prajapati (später als Brahma bekannt), die so auf Kosten der Menschen – und um den Gott des Todes zufriedenzustellen – ihre eigene Unsterblichkeit errangen, die sie ursprünglich nicht besaßen. Er betrifft aber nur den Körper, nicht die Seele.[183] Direkt nach dem Tod wird die Seele daher des Körpers entkleidet und ist als nur daumengroße Erscheinung linga sarira existent, die sofort von zwei dämonischen Dienern des Todesgottes Yama ergriffen wird, der sie einer vorläufigen Überprüfung unterzieht. Danach kehrt sie zu ihrer alten Wohnung zurück und schwebt vor der Türschwelle. Bis dahin muss die Leichenverbrennung abgeschlossen sein, damit sie nicht in ihren alten Körper zurückkehren kann. Weitere recht komplizierte zeremonielle Schritte folgen, die auch dafür sorgen, dass die Seele eine Art Übergangskörper erhält und zu einem Ahnengeist pitri wird. Danach verlässt die Seele die Welt, um ihre einjährige gefährliche Reise in Yamas Reich anzutreten, wobei sie, indem sie sich an einem Kuhschwanz festhält, auch den schrecklichen Unterweltsfluss Vaitarani überquert, der die Grenze zu Yamas Reich markiert. Opfer und weitere Zeremonien ihrer Hinterbliebenen unterstützen sie bei dieser Reise. Bei Yama wird sie nun einem endgültigen Totengericht unterzogen. Vor allem die Upanischaden schildern dabei bei allen Unterschieden im Detail fünf grundlegende Möglichkeiten.
Waren das Leben böse und die Gedanken grausam und zerstörerisch, dann führt die Reise in Regionen der Dunkelheit oder zur Wiedergeburt in nicht-menschlicher Form, die so lange währt, bis die Wirkung der ursächlichen Taten aufgebraucht ist und man als Mensch wiedergeboren wird. Allerdings ist das Böse als Vorstellung und Begriff im Hinduismus nicht ausgebildet und findet sich eher als Negation des Guten, Geordneten, Tugendhaften, Wahren, Reinen etc., zeigt überdies in diesem Zusammenhang regional, sozial, historisch usw. teilweise sehr unterschiedliche Varianten. Entsprechend sind die wichtigsten Mittel zur Befreiung vom Bösen rituelle Entsühnung und Reinigung, Erlösung, Askese, Karmahygiene oder Gnade.[184]
Doch existiert auch im Hinduismus die Vorstellung von einer Hölle, eben jene dunklen Regionen. Danach wird der mit solch schlechtem Karma Beladene nach dem Urteil von den dämonischen Schergen des Todesgottes Yama brutal in einen Strafort gezerrt (die Vorstellungen darüber sind allerdings im Hinduismus sehr uneinheitlich) und dort gequält. Da jeder Verstorbene durch sein Karma Schuld auf sich geladen hat außer den ganz wenigen zu Lebzeiten Erlösten, die nicht sterben, sondern vergehen, ist dieser Weg zunächst für alle gleich. Anschließend wird der so Verurteilte in eine der acht Millionen Höllen eingewiesen (nach anderen Traditionen 8 oder 16). Nun zieht er von Hölle zu Hölle bis zum Ende des Weltzeitalters. Danach wird er als niederes Wesen, also Stein oder Tier, wiedergeboren.[185]
Die Wiedergeburt als Mensch ohne Reise in andere Regionen: Dies geschieht dann, wenn positive und negative Taten sich die Waage halten oder der Mensch zwar tugendhaft ist, aber nicht an die Existenz anderer Regionen glaubt. Anders als die Jainas glauben die Hindus dabei, dass, welchen Körper auch immer die Seele bewohnen wird, sie dort einziger Bewohner ist, kein Untermieter oder Bewohner eines „Mietshauses“.
Das Erreichen der himmlischen Welt (svargaloka) bei tugendhaften Menschen, die jedoch eine derartige Belohnung erwarten. Das dortige angenehme Leben währt aber nur so lange, bis die Verdienste aufgebraucht sind. Neue Verdienste können dort nicht erworben werden.
Die Reise ins brahmaloka, die Welt des Schöpfers Brahma. Dieser erleuchtete Pfad ist jenen gestattet, die Gott um Gottes willen suchen. Da die Voraussetzungen dafür jedoch dualistischer Natur sind, gilt dieser Weg vielfach nicht als endgültig. Doch besteht hier die Möglichkeit weiterer geistiger Entwicklung, die in einem Verstehen der Identität des eigenen und des göttlichen Selbst gipfelt als Weg der graduellen Befreiung karma mukti.
In der höchsten, nur für wenige erreichbaren Form gibt es keine Reise, vielmehr ist dies das Schicksal jener, die im diesseitigen Leben bereits die Identität von Atman und Brahman erkennen. Sie gelten bereits in ihrem Körper als Erlöste. Im Tod lösen sich physischer und feiner Körper auf, und es bleibt das ewige, befreite Selbst (nicht zu verwechseln mit dem buddhistischen Nirwana, im Hinduismus spricht man allenfalls vom Brahma-Nirwana, also dem Aufgehen in Brahma).
Einen eigentlichen Totenkult als solchen gibt es in den indischen Religionen allerdings nicht, jedoch zahlreiche Riten und Zeremonien im Umfeld von Sterben und Tod, die vor allem dazu dienen, der Seele ihren Weg zu erleichtern, aber auch sie an einer Rückkehr zu hindern. Der Körper wird vielmehr durch das reinigende Feuer von der ja reinkarnierenden Seele gelöst, also zerstört, und seine Bestandteile kehren zu ihrem Ursprung zurück. Der Tod selbst hingegen wird als eine Art Schlaf der unsterblichen und unzerstörbaren Seele betrachtet.
Entsprechend dem zyklischen Charakter der Seelenwanderung gibt es im Hinduismus auch keine eigentliche Eschatologie, nur das Konzept zyklisch sich ablösender Weltalter (Yuga bzw. Kalpa), die, beginnend mit dem Goldenen Zeitalter, entstehen, verfallen und apokalyptisch durch Wischnu, der auch ihr Schöpfer war, untergehen und im Zyklus des Samsara durchlaufen werden.[186] Zur Zeit herrscht das Kali-Weltalter. Die gesamten Zeitalter sind identisch mit dem Leben Brahmas.
Der Tantrismus hat ein etwas abweichendes Zeitkonzept. Dort ist die Zeit eine abwärts führende Leiter. Der Tantriker will darauf aber nicht nach unten, sondern nach oben steigen (Parawritti) und so den normalen Zeitablauf umkehren.[187] Zeit ist im klassischen Hinduismus eine kosmische Macht, die Glück und Unheil bringt.[188]
Weiter geht es in Teil 5
Andy- Admin
- Anzahl der Beiträge : 36197
Anmeldedatum : 03.04.11
Teil 5
Jainismus und Sikhismus
Jainismus:[189] Der Jainismus ist etwa gleichzeitig mit dem Buddhismus entstanden. Sein wesentliches Merkmal sind Gewaltlosigkeit und Askese. Die Welt gilt dem Jainisten als ungeschaffen und von ewiger Dauer, und es gibt auch keinen persönlichen allmächtigen Gott (ähnlich wie später im Buddhismus), auch nicht als demiurgische Schöpfergestalt. Nach der dualistisch orientierten Vorstellung des Jainismus wechseln sich ein Zeitalter (Kalpa), in dem die menschlichen Tugenden und spirituellen Fähigkeiten wachsen, und eines des Niedergangs auf ewig ab. In jedem Zeitalter erscheinen 24 Tirthankaras (geistige Führer). Das gegenwärtige Äon gilt als ein Zeitalter des Verfalls. Wesentlich dabei ist, dass es weder einen Schöpfergott noch ein institutionelles Totengericht oder gar ein Weltuntergangsszenario gibt, dass sich vielmehr der Zyklus von Geburt und Wiedergeburt unendlich fortsetzt. Jainas glauben allerdings, wie auch Hindus und Buddhisten, an die Karma-Lehre, Wiedergeburt (Samsara) und eine geistige Erlösung aus diesem Kreislauf durch Eingehen in das Nirwana. Das Karma baut sich danach auch nicht wie im Buddhismus aus verschiedenen Teilen auf, die auch auf verschiedene Menschen übergehen können, sondern es treibt die hinduistische Vorstellung ins Extrem und „klebt“ förmlich an der Seele. Der Jainismus ist vielleicht die Religion überhaupt, die ethische Grundsätze am striktesten fordert und das Gesamtheil der Seele ausschließlich davon abhängig macht, ohne ein Totengericht, göttliche Gnade, Prädestination, Erbsünde oder ähnliche Straf- und Exkulpationsmechanismen zu bemühen: Jeder ist für sein Heil ausschließlich selbst verantwortlich, und jeder auch nur geringe Verstoß gegen ethische Prinzipien, der sich auf alles Belebte und Unbelebte beziehen kann, wirft die Seele auf ihrem Weg zur Erlösung in einem als Paradies konzipierten Endstadium zurück.
Das komplexe ontologische und kosmologische System der Jainisten hat fünf Bereiche. Der unterste Bereich, die Hölle Adholoka, ist in sieben Ringe unterteilt, die nach unten hin immer dunkler und qualvoller werden und in denen die Seelen je nach ihrem durch eine strikte, keinerlei Totengerichtsmechanismen erfordernde Kausalität ins Universum eingebundene Karman gereinigt werden, das als stoffliche Substanz verstanden wird, die die Seele an den Körper bindet und die daher im Laufe vieler Reinkarnationen davon gereinigt werden muss.[190]
Sikhismus:[191] Im monotheistischen, als Reformbewegung im 15. Jahrhundert entstandenen Sikhismus wurden religiöse Konzepte des Hinduismus mit denen des Islam verschmolzen. Leitfiguren sind die zehn Gurus. Sikhs akzeptieren die Lehre von der Wiedergeburt. Im Gegensatz zu den Hindus lehnen sie aber den Glauben an eine sich wiederholende Reihe von Geburten als Mensch ab. Von der niedersten Gestalt bis zur höchsten Form, der menschlichen, steigt ein Wesen in Tausenden von Leben auf, denn nur ein Mensch kann sich mit Gott vereinigen. Es gibt keine prädestinierte Zukunft, vielmehr muss jeder aus seinem Schicksal das Beste machen. Askese wird nicht empfohlen, vielmehr aktive Nächstenliebe. Sikhismus ist damit eine soziale Religion, und ethische Prinzipien im Rahmen der Gesellschaft ersetzen die Dharma-Vorstellungen des Hinduismus und das in ihm enthaltene Totengericht. Sie fordern ein Sich-Ergeben in die gesellschaftliche Situation und sehen dies als ethisch an im Sinne einer späteren Erlösung in Brahma.
Buddhismus und Lamaismus
Der Totengott Yama wird in Tibet als ein Hüter spiritueller Praktiken verehrt und wurde dies vermutlich schon vor dem religiösen Wandel vom Bön zum Buddhismus dort im 7. Jahrhundert; die Figur ist aus bemaltem Holz und über 1,20 m hoch, menschliche Schädel und Köpfe schmücken Krone und Halskette von Yama (Field Museum of Natural History, Chicago).
Grundzüge: Der Buddhismus[192] entstand als Reform des Hinduismus gegen die heiligen Schriften der Veden und die dabei zum Ausdruck kommende Volksreligiosität, damit auch gegen den brahmanischen Opferkult und die Upanischaden-Mystik.[193] Obwohl es mit Siddharta (später als Buddha, der Erleuchtete, bekannt) eine Stifterperson gibt, ist er keine prophetische Erlösungsreligion im klassischen Sinne, da die Erlösung in ihm auf anderen Wegen durch individuelle Anstrengung und nicht durch göttlichen Gnadenerweis erreicht wird.[194] Er ist ebenfalls, wenn auch bei weitem nicht in dem Ausmaß wie der Hinduismus, in dem Buddha als Avatar Wischnus gilt, heterogen und durch mehrere große philosophische Schulen geprägt, die sich vor allem mit seinen ausgeprägten erkenntnistheoretischen Aspekten sowie etwa im Zen mit intensiven Meditationspraktiken befassten. Er ist entsprechend weniger dogmatisch als logisch aufgebaut, verurteilt das Kastenwesen und empfiehlt die Selbsterfahrung seiner Anhänger, ist in diesem Sinne wie der Jainismus, von dem er viele Anregungen aufnahm, eine modernere Variante des Hinduismus.[195]
Unterschiede zum Hinduismus: Die im Zusammenhang mit Tod, Jenseits und Totengericht wesentlichsten Unterschiede stellen sich vor allem im Pali-Kanon wie folgt dar:
Der Buddhismus verneint die Existenz einer individuellen Seele. Das Individuum ist vielmehr aus Phänomenen zusammengesetzt, die sich in fünf Kategorien unterteilen lassen: physische, Gefühle, Sinneswahrnehmungen, Reaktionen darauf und Bewusstsein. Es gibt daher genau genommen auch keine Seelenwanderung im engeren Sinne, da es in diesen fünf Kategorien keinen Atman gibt. Buddhas Lehre handelt entsprechend vom Nichtselbst (Anatman). Die Identifizierung mit dem Selbst wie im Hinduismus hielt er für eine häufige Ursache des menschlichen Leidens. Durch Meditation kann man sich vom Trugbild des Selbst befreien.[196]
Die Rolle des Bewusstseins in der Seelenwanderung ist die eines Katalysators, der selbst nicht bei der Wiedergeburt in die dann neue Person eingeht. Lediglich die in einem karmischen „Konditionalnexus“[197] verbundenen Tatabsichten sind für den neuen Menschen bestimmend, ja sie wirken sogar auf die Auswahl der dann gebärenden Mutter und die in ihr ruhenden Erbanlagen ein.[198]
Das Ich wird entsprechend nicht als individuelle Einheit wie im Hinduismus wiedergeboren, und der Tod ist ein Zustand erhöhten Bewusstseins, der die Möglichkeit bietet, aus dem Kreislauf der Wiedergeburten auszubrechen. Das Totenbuch der Tibeter schildert diese Möglichkeiten. Die Gedanken eines Menschen während seines Todes sind daher von größter Bedeutung.
Der Strom der Phänomene, aus denen die fünf geistigen Kategorien bestehen, wird vom Karma dazu getrieben, eine Verkörperung zu suchen, die den karmischen Gegebenheiten entspricht. Über die Art und Weise herrscht aber teilweise Uneinigkeit zwischen den großen Hauptschulen:[199]
Der Theravada-Buddhismus, meist als Hinayana-Buddhismus (auch Shravakayana bzw. „kleines Fahrzeug“) bezeichnet, ist die früheste Form. Seine Lehre ruht auf dem Pali-Kanon. Das Heil des Einzelnen steht hier im Vordergrund.[200]
Der später entstandene Mahayana-Buddhismus („großes Fahrzeug“). Das Heil des Kollektivs steht im Vordergrund. Er zeigt die Möglichkeit auf, durch Bodhisattvas das eigene bereits erlöste Krama auf andere Menschen zu übertragen und so vorläufig auf das eigene Eingehen in das Nirwana zu verzichten, bis der Andere ebenfalls gerettet ist.[201]
Der tibetische Tantrayana-Buddhismus (auch Vajrayana oder Mantrayana) bzw. Lamaismus.[202]
Die ostasiatischen Formen Amida-Buddhismus und Zen (siehe unten).
Kleinere Schulen bzw. Nebenformen sind:[203]
Der im 8. Jahrhundert in Bengalen entstandene Sahajayana-Buddhismus, der alle Konventionen missachtet und Züge einer Verzückungsfrömmigkeit trägt.
Der noch weitgehend mysteriöse, im 10. Jahrhundert entstandene Kalacakra-Buddhismus, ein System von Astrologie, das religiöse Bedeutung annahm.
Die buddhistische Kosmologie ist extrem strukturiert und enthält vor allem in der tibetisch-buddhistischen Fassung des Lamaismus drei Sphären der Existenz (Triloka):[204]
Die Sphäre der Begierden (Kamaloka) mit folgenden Ebenen in absteigender Reihenfolge: sechs niedere Himmel (Devaloka) mit acht bis 24 Regionen, wo Indra und andere niederere hindu-buddhistische Gottheiten sowie die diese bekämpfenden Titanen leben, menschliche Welt, Tierwelt, Welt der hungrigen Geister und Höllen. Die Hölle Naraka, über die Yama mit acht Generälen und 80.000 Gefolgsleuten herrscht, gliedert sich wiederum in sieben bis acht Haupthöllen und 16 bis 128 heiße und kalte Nebenhöllen, wo die Frevler leiden. Wiedergeburt ist in all diesen Reichen möglich, wobei das Menschenreich sehr schwer zu erreichen ist. Selbst Götter werden wiedergeboren. Auch die Wiedergeburt in der Hölle ist aber befristet. Das Nirwana bleibt jedoch höchstes Ziel.[205]
Die feinstoffliche Sphäre Rupaloka der höheren Gottheiten.
Die Sphäre der Körperlosen Arupaloka, in der die himmlischen Wesen der Sphäre des endlosen Raumes und des Bewusstseins leben. Der Vajrayana-Buddhismus kennt noch zwei weitere Sphären.
Die vier edlen Wahrheiten: Die Wurzel des Lebens ist Leiden (dukkha) (1), das durch Verlangen (tanha) nach Macht, Genuss und langem Leben entsteht (2). Erlösung im Nirwana (3) wird erreicht, indem man dieses Leiden überwindet und den achtfachen Weg beschreitet (4). Dukkha ist jedoch auch Vergänglichkeit, Unvollkommenheit durch Alter, Krankheit und Tod. Die Wurzel des Verlangens ist Anitja, eine falsche Vorstellung vom Wesen der Wirklichkeit.
Es gibt keinen Gott und keine Götter. Der Buddhismus ist die einzige atheistische Großreligion. Buddha sprach sich allerdings nicht gegen Götterverehrung aus, warnte jedoch vor ihrer kritiklosen Anerkennung, da sie nicht zur Lösung der Leiden führe. Allerdings haben sich später dennoch gottartige Figuren ausgebildet, und bestimmte Götter wie der Totengott Yama sind übernommen worden oder erhalten geblieben. Dort, wo Götter dennoch vorkommen, sind sie jedoch weniger Eigennamen als Bezeichnungen bestimmter funktionaler Posten, welche von Personen eingenommen werden, die den Rang für einige Zeit verdient haben.[206]
Die Vorstellungen von der Hölle mit dem Totengott Yama entsprechen denen des Hinduismus. Allerdings lehrt der Lamaismus teilweise, die Hölle sei lediglich ein Produkt der Einbildungskraft. Hinayana und Mahayana allerdings halten sie hingegen für real und damit auch ein Totengericht.
Der Buddhismus kennt keine Sünde, keinen Verstoß gegen göttliche Gebote. Die Wiedergeburt ist keine Strafe, sondern nur die natürliche Folge der Existenz. Das Karma-Gesetz wirkt dabei mechanisch und bedarf keiner über die Taten richtenden Instanz. Dabei sind nicht die Taten als solche ausschlaggebend, sondern die Motive dafür, die Absichten.[207]
Ethik: Im Buddhismus ranken sich zahlreiche hochkomplexe Texte um das Böse.[208] Das Böse im moralischen Sinne ist genauso wenig als eigene Kategorie ausgebildet wie im Hinduismus, sondern ausschließlich im soteriologischen, also erlösungsbedingten Sinn als alles, was der Erlangung des buddhistischen Heils im Wege steht, das heißt die vollkommene Wahrheit/Freiheit nicht zum Durchbruch kommen lässt. Es wird als Ausgeliefertsein an die eigenen Begierden verstanden. Die Menschen leben in einer selbst verursachten, sich mit jeder falschen Tat verfestigenden verkehrten Weltsicht, die ihnen Wünsche eingibt, Ängste einflößt und Vorschriften macht, die gerade nicht der Wirklichkeit entsprechen. Alle Aspekte des Bösen stehen untereinander in Verbindung, so dass das Böse nicht nur wie im westlichen Sinne subjektzentriert verstanden wird, sondern auch die objektzentrierten Aspekte wie etwa „die böse Welt“, „das böse Zeitalter“ usw. als transindividuelle Formen enthält, in deren Rahmen der Einzelne gar nicht anders handeln kann als böse. Ein moralisches Handeln kann zudem soteriologisch falsch sein. Die religiöse Ethik des Buddhismus fügt sich daher nicht in die klassischen ethischen Systeme des Westens, etwa Immanuel Kants (allenfalls gibt es Ähnlichkeiten zur Werteethik Max Schelers) mit seinem autonomen rationalen Subjekt, da dieses durch die Gesetzmäßigkeiten des Samsara mit der Selbstverwirklichung im Nirwana aufgehoben wird, die aber wiederum durch das ethische Ideal des Mahayana-Bodhisatava ausgeglichen werden kann. Letztlich ist aber der unausrottbare Wahn vom eigenen, substantiellen, autonomen Selbst das Böse schlechthin oder radikal Böse in einem allerdings metaethischen Sinn. Dieses Selbst muss schon in der ersten Stufe des Achtfachen Pfades als Erstes aufgegeben werden.[209] Damit könnte im Buddhismus eine eigentliche philosophische Ethik durchaus unmöglich sein, und der Buddhismus vermeidet sie denn auch konsequent, da sie wie gezeigt nur auf der Grundlage eines autonomen Selbst existieren kann und mit dem Begriff des Nicht-Selbst kollidiert.[210] Diesen Relativierungen unterliegen naturgemäß auch alle Vorstellungen von einem wie immer gearteten Totengericht bzw. einer Hölle, die somit keine metaphysischen Regionen sind, sondern Äußerungen der Selbsttäuschung, die und damit Samsara derart bis ins Jenseits hineinreicht, dort jedoch am ehesten durch die überhöhte Klarsicht während des Todes überwunden werden kann – eine der wesentlichsten Funktionen solcher „jenseitigen“ Konzepte überhaupt im Buddhismus.
Das tibetische Totenbuch:[211] Es wurde von einem tantrischen Meister erstellt, steht im Zentrum des tibetischen Vajrayana-Buddhismus und enthält die ausführlichsten Darstellungen vom Sterben und der Wiedergeburt mit zahlreichen ausgeklügelten Bestattungsriten, die auch eine Mumifizierung beinhalten. Es hat den Zweck, dem Sterbenden im Augenblick des Todes, wenn er sich in einem Zwischenzustand befindet, die Erkenntnis des wahren Seins zu ermöglichen und so die Wiedergeburt in dieser Welt zu verhindern. Gelingt dies nicht und wiegt das karmische Erbe zu schwer, wird eine Wiedergeburt unvermeidlich. Wird das dazu nötige Gleichgewicht ebenfalls nicht erreicht, muss der Tote sich dem Urteil über seine früheren Handlungen stellen, das in einer Gerichtsverhandlung unter Vorsitz des Totenrichters Yama gefällt wird, während dessen Helfer den Toten mit einem Strick um den Hals vor ihn zerren und ihm in einem Spiegel seine Taten vorgehalten werden. Überwiegen die schlechten Taten, wird er gefoltert (Abhacken der Glieder), kann jedoch auch dann noch durch die Erkenntnis, dass diese Folter nur Projektion seines eigenen Geistes ist, das Blatt zu seinen Gunsten wenden. Schließlich wird er durch Bilder des Geschlechtsaktes zusätzlich erregt. Wenn er die Kraft findet, auch diesen letzten Reiz als Illusion zu erkennen, kann er ebenfalls der Wiedergeburt entrinnen, wenn nicht, bleibt er nach der Lotus-Sutra für die maximale Dauer eines Weltzeitalters (Kalpa) der Hölle überlassen[212] bzw. wird in einer niederen Daseinsform wiedergeboren.
Das Totengericht ist im Buddhismus also kein Gericht über ethische, gesellschaftliche etc. Verfehlungen, in dessen Folge ein persönliches Karma, das es im Buddhismus ja nicht gibt, gereinigt wird wie im Hinduismus, sondern es ist Teil des Karmaprozesses selbst, und seine Funktion besteht vor allem darin, das Illusorische der Existenz zu erkennen und so die Wiedergeburt zu vermeiden helfen, nicht jedoch Strafen für Taten zu verhängen, die im Sinne der buddhistischen Metaphysik ohnehin nur Teil dieser rein erkenntnisabhängigen Welt sind.
Ostasiatische Varianten:[213] Vor allem zwei, beide in China entstanden:
Der im 4. Jahrhundert entstandene Amida-Buddhismus erwartet die Erlösung in einem Zwischenreich.
Der im 5. Jahrhundert entstandene, später in Japan heimisch gewordene Zen-Buddhismus. Er war vor allem am Diesseits interessiert, weniger an Tod und Wiedergeburt, wandte sich als Reformbewegung gegen erstarrte Bräuche, stellte die Meditation als Instrument der Erleuchtung über die Identität allen Seins in den Mittelpunkt und entwickelte dabei ein striktes Training, wobei er einen enormen Einfluss auf die japanische Kultur ausübte. (siehe unten)
Daoismus und andere chinesische Religionen
Illustration zum Jade-Bericht (19. Jh.), der den Unterweltskönig Biang-cheng zeigt, wie er in der sechsten Hölle den Vorsitz führt. Ein Assistent in Gelehrtentracht präsentiert den Bericht über den Sünder, ein Dämon wird die Bestrafung überwachen.
Allgemein: In China[214] sind, neben dem uralten und in Bräuchen bis heute bestehenden Schamanismus, der Daoismus, Konfuzianismus[215] und der oben bereits dargestellte Buddhismus nach und nach eine teils innige Verbindung eingegangen (San-jiao). Laut einer geläufigen Charakterisierung der chinesischen Religion bilden alle drei Bekenntnisse eine einzige Religion. Dabei hielt man sich an den Konfuzianismus, eigentlich keine Religion, wenn es um die Anleitung für das tägliche Leben ging, wandte sich an den Daoismus für rituelle Läuterung und Exorzismus und an buddhistische Priester bei Begräbnissen. Allerdings ist die Realität wesentlich vielschichtiger. Die jenseitige Welt war vielmehr mit der diesseitigen verwoben und ihr Spiegelbild. Die dortigen Götter und Geister hatten ihre Existenz als Menschen begonnen, und Götter konnten aufgrund eines kaiserlichen Dekretes befördert oder abgelöst werden. Zusätzlich hatten sich noch viele schamanische Elemente einer Ahnenverehrung erhalten. Die chinesische Religion ist im Grunde bis heute ein auf einem Familien- und Sippenkult beruhender, uralter Ahnenkult geblieben, allerdings eher im Sinn einer Ahnenverehrung denn als religiöser Kult, da die auch vom Konfuzianismus geforderte Betonung hier auf der Kontinuität der Abstammungslinien liegt.[216] Dieser Synkretismus sprach alle Schichten an und hielt sich daher bis in die Moderne neben dem Kommunismus Mao Zedongs (mit Unterbrechung durch die Kulturrevolution), der überdies, in sich zwar antihierarchisch, selbst auch konfuzianische Elemente enthielt oder sie doch immer wieder und vor allem seit den 1980ern nutzte.[217] Mao selbst hat das in seinem „Roten Büchlein“ so formuliert:[218]
„Wir alle müssen von ihm (Anm.: dem Volk) den Geist der Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit lernen. Davon ausgehend kann man ein Mensch werden, der dem Volke großen Nutzen bringt. Man kann mit größeren oder geringeren Fähigkeiten ausgestattet sein, aber wer nur eine solche Gesinnung besitzt, wird ein edler Mensch mit klarem Charakter und hohen moralischen Qualitäten sein, ein von niedrigen Interessen freier Mensch, der dem Volke nützlich ist.“
– Mao Zedong: Rotes Büchlein
Frühe Konzepte: Bereits in der Shang-Dynastie (ca. 1766–1028 v. Chr.) glaubte man nachweislich an ein Weiterleben nach dem Tode. Das Weltbild umfasste die klassischen drei Ebenen Totenreich, Welt der Lebenden und Himmel (Götter und Ahnen). Beim Tod stiegen die drei oberen Seelenteile (hun) des Verstorbenen zum Himmel empor und gesellten sich zu den Naturgöttern, die sieben unteren Seelenteile (po) sanken in die Erde ins Totenreich. Die Toten nahmen aber weiter am Leben der Familie teil und erhielten über mindestens fünf Generationen hinweg tägliche Speise- und Trankopfer. Dieses System übernahm der Daoismus später mehr oder weniger.[219]
Der Konfuzianismus, der bis 1911 Staatskult war, ist jedoch keine Religion im engeren Sinne, da er keine oder kaum originäre metaphysische Konzepte entwickelte, Gedanken über den Tod gar für Zeitverschwendung hält (so Konfuzius selbst in den Analekten), sondern vor allem ein staatspolitisch-ethisches System der Alltagspraxis und der Politik war. Jenseitsvorstellungen waren ihm ursprünglich eher fremd, obwohl sie sich unter dem Einfluss des Daoismus, der die altchinesischen, noch stark schamanisch geprägten Vorstellungen des I Ging aufnahm, sowie des Buddhismus später ebenfalls mit der Zeit ausbildeten.[220] Auch enthalten einige konfuzianische Bücher durchaus metaphysische Themen (Jenseits, Geister etc.). Konfuzius selbst hat religiöse Bräuche sehr gewissenhaft beachtet, wurde später sogar vergöttlicht und in eigenen Tempeln verehrt. Seine metaphysische Basis ist allerdings nur die Legalisierung und Formalisierung des überkommenen Ahnenkultes in den Zeremonien (Li), ein eigenes metaphysisches System hat er nicht entwickelt, und ein eigenes konfuzianisches Priestertum hat es nie gegeben.[221] Nach dem Tode bleibt der Mensch über den Ahnenkult in einer fortgesetzten Kommunikation mit der Welt der Nachfahren. Hauptgegenstand des konfuzianischen Konzeptes ist jedoch bei Konfuzius wie auch bei seinen beiden wichtigsten Nachfolgern Mengzi und Xunzi (beide 3. Jh. v. Chr.) die moralische Qualität von Mensch, Welt und Staat, wobei Konfuzius und Mengzi postulierten, der Mensch sei von Natur aus gut, Xunzi hingegen meinte, das Böse sei ihm angeboren.
Der Daoismus ist hingegen die ursprünglichste und autochthone Religion Chinas. Laotse ( = „alter Meister“, vermutlich 6. Jh. v. Chr.) gilt als spiritueller Initiator dieser teilweise als Reaktion auf den Konfuzianismus entstandenen Religion, das Taoteking als seine grundlegende Schrift.
Wesen und kosmologischer Kontext:[222] Der Daoismus vermeidet das Problem der irdischen Gerechtigkeit und ihrer Ethik und beschäftigt sich vor allem mit dem Urgrund des Seins und den inhärenten Wandlungen (I Ging, Yin Yang). Bei gleichzeitiger Ablehnung der alten, von Göttern, Geistern und Dämonen wimmelnden Religion kehrt er wieder stärker zu metaphysischen Inhalten zurück und nimmt sich die Natur zum Vorbild, die als Wesensquelle aller ethischen Normen angesehen wird, das Böse z. B. als entartete Natur, dem der Mensch allerdings nichts entgegenzusetzen habe und der daher ganz im bedingungslosen Annehmen der eigenen Natur aufgehen müsse. Ideal ist hier das Nichtstun; das Tao ist verborgen und kann nicht erkannt werden. Ist Handeln aber notwendig, soll es dem Prinzip Wu Wei folgen: „tun, was natürlich ist“. Die Daoisten lehnten daher alle zivilisatorischen Entwicklungen, aber auch die soziale Ethik des Konfuzianismus ab, und ihr Ideal war eine Rückkehr zu steinzeitlichen Lebensbedingungen, die sie als hinreichend selbstgenügsam ansahen.
Eine Zwischenstellung nimmt dabei die etwa gleichzeitig entstehende Philosophie des Mohismus ein, die allerdings dem Konfuzianismus näher steht als dem Daoismus, jedoch das Jenseitige mehr einbezieht, während der Daoismus die alte schamanische chinesische Götter-und-Geister-Religion scharf ablehnt und eher mit frühen, noch nicht theistischen animistischen, jedoch philosophisch überwölbten Vorstellungen vergleichbar ist.
Der häufig zentrale Dualismus vor allem der chinesischen Religionen wird nicht ethisch als Gut/Böse-Paar begriffen (das etwa in der dualen Yin/Yang-Symbolik nicht enthalten ist!), sondern ontologisch als System grundlegender harmonischer Wechselwirkungen. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist somit ein kosmisches Phänomen, dem sich letztlich auch Götter zu unterwerfen haben, dessen weltliche Ausformung aber der kosmischen untergeordnet und in diesem Rahmen eher belanglos ist.
Tod, Jenseits und Totengericht:
Im Daoismus gab es wie schon seit der Shang-Zeit zwei Seelen: Tji als das unlösbar mit dem Leib zusammenhängende Leben und das Ling, die vom Leib trennbare Seele (auch po und hun), die nach dem Tod entweder ein Gui, ein Teufel, oder ein Schön, eine Gottheit, wurde, je nach den diesseitigen Qualitäten (vor allem Adelige kamen in den Genuss des himmlischen Daseins).[223] Der Tod selbst wurde im alten China als nichts anderes gesehen als ein Teil eines nahtlosen Ganzen, einer universalen Ordnung, der man sich in gehöriger Reihenfolge anzunähern hatte. Störungen der inhärenten Harmonie, die stets wie auch alles Böse dem menschlichen freien Willen entstammten, führten automatisch zu Vergeltung. Allerdings konnte die Kraft der verschiedenen unterweltlichen und göttlichen Wesen bis zu einem gewissen Grade diese Folgen abwenden. Zunächst fand diese Einstellung in einem zuvor schon stark ausgeprägten Begräbnis- und Ahnenkult ihren Ausdruck, und Opferriten waren von überragender Bedeutung.
Mit der Ankunft des Buddhismus in China im 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. systematisierten sich die bereits im Daoismus vorhandenen Himmel- und Höllenvorstellungen bis zum 9./10. Jahrhundert. Der verewigte Laotse und andere Heilige wohnten in einem Paradies, das beim Berg K'un-lun vermutet wurde. Andere, etwa zu Genien gewordene Asketen, wohnten auf den im Osten gelegenen fünf Inseln der Seligen. Besonders die Hölle wurde nun aber systematisiert. Bisher war sie als eine Art Gefängnis verstanden worden, das unter der Verwaltung einer undurchschaubaren Bürokratie stand (chin. di yu für Hölle bedeutet Erdgefängnis) und in dem die Toten ihre Strafen erlitten, etwa wegen nicht oder schlecht eingehaltener Totenrituale usw., weniger wegen ethischer Verfehlungen. Nun entstand ein System mit zehn Höllen, in denen man für seine Sünden schmerzlichst zu bezahlen hatte.[224]
Ab dem 7. Jahrhundert während der Tang-Dynastie verlor der Daoismus vor allem im Volk stark an Einfluss, insbesondere als die konfuzianische Ordnung in die Geisterwelt und in die Verwaltung eingeführt und die Konkurrenz des Buddhismus immer stärker wurde. In der Folge sank er mehr und mehr zu einer reinen Mönchsreligion und zu einem Zauberkult herab.[225] Wie sehr zudem der missverstandene Buddhismus dann die chinesischen Unterweltsvorstellungen des Daoismus beeinflusste, zeigt das Beispiel des Jade-Berichts aus dem 19. Jahrhundert (s. Abb.), denn hier gibt es nun ein „klassisches“, mit dem Nimbus des mythischen Jadekaisers ausgestattetes Totengericht, das auch weltliche Verfehlungen der moralisch-ethischen Kategorie mit grausamen Strafen ahndet. Nach der Strafe werden die Seelen auf die Erde zurückgeschickt und in niederen Existenzformen reinkarniert.[226]
Bemerkenswert für alle religiösen Richtungen Chinas ist die Tatsache, dass es so etwas wie ein Totengericht als Instanz zur ethischen Bewertung diesseitiger Handlungen im Jenseits zunächst nicht gab, allerdings ein Höllengericht, das von einem der zehn Höllenkönige, Janluo Wang, verwaltet wird. Es beschäftigte sich ursprünglich jedoch nicht mit Missetaten der Seelen im Diesseits, sondern mit entsprechenden Verfehlungen in der Unterwelt, die als völliges Gegenbild zum Diesseits konzipiert war und dem Kaiser ebenfalls unterstand. Die Höllenkönige hatten bis zur Mitte der Han-Periode überdies keinen allzu hohen Rang; der höchste unter ihnen trug den Titel „Enkel des Himmels“ , hatte also in etwa den Rang eines kaiserlichen Provinzgouverneurs. Die Vorstellungen von den zehn Höllenkreisen bildeten sich allerdings erst im 9. und 10. Jahrhundert n. Chr. aus, systematisiert durch den Konfuzianismus, wobei die Vorstellungen des Buddhismus hier allerdings völlig missverstanden wurden und sich in der chinesischen Religion nun tatsächlich so etwas wie Höllenstrafen für diesseitige Verfehlungen ausbildeten (es gab, der Vielfalt solcher Missetaten entsprechend, 138 Strafplätze[227]), die formal ganz verblüffend Dantes Inferno gleichen. In den chinesischen Höllen werden allerdings im Gegensatz zu denen Dantes keine göttlich verordneten Strafen vollzogen, sondern Maßnahmen zur Wiederherstellung der Harmonie, dazu wegen Nichteinhaltung von Totenritualen oder wegen gesellschaftlicher Regelverstöße im Diesseits. Solche Strafen konnten dann durch Opferzeremonien von Priestern abgewendet werden. In regelrechten Unterweltskarrieren konnten etwa im Diesseits unschuldig Verfolgte nach und nach göttliche Positionen oder die Funktion von Höllenrichtern einnehmen. Diese späte Phase der chinesischen Unterweltsvorstellungen enthält zahllose Fabeln und Fantasien, die für sich genommen wohl die Angst vor dem Tode mildern sollten, die andererseits aber auch eine wichtige Konstante der chinesischen Kultur gewesen sind. (In Legenden wurden gelegentlich auch Höllenreisen Lebender beschrieben.) So machte man Himmel wie Hölle zu einer verständlichen Kopie des Diesseits, die zudem unter der Kontrolle des Kaisers stand und durchaus „Entfaltungsmöglichkeiten“ für im konfuzianischen Sinn verdiente Menschen bot. Damit war der Tod und das, was danach möglicherweise kam, aber auch nicht mehr so furchteinflößend, da es den diesseitigen Verhältnissen entsprach.
Das eigentliche Verfahren des Totengerichtes stellte sich nach synkretistischer Verschmelzung von Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus wie folgt dar:[228] Im Augenblick des Todes wird der Tote durch Boten zum Gott der Wälle und Gräben Ch'eng Huang (城隍, Chéng Huáng) geführt, der eine Art erste Anhörung veranstaltet. Die Tugendhaften können danach sofort zu einem der buddhistischen Paradiese weiterziehen, etwa auf den Berg K'un-lun, wo die daoistischen Unsterblichen weilen, oder aber in den zehnten Höllengerichtshof, um sofort wiedergeboren zu werden. Die Sünder hingegen steigen nach 49 Tagen direkt hinab in die Hölle am Grunde des Berges Meru. Die Gerichtshöfe der 10 Höllenkönige Shih Wang befinden sich in der Höllenhauptstadt Feng-tu (酆都, Fēng dū) und haben dort – wie weltliche Gerichtshöfe − unterschiedliche Zuständigkeiten, wobei der 10. König für die Reinkarnation der Seelen verantwortlich ist. Diese Systematisierung ist konfuzianisch, während das Höllenmodell auf buddhistischen Vorstellungen beruht, das Paradies hingegen ist vorwiegend daoistisch strukturiert. Die Sünder werden nun in einer oder mehreren Höllen ihrer Bestrafung unterzogen, die allerdings durch das Eingreifen des gnadenvollen Ti-ts'ang (大願地藏菩薩, Dàyuàn Dìzàng Púsà ‚Ksitigarbha‘), eines buddhistischen Bodhisattva, gemildert werden kann. Danach trinken die so Bestraften den Trank des Vergessens und erklimmen das Rad der Wiedergeburt, das sie in ihre nächste Existenz trägt. Nach anderen Vorstellungen werden sie aber von der Brücke der Schmerzen in einen Fluss geworfen, der sie in ihr nächstes Leben trägt.
Der Tod war entsprechend kein Grund zur Freude, und es gab daher im Laufe der chinesischen Geschichte ständig Versuche, ihm zu entgehen. Insbesondere der Daoismus unternahm ausgedehnte Versuche, die Unsterblichkeit im Diesseits zu erlangen[229] oder in ein Paradies zu gelangen, das man sich gewöhnlich, abgesehen vom Berg K'un-lun, als einen Ort jenseits des Horizonts vorstellte. Es entwickelten sich also unter der Prämisse der Schrecken des Todes mehrere spekulative Ausweichmöglichkeiten, darunter auch eine philosophisch-konfuzianische, welche das rituelle Wiedereinfügen in den Kosmos durch allerlei Manipulationen der Geister propagierte. Die extreme Flexibilität der chinesischen Volksreligion erlaubte es in der Spätzeit schließlich jedoch, all diese Vorstellungen gleichzeitig und nicht als widersprüchlich anzunehmen, so dass die Schrecken der zehn unerbittlichen Höllenkönige schließlich schwanden.
Japan und Korea: Shintoismus, Zen-Buddhismus und Schamanismus
Der Shinto-Kami Inari geweihte Füchse, ein Torii, ein buddhistischer Pagodenturm und buddhistische Statuen zusammen an einer Weihestätte in Jōgyō-ji, Kamakura, zeigen, wie sehr die beiden Religionen in Japan miteinander verschmolzen sind
llgemein: In Japan haben sich zwei Religionen durchgesetzt: der Buddhismus (insbesondere der Zen-Buddhismus) und der im Vergleich zu dessen ausgefeilter Dogmatik altertümliche Shintoismus,[230] letzterer als rein nationale Religion, nachdem er bis zum Eindringen des Buddhismus im 6. Jahrhundert eine heterogene Ansammlung lokaler Ahnen- und Geisterkulte gewesen war mit Verehrung von Naturphänomenen und Fabelwesen sowie Fruchtbarkeitsritualen, die vermutlich als Traditionen bereits aus China mitgebracht oder den dortigen Gebräuchen nach und nach angepasst worden waren. Der genaue Ursprung des japanischen Ahnenkultes ist unklar, jedoch scheint der Einfluss des Buddhismus in diesem Punkte erheblich gewesen zu sein.[56] Beider Verhältnis war im Laufe der Geschichte von teils komplizierten Wechselwirkungen geprägt, wobei der Shintoismus, nachdem 1868 die Shinto-Buddhismus-Einheit durch ein kaiserliches Edikt aufgelöst worden war, mitsamt seiner Mythologie schließlich politisch instrumentalisiert und zum Staatsshintoismus mit kaiserlichem Gepräge wurde.
Auch der Shintoismus ist allerdings nicht monolithisch, und man unterteilt ihn in
einen Kaiserhaus-Shinto (Ursprung des späteren Staatsshintoismus),
einen Schrein-Shinto, der im Zentrum offizieller und volkstümlicher Zeremonien steht,
einen Sekten-Shinto und einen Volksshinto, die beide aus altertümlichen magischen etc. Ritualen bestehen.[231]
Die drei ersten Untertypen werden durch keinerlei Dogmen oder heilige Bücher eingegrenzt, so dass mitunter die Frage gestellt wird, ob dieser Shinto überhaupt als Religion zu bezeichnen sei. Im modernen Japan sind viele zugleich Buddhisten und Shintoisten, wobei Begräbnisse vor allem nach buddhistischem Ritus vollzogen werden. Entsprechend stehen in japanischen Häusern oft auch zwei Altäre.
Die Götter als solche heißen Kami, sind im Grunde eher Geisterwesen, und es gibt unzählige davon, auch sind sie nicht allmächtig oder allwissend. Zunächst verstand man darunter personifizierte Naturkräfte; auch Bäume und Berge konnten Kami sein. Sie haben gute und böse Seiten und besitzen entsprechend zwei Seelen, die ihre menschenähnlichen Körper verlassen und in andere eindringen können. Auch die Ahnen-Kami gehören zu ihnen. Kannushi wiederum sind mächtige Mittlergestalten zwischen Menschen und Kami.[232]
Nach dem Tod wird jeder Kami. Gute Menschen werden wohltätige Kamis, böse werden zu verderbenbringenden. Die Erlangung des Status eines Kami hat also keinerlei ethische Qualität, da sie postmortal quasi automatisch erfolgt. Allerdings rangieren darüber noch besondere, mythische Kamis, vor allem Kulturheroen.[233]
Ethik: Der Begriff der Sünde im Shintoismus tsumi ist völlig anders strukturiert als etwa im westlichen Denken oder im Buddhismus. Er ist eine weltliche Belastung, von der man sich durch harae, Bußgelder oder andere Kompensationen, wieder befreit, die der Geschädigte oft selbst einfordert. Tsumi ist damit Teil der Rechtsordnung, nicht der Ethik und trägt allenfalls Zeichen einer Reinigung, wie sie etwa misogi, die kultische Reinigung mit Wasser, darstellt. Dabei gibt es himmlische und irdische tsumi, also Dinge, die einem Menschen von Göttern auferlegt wurden, etwa Hautkrankheiten und andere Heimsuchungen. Irdische Tsumi sind hingegen Dinge, die der Mensch selbst tut, etwa Inzest oder Hexerei.[234] Man kann also die ethischen Prinzipien des Shintoismus durchaus nach Eliade in dem Satz zusammenfassen: „Verehre die Gottheiten, halte die Reinheitsvorschriften ein“, sowie „Sei aufrichtig und gerade“. Schon deshalb ergab sich keine Notwendigkeit, irgend geartete metaphysische Konzepte im Sinne eines Totengerichtes zu entwickeln, zumal man Vergehen nach dem Tode einfach in den Schlund der Unterwelt werfen kann (siehe unten).
Entscheidend sind jedoch zwei Grundbegriffe: makoto no kokoro (wahrhaftiges Herz) und magokoro (treues Herz), gewöhnlich übersetzt als „Aufrichtigkeit, reines Herz, Rechtschaffenheit“. Obwohl die Shinto-Ethik auch die individuellen Tugenden wie Treue, Ehrlichkeit, Liebe und Kindergehorsam schätzt, legt sie doch besonderen Wert auf magokoro, die erst die dynamische Lebenshaltung erzeugt, die diese Tugenden hervorbringt. Entsprechende Reinigungszeremonien sind daher im Shinto wichtig, um diese Geisteshaltung zu erzeugen, die zudem auch die Voraussetzung für die Kommunikation mit den kami ist und auch um deren Segnungen zu empfangen.[235]
Koshin-Rollbild mit den drei Affen
Das Vergeltungsprinzip wiederum, das einen weiteren zentralen Bestandteil eines Totengerichtes ausmacht, hat sich vor allem im Koshin-Glauben erhalten, dem Rest eines ursprünglich komplexeren Systems aus Daoismus, Buddhismus, Shintoismus und Volksglauben, das während der Heian-Zeit nach Japan kam. Danach leben drei Würmer Sanshi in jedem menschlichen Körper. Sie spüren die guten und teilweise auch die bösen Taten in diesem Menschen auf. Am sogenannten Kōshin-Machi alle 60 Tage verlassen die sanshis den Körper während des Schlafes und begeben sich zum Ten-Tei (天帝), dem himmlischen Herrscher, um ihm darüber zu berichten. Ten-Tei entscheidet daraufhin, ob er den bösen Menschen bestraft, etwa durch Krankheit, Verkürzung seiner Lebenszeit oder in extremen Fällen auch durch den Tod. Anhänger des Kōshin-Glaubens bemühen sich daher, ihr Leben ohne böse Taten zu leben; jene allerdings, die Grund zur Sorge habe, versuchen während der Kōshin-Nächte wach zu bleiben, um so die Würmer am Verlassen des Körpers zu hindern. Das bekannteste Symbol dieses Glaubens sind die drei Affen. Die wichtigste Gottheit des Koshin-Volksglaubens ist Shōmen Kongō, eine furchterregende Gestalt mit meistens vier Armen. Er ist die zentrale Figur auf den meisten Rollbildern. Die drei Affen, die Augen, Ohren und Mund zuhalten, werden oft abgebildet.[236]
Jenseitsvorstellungen: Im Shintoismus (Weg der Kami) als einer noch stark animistisch geprägten Religion existiert ein eigenes Totengericht nicht. Überhaupt interessiert er sich vor allem für das Diesseits, kaum für das Jenseits, und seine hauptsächliche ethische Forderung ist die Unterwerfung unter den Kaiser. Allerdings finden sich auch hier starke buddhistische Einflüsse. Die Unterwelt heißt Yomi-no-Kuni/Yomo-tsu-Kuni und ist der Herrschaftsbereich der Totengöttin Izanami als erster Verstorbenen, als sie den Feuergott Kagutsuchi gebar; sie bildete zusammen mit ihrem den Himmel beherrschenden Bruder und Gatten Izanagi das Urgötterpaar, das zugleich Mensch und Gott war.[237] Das Reich der Toten oder „Land der Finsternis“ (Yomo-tsu-Kuni) bzw. „Land der Wurzeln“ (Ne-no-Kuni) oder auch „Tiefes Land“ hat zwei Zugänge: der erste verläuft sanft und kurvenreich ansteigend, der andere liegt in einer riesigen Höhle am Meerufer, und sie dringt geradewegs in die Erde vor. Dort hinein wirft man alle Makel mit allen Sünden, die vor allem, charakteristisch für Bauernkulturen, in der Beschädigung von Bewässerungsanlagen, Grausamkeit gegen Tiere und der Verunreinigung heiliger Stätten bestanden. Die unterirdische Welt wird von männlichen und weiblichen Geistern bewohnt, shiko-me (die hässlichen Frauen) oder hiso-me (die Frauen mit gerunzelter Stirn). Stirbt man, verlässt der Geist (kami oder mi) den Körper, um in die andere Welt zu gehen und mit dem Geist des Kosmos wiedervereint zu werden. Vor allem auf den Totenkult nahm der Buddhismus dann starken Einfluss.
Der japanische Buddhismus entwickelte unter dem Begriff Jigoku eigene, vom restlichen Buddhismus abweichende Höllenvorstellungen. Jigoku[238] ist eine Region mit heißen und kalten Orten unter der Erde. Beherrscht wird es von Emma-ten bzw. Emma-ō (buddh. Yama) und Herrn der Toten, der über die Toten urteilt, indem er ein Verzeichnis zu Rate zieht, das all ihre Sünden enthält. Er sorgt dafür, dass alle Wesen bei einer Wiedergeburt einer der 6 Gati (Daseinsformen, in denen sie je nach Qualität wiedergeboren werden) zugeteilt werden.[239] Assistiert wird er von zwei körperlosen Köpfen, die auf Pfeilern an jeder seiner Seiten ruhen. Der weibliche Kopf Miru-me sieht auch die geheimsten Verfehlungen der Sünder, während der männliche Kopf Kagu-hana jede Missetat entdeckt. Die Verdammnis dauert allerdings nicht ewig, und die Toten werden zu zeitlich begrenzten Strafen an einem oder mehreren Höllenorten verurteilt. Die Urteile können auch hier von Bodhisattvas abgemildert werden, entsprechend den Bittgebeten der Lebenden. Das Jigoku-zōshi, eine Rolle aus dem 12. Jahrhundert, zeigt in Wort und Bild 8 große und 16 mindere Höllen.
In Korea herrscht neben dem Buddhismus und Daoismus sowie dem Neokonfuzianismus vor allem ein sehr alter Ahnenkult mit stark schamanischen Zügen vor.[240] Entsprechend gibt es dort auch keine originären Vorstellungen von einem Totengericht außerhalb des Buddhismus oder Daoismus.
Ethnische Religionen
Verbreitung der Religionen weltweit
Ethnische Religionen sind vor allem wegen der Vor- und Übergangsstadien zum Totengericht im Rahmen ihrer jeweiligen Jenseitsvorstellungen von großem Interesse, da sie ausweisen, unter welchen gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen diese überhaupt erst entstehen können. Vor allem Seelenwanderungsvorstellungen, die auf dem schamanischen Konzept der Mehrfachseele beruhen, sind sehr alt und weltweit nachweisbar.[241]
Die meisten indigenen Religionen Asiens, Afrikas, Ozeaniens und Australiens sowie Amerikas[242] kennen kein philosophisch ausgebildetes Konzept des für autonome moralische Bewertungen essentiellen Begriffs des Gewissens im westlichen Sinne zum Beispiel der griechischen Philosophie, der Patristik, Scholastik und vor allem Immanuel Kants.[243] Sie beinhalten lediglich religiöse oder alltagspraktische Repräsentanzen, die sich jeweils aus der Umgebungs- und sozialen Situation ergeben und häufig in Gestalt von Ritualen und Tabus auftreten, ein übrigens auch im Westen bis heute verbreitetes Verhaltensmuster, das eine „direkte Dienstbarmachung der Religion für außerreligiöse Interessen“ darstellt und zu einem „System von Normen“ führt, „nach denen ein- für allemal gewisse Handlungen als religiöse Gräuel gelten, für welche irgendeine Sühne … eintreten muß“.[244] Das gilt vermutlich bereits für den Schamanismus, dem zahlreiche dieser Religionen noch recht nahestehen und derart meist neben einem Totemismus einen für diesen charakteristischen mythischen Ahnenkult im Zentrum haben, der Totengerichtsvorstellungen ausschließt (der Kult wirklicher, personaler Ahnen ist eine historische spätere Entwicklung[245]), da hier noch ein geistiges Kontinuum zwischen Diesseits und Jenseits herrscht, wie Jensen es bereits postulierte (siehe unten). Im Allgemeinen ist religionsgeschichtlich evident, dass ein wie auch immer gearteter, vor allem jedoch ethisch-moralisch orientierter Gewissensbegriff in den Religionen meist einhergeht mit dem Phänomen des Totengerichts, allerdings zunächst häufig in einer strikt religiösen, meist priesterlich-theologisch bestimmten Ausprägung als innere Instanz, welche den Vollzug göttlichen Willens (und damit auch des weltlichen) steuert. Entsprechend fehlt in diesen ethnischen Religionen gewöhnlich auch ein ausgeprägter Gut-Böse-Dualismus im heutigen Sinne. Die ethnischen Religionen zeigen jedoch vor allem im Zusammenhang mit chthonischen Fruchtbarkeitsvorstellungen verschiedene Frühstadien des Totenglaubens, die später in den entwickelteren Religionen zu einem Totengericht und wegen des Wegfallens der ewig konstanten Ahnenwelt auch zu eschatologischen Vorstellungen hinführen, weshalb sich eine nähere Betrachtung auch in diesem Zusammenhang lohnt.
Asien
In ganz Asien[246] haben sich neben den Hochreligionen auch Reste alter schamanischer bzw. animistischer Vorstellungen gehalten, entweder außerhalb der großen Religionen, etwa der Bön in Tibet und Nepal[247] oder bei den Adivasi des indischen Subkontinents, in der Mongolei (Tengrismus), aber auch synkretistisch im Innern der vorherrschenden Hochreligionen wie in vielen Teilen Indiens und Hinterindiens sowie in Indonesien und auf den Philippinen (z. B. Igorot). Ausgeprägte Totengerichtskonzepte gibt es vor allem außerhalb der Hochreligionen nicht. Das Jenseits wird wie in anderen schamanisch bzw. totemistisch bestimmten Religionen auch als Kontinuum des Diesseits begriffen, und die Funktion der dortigen, oft mythischen, später auch personalen Ahnen bezieht sich vor allem auf das diesseitige Kollektiv. Individuelle Vergeltungsformen fehlen hingegen.
Oft gibt es überhaupt keinen ausgeprägten Totenglauben, allenfalls die Vorstellung, die Toten verwandelten sich in Geister wie bei den Kubu Südostsumatras. Die nomadisierenden Semang auf der Malaiischen Halbinsel glauben, die Toten würden nach Westen entschwinden und nachts als Vögel zurückkehren. Die kulturell weiterentwickelten Andamanesen haben einen ähnlichen Geisterglauben, dazu allerdings Unterweltsvorstellungen, die aber auch auf christliche Einflüsse zurückgehen könnten. Vergleichbares gilt für die Wedda auf Ceylon. Insgesamt findet man überall mehr oder weniger Varianten derselben archaischen Glaubensvorstellungen, selbst bei den Ainu Hokkaidos.
In Vorderasien ist vor allem die monotheistische Religion der kurdischen Jesiden bemerkenswert, in der es weder Hölle noch das Böse als Personifikation gibt, jedoch eine bis zu siebenmalige Reinkarnation, deren Art von der Lebensführung abhängt. Die eigene Verantwortung des Menschen steht im Zentrum. Totenkult und Rituale sind ausgeprägt. Starke zoroastrische, babylonische und abrahamitische Einflüsse sind feststellbar (Engel, Sündenfall, Taufe). Ein eigentliches Totengericht ist soweit bekannt (diese Geheimreligion ist noch weitgehend unerforscht und hat keine heiligen Texte) nicht institutionell ausgeprägt, jedoch eine indirekte moralische Bewertung im Verlaufe der Seelenwanderung.[248]
Eine weitere Variante stellt die alte Religion der nomadischen Sinti und Roma dar, deren Ursprung vermutlich im Norden Indiens zu suchen ist.[249] Magie, Ahnenkult, Fruchtbarkeitskult mit der Verehrung der Erde und Totenglauben sind ausgeprägt; es bestehen starke christliche Synkretismen (Sara, Maria, Apostel), sofern das Christentum nicht ohnehin übernommen wurde. Der Tod ist im Rahmen der Sippe nur ein Durchgangsstadium in eine andere Lebensform und geprägt vom Glauben an das Weiterleben nach dem Tode. Totengerichtsvorstellungen sind vor dem Hintergrund solcher Konzepte nicht ausgeprägt, oder wenn doch, gleichen sie den übernommenen Religionen der Umgebung.
Bei den zu den altindonesischen Völkern gehörenden Batak Sumatras,[250] die durchaus ähnliche Glaubensvorstellungen entwickelten, wenn auch mit starken regionalen und stammesgebundenen Varianten, war ein bereits sehr komplexer Glaube mit Trinitätsvorstellungen entwickelt, der heute allerdings aufgrund des in manchen Zügen ähnlichen Christentums kaum noch existiert. Der Tod wurde als Übergang in einen Seelengeist tondi verstanden. Dieser hatte im Totenreich je nach der Position im Diesseits und den angewandten Riten beim Begräbnis, die sich über ein Jahr hinziehen konnten, eine unterschiedliche Stellung bis zur höchsten Position eines sombaon (Anbetungswürdiger), so dass man hier schon von einer Vorform des Totengerichts sprechen kann, da eine postmortale Einstufung im Jenseits erfolgt, die allerdings noch vom Diesseits aus definiert wird. Die mächtigsten Repräsentanten sind aber auch hier wiederum die auch in Bildnissen präsenten Ahnen mit ihrem Einfluss auf das Diesseits, die daher unbedingt günstig gestimmt werden müssen.
Bei den Wemale auf Seram findet sich die Vorstellung der Dema-Gottheit, ähnlich in den anderen altindonesischen Religionen, die allerdings später allesamt durch Hinduismus, Buddhismus, Islam und Christentum sowie durch die Religionen chinesischer Einwanderer überlagert wurden. Die Zahl der Götter, Geister, Dämonen und Kulturheroen ist enorm und regional vielfältig, ebenso sind es die entsprechenden Mythen, oft auch solche, die Götterstreitigkeiten zum Gegenstand haben, vor allem zwischen den Göttern der Ober- und der Unterwelt. Zu Dämonen können die Seelen der Toten werden, die nicht auf „ordentliche“ Weise starben. Die Ahnen sind insgesamt eher individuell gedacht, haben aber als Stammesahnen oder rituell erhöhte Ahnen eine hohen Status, allerdings nur für Menschen, die in einer genealogischen Abfolge stehen. Entsprechend hatte sich bei den altindonesischen Völkern auch eine Adelsschicht gebildet. Der Status wurde ins Jenseits mitgenommen, das nach einer durch einen Seelenbegleiter geführten beschwerlichen Reise erreicht wurde und als Seelendorf ein Abbild des Diesseits auch in sozialer Hinsicht war. Wurden aber die Riten im Diesseits eingestellt, verfiel auch das Seelendorf, denn die Einheit zwischen Toten und Lebenden war dadurch zerbrochen. Das Zerbrechen oder Sichauflösen eines solchen Kontinuums wiederum ist die Voraussetzung für die Existenz eines Totengerichtes als Zäsur zwischen Diesseits und Jenseits, wie es die eindringenden Hochreligionen allesamt entweder systematisiert oder institutionalisiert boten. Geistige Basis eines solchen Wandels ist nach Jensen die zunehmende Heilserwartung der Menschen, die einen Wandel von dem sich in Urzeitereignissen verwirklichenden Dema-Gott zur eingreifenden Gottheit mit sich brachte, wie sie für den Polytheismus und erst recht für den Monotheismus typisch ist. Ein dazwischengeschalteter, diese Heilserwartungen zwar garantierender, aber ethisch voraussetzungsloser Ahnenkult wäre hier störend gewesen, da die Götter ihr Eingreifen nun zunehmend mit ethischen Regeln verbanden, die darauf jene des ursprünglich lebenspraktischen und durch Ahnen kontrollierten Brauchtums der Naturvölker ablösten. An die Stelle der magisch wirkenden Ahnengeister traten dann andere, diesseitige (z. B. Priester) und jenseitige (Totengericht, Jenseits, Hölle) Kontroll- und Strafmechanismen.[251] Max Weber notierte dazu:[252]
„Wo der Geisterglaube zum Götterglauben rationalisiert wird, also nicht mehr die Geister magisch gezwungen, sondern Götter kultisch verehrt und gebeten sein wollen, schlägt die magische Ethik des Geisterglaubens in die Vorstellung um: dass denjenigen, welcher die gottgewollten Normen verletzt, das ethische Missfallen des Gottes trifft, welcher jene Ordnung unter seinen speziellen Schutz gestellt hat.“
– Max Weber: Religionssoziologie
Weiter in Teil 6
Jainismus:[189] Der Jainismus ist etwa gleichzeitig mit dem Buddhismus entstanden. Sein wesentliches Merkmal sind Gewaltlosigkeit und Askese. Die Welt gilt dem Jainisten als ungeschaffen und von ewiger Dauer, und es gibt auch keinen persönlichen allmächtigen Gott (ähnlich wie später im Buddhismus), auch nicht als demiurgische Schöpfergestalt. Nach der dualistisch orientierten Vorstellung des Jainismus wechseln sich ein Zeitalter (Kalpa), in dem die menschlichen Tugenden und spirituellen Fähigkeiten wachsen, und eines des Niedergangs auf ewig ab. In jedem Zeitalter erscheinen 24 Tirthankaras (geistige Führer). Das gegenwärtige Äon gilt als ein Zeitalter des Verfalls. Wesentlich dabei ist, dass es weder einen Schöpfergott noch ein institutionelles Totengericht oder gar ein Weltuntergangsszenario gibt, dass sich vielmehr der Zyklus von Geburt und Wiedergeburt unendlich fortsetzt. Jainas glauben allerdings, wie auch Hindus und Buddhisten, an die Karma-Lehre, Wiedergeburt (Samsara) und eine geistige Erlösung aus diesem Kreislauf durch Eingehen in das Nirwana. Das Karma baut sich danach auch nicht wie im Buddhismus aus verschiedenen Teilen auf, die auch auf verschiedene Menschen übergehen können, sondern es treibt die hinduistische Vorstellung ins Extrem und „klebt“ förmlich an der Seele. Der Jainismus ist vielleicht die Religion überhaupt, die ethische Grundsätze am striktesten fordert und das Gesamtheil der Seele ausschließlich davon abhängig macht, ohne ein Totengericht, göttliche Gnade, Prädestination, Erbsünde oder ähnliche Straf- und Exkulpationsmechanismen zu bemühen: Jeder ist für sein Heil ausschließlich selbst verantwortlich, und jeder auch nur geringe Verstoß gegen ethische Prinzipien, der sich auf alles Belebte und Unbelebte beziehen kann, wirft die Seele auf ihrem Weg zur Erlösung in einem als Paradies konzipierten Endstadium zurück.
Das komplexe ontologische und kosmologische System der Jainisten hat fünf Bereiche. Der unterste Bereich, die Hölle Adholoka, ist in sieben Ringe unterteilt, die nach unten hin immer dunkler und qualvoller werden und in denen die Seelen je nach ihrem durch eine strikte, keinerlei Totengerichtsmechanismen erfordernde Kausalität ins Universum eingebundene Karman gereinigt werden, das als stoffliche Substanz verstanden wird, die die Seele an den Körper bindet und die daher im Laufe vieler Reinkarnationen davon gereinigt werden muss.[190]
Sikhismus:[191] Im monotheistischen, als Reformbewegung im 15. Jahrhundert entstandenen Sikhismus wurden religiöse Konzepte des Hinduismus mit denen des Islam verschmolzen. Leitfiguren sind die zehn Gurus. Sikhs akzeptieren die Lehre von der Wiedergeburt. Im Gegensatz zu den Hindus lehnen sie aber den Glauben an eine sich wiederholende Reihe von Geburten als Mensch ab. Von der niedersten Gestalt bis zur höchsten Form, der menschlichen, steigt ein Wesen in Tausenden von Leben auf, denn nur ein Mensch kann sich mit Gott vereinigen. Es gibt keine prädestinierte Zukunft, vielmehr muss jeder aus seinem Schicksal das Beste machen. Askese wird nicht empfohlen, vielmehr aktive Nächstenliebe. Sikhismus ist damit eine soziale Religion, und ethische Prinzipien im Rahmen der Gesellschaft ersetzen die Dharma-Vorstellungen des Hinduismus und das in ihm enthaltene Totengericht. Sie fordern ein Sich-Ergeben in die gesellschaftliche Situation und sehen dies als ethisch an im Sinne einer späteren Erlösung in Brahma.
Buddhismus und Lamaismus
Der Totengott Yama wird in Tibet als ein Hüter spiritueller Praktiken verehrt und wurde dies vermutlich schon vor dem religiösen Wandel vom Bön zum Buddhismus dort im 7. Jahrhundert; die Figur ist aus bemaltem Holz und über 1,20 m hoch, menschliche Schädel und Köpfe schmücken Krone und Halskette von Yama (Field Museum of Natural History, Chicago).
Grundzüge: Der Buddhismus[192] entstand als Reform des Hinduismus gegen die heiligen Schriften der Veden und die dabei zum Ausdruck kommende Volksreligiosität, damit auch gegen den brahmanischen Opferkult und die Upanischaden-Mystik.[193] Obwohl es mit Siddharta (später als Buddha, der Erleuchtete, bekannt) eine Stifterperson gibt, ist er keine prophetische Erlösungsreligion im klassischen Sinne, da die Erlösung in ihm auf anderen Wegen durch individuelle Anstrengung und nicht durch göttlichen Gnadenerweis erreicht wird.[194] Er ist ebenfalls, wenn auch bei weitem nicht in dem Ausmaß wie der Hinduismus, in dem Buddha als Avatar Wischnus gilt, heterogen und durch mehrere große philosophische Schulen geprägt, die sich vor allem mit seinen ausgeprägten erkenntnistheoretischen Aspekten sowie etwa im Zen mit intensiven Meditationspraktiken befassten. Er ist entsprechend weniger dogmatisch als logisch aufgebaut, verurteilt das Kastenwesen und empfiehlt die Selbsterfahrung seiner Anhänger, ist in diesem Sinne wie der Jainismus, von dem er viele Anregungen aufnahm, eine modernere Variante des Hinduismus.[195]
Unterschiede zum Hinduismus: Die im Zusammenhang mit Tod, Jenseits und Totengericht wesentlichsten Unterschiede stellen sich vor allem im Pali-Kanon wie folgt dar:
Der Buddhismus verneint die Existenz einer individuellen Seele. Das Individuum ist vielmehr aus Phänomenen zusammengesetzt, die sich in fünf Kategorien unterteilen lassen: physische, Gefühle, Sinneswahrnehmungen, Reaktionen darauf und Bewusstsein. Es gibt daher genau genommen auch keine Seelenwanderung im engeren Sinne, da es in diesen fünf Kategorien keinen Atman gibt. Buddhas Lehre handelt entsprechend vom Nichtselbst (Anatman). Die Identifizierung mit dem Selbst wie im Hinduismus hielt er für eine häufige Ursache des menschlichen Leidens. Durch Meditation kann man sich vom Trugbild des Selbst befreien.[196]
Die Rolle des Bewusstseins in der Seelenwanderung ist die eines Katalysators, der selbst nicht bei der Wiedergeburt in die dann neue Person eingeht. Lediglich die in einem karmischen „Konditionalnexus“[197] verbundenen Tatabsichten sind für den neuen Menschen bestimmend, ja sie wirken sogar auf die Auswahl der dann gebärenden Mutter und die in ihr ruhenden Erbanlagen ein.[198]
Das Ich wird entsprechend nicht als individuelle Einheit wie im Hinduismus wiedergeboren, und der Tod ist ein Zustand erhöhten Bewusstseins, der die Möglichkeit bietet, aus dem Kreislauf der Wiedergeburten auszubrechen. Das Totenbuch der Tibeter schildert diese Möglichkeiten. Die Gedanken eines Menschen während seines Todes sind daher von größter Bedeutung.
Der Strom der Phänomene, aus denen die fünf geistigen Kategorien bestehen, wird vom Karma dazu getrieben, eine Verkörperung zu suchen, die den karmischen Gegebenheiten entspricht. Über die Art und Weise herrscht aber teilweise Uneinigkeit zwischen den großen Hauptschulen:[199]
Der Theravada-Buddhismus, meist als Hinayana-Buddhismus (auch Shravakayana bzw. „kleines Fahrzeug“) bezeichnet, ist die früheste Form. Seine Lehre ruht auf dem Pali-Kanon. Das Heil des Einzelnen steht hier im Vordergrund.[200]
Der später entstandene Mahayana-Buddhismus („großes Fahrzeug“). Das Heil des Kollektivs steht im Vordergrund. Er zeigt die Möglichkeit auf, durch Bodhisattvas das eigene bereits erlöste Krama auf andere Menschen zu übertragen und so vorläufig auf das eigene Eingehen in das Nirwana zu verzichten, bis der Andere ebenfalls gerettet ist.[201]
Der tibetische Tantrayana-Buddhismus (auch Vajrayana oder Mantrayana) bzw. Lamaismus.[202]
Die ostasiatischen Formen Amida-Buddhismus und Zen (siehe unten).
Kleinere Schulen bzw. Nebenformen sind:[203]
Der im 8. Jahrhundert in Bengalen entstandene Sahajayana-Buddhismus, der alle Konventionen missachtet und Züge einer Verzückungsfrömmigkeit trägt.
Der noch weitgehend mysteriöse, im 10. Jahrhundert entstandene Kalacakra-Buddhismus, ein System von Astrologie, das religiöse Bedeutung annahm.
Die buddhistische Kosmologie ist extrem strukturiert und enthält vor allem in der tibetisch-buddhistischen Fassung des Lamaismus drei Sphären der Existenz (Triloka):[204]
Die Sphäre der Begierden (Kamaloka) mit folgenden Ebenen in absteigender Reihenfolge: sechs niedere Himmel (Devaloka) mit acht bis 24 Regionen, wo Indra und andere niederere hindu-buddhistische Gottheiten sowie die diese bekämpfenden Titanen leben, menschliche Welt, Tierwelt, Welt der hungrigen Geister und Höllen. Die Hölle Naraka, über die Yama mit acht Generälen und 80.000 Gefolgsleuten herrscht, gliedert sich wiederum in sieben bis acht Haupthöllen und 16 bis 128 heiße und kalte Nebenhöllen, wo die Frevler leiden. Wiedergeburt ist in all diesen Reichen möglich, wobei das Menschenreich sehr schwer zu erreichen ist. Selbst Götter werden wiedergeboren. Auch die Wiedergeburt in der Hölle ist aber befristet. Das Nirwana bleibt jedoch höchstes Ziel.[205]
Die feinstoffliche Sphäre Rupaloka der höheren Gottheiten.
Die Sphäre der Körperlosen Arupaloka, in der die himmlischen Wesen der Sphäre des endlosen Raumes und des Bewusstseins leben. Der Vajrayana-Buddhismus kennt noch zwei weitere Sphären.
Die vier edlen Wahrheiten: Die Wurzel des Lebens ist Leiden (dukkha) (1), das durch Verlangen (tanha) nach Macht, Genuss und langem Leben entsteht (2). Erlösung im Nirwana (3) wird erreicht, indem man dieses Leiden überwindet und den achtfachen Weg beschreitet (4). Dukkha ist jedoch auch Vergänglichkeit, Unvollkommenheit durch Alter, Krankheit und Tod. Die Wurzel des Verlangens ist Anitja, eine falsche Vorstellung vom Wesen der Wirklichkeit.
Es gibt keinen Gott und keine Götter. Der Buddhismus ist die einzige atheistische Großreligion. Buddha sprach sich allerdings nicht gegen Götterverehrung aus, warnte jedoch vor ihrer kritiklosen Anerkennung, da sie nicht zur Lösung der Leiden führe. Allerdings haben sich später dennoch gottartige Figuren ausgebildet, und bestimmte Götter wie der Totengott Yama sind übernommen worden oder erhalten geblieben. Dort, wo Götter dennoch vorkommen, sind sie jedoch weniger Eigennamen als Bezeichnungen bestimmter funktionaler Posten, welche von Personen eingenommen werden, die den Rang für einige Zeit verdient haben.[206]
Die Vorstellungen von der Hölle mit dem Totengott Yama entsprechen denen des Hinduismus. Allerdings lehrt der Lamaismus teilweise, die Hölle sei lediglich ein Produkt der Einbildungskraft. Hinayana und Mahayana allerdings halten sie hingegen für real und damit auch ein Totengericht.
Der Buddhismus kennt keine Sünde, keinen Verstoß gegen göttliche Gebote. Die Wiedergeburt ist keine Strafe, sondern nur die natürliche Folge der Existenz. Das Karma-Gesetz wirkt dabei mechanisch und bedarf keiner über die Taten richtenden Instanz. Dabei sind nicht die Taten als solche ausschlaggebend, sondern die Motive dafür, die Absichten.[207]
Ethik: Im Buddhismus ranken sich zahlreiche hochkomplexe Texte um das Böse.[208] Das Böse im moralischen Sinne ist genauso wenig als eigene Kategorie ausgebildet wie im Hinduismus, sondern ausschließlich im soteriologischen, also erlösungsbedingten Sinn als alles, was der Erlangung des buddhistischen Heils im Wege steht, das heißt die vollkommene Wahrheit/Freiheit nicht zum Durchbruch kommen lässt. Es wird als Ausgeliefertsein an die eigenen Begierden verstanden. Die Menschen leben in einer selbst verursachten, sich mit jeder falschen Tat verfestigenden verkehrten Weltsicht, die ihnen Wünsche eingibt, Ängste einflößt und Vorschriften macht, die gerade nicht der Wirklichkeit entsprechen. Alle Aspekte des Bösen stehen untereinander in Verbindung, so dass das Böse nicht nur wie im westlichen Sinne subjektzentriert verstanden wird, sondern auch die objektzentrierten Aspekte wie etwa „die böse Welt“, „das böse Zeitalter“ usw. als transindividuelle Formen enthält, in deren Rahmen der Einzelne gar nicht anders handeln kann als böse. Ein moralisches Handeln kann zudem soteriologisch falsch sein. Die religiöse Ethik des Buddhismus fügt sich daher nicht in die klassischen ethischen Systeme des Westens, etwa Immanuel Kants (allenfalls gibt es Ähnlichkeiten zur Werteethik Max Schelers) mit seinem autonomen rationalen Subjekt, da dieses durch die Gesetzmäßigkeiten des Samsara mit der Selbstverwirklichung im Nirwana aufgehoben wird, die aber wiederum durch das ethische Ideal des Mahayana-Bodhisatava ausgeglichen werden kann. Letztlich ist aber der unausrottbare Wahn vom eigenen, substantiellen, autonomen Selbst das Böse schlechthin oder radikal Böse in einem allerdings metaethischen Sinn. Dieses Selbst muss schon in der ersten Stufe des Achtfachen Pfades als Erstes aufgegeben werden.[209] Damit könnte im Buddhismus eine eigentliche philosophische Ethik durchaus unmöglich sein, und der Buddhismus vermeidet sie denn auch konsequent, da sie wie gezeigt nur auf der Grundlage eines autonomen Selbst existieren kann und mit dem Begriff des Nicht-Selbst kollidiert.[210] Diesen Relativierungen unterliegen naturgemäß auch alle Vorstellungen von einem wie immer gearteten Totengericht bzw. einer Hölle, die somit keine metaphysischen Regionen sind, sondern Äußerungen der Selbsttäuschung, die und damit Samsara derart bis ins Jenseits hineinreicht, dort jedoch am ehesten durch die überhöhte Klarsicht während des Todes überwunden werden kann – eine der wesentlichsten Funktionen solcher „jenseitigen“ Konzepte überhaupt im Buddhismus.
Das tibetische Totenbuch:[211] Es wurde von einem tantrischen Meister erstellt, steht im Zentrum des tibetischen Vajrayana-Buddhismus und enthält die ausführlichsten Darstellungen vom Sterben und der Wiedergeburt mit zahlreichen ausgeklügelten Bestattungsriten, die auch eine Mumifizierung beinhalten. Es hat den Zweck, dem Sterbenden im Augenblick des Todes, wenn er sich in einem Zwischenzustand befindet, die Erkenntnis des wahren Seins zu ermöglichen und so die Wiedergeburt in dieser Welt zu verhindern. Gelingt dies nicht und wiegt das karmische Erbe zu schwer, wird eine Wiedergeburt unvermeidlich. Wird das dazu nötige Gleichgewicht ebenfalls nicht erreicht, muss der Tote sich dem Urteil über seine früheren Handlungen stellen, das in einer Gerichtsverhandlung unter Vorsitz des Totenrichters Yama gefällt wird, während dessen Helfer den Toten mit einem Strick um den Hals vor ihn zerren und ihm in einem Spiegel seine Taten vorgehalten werden. Überwiegen die schlechten Taten, wird er gefoltert (Abhacken der Glieder), kann jedoch auch dann noch durch die Erkenntnis, dass diese Folter nur Projektion seines eigenen Geistes ist, das Blatt zu seinen Gunsten wenden. Schließlich wird er durch Bilder des Geschlechtsaktes zusätzlich erregt. Wenn er die Kraft findet, auch diesen letzten Reiz als Illusion zu erkennen, kann er ebenfalls der Wiedergeburt entrinnen, wenn nicht, bleibt er nach der Lotus-Sutra für die maximale Dauer eines Weltzeitalters (Kalpa) der Hölle überlassen[212] bzw. wird in einer niederen Daseinsform wiedergeboren.
Das Totengericht ist im Buddhismus also kein Gericht über ethische, gesellschaftliche etc. Verfehlungen, in dessen Folge ein persönliches Karma, das es im Buddhismus ja nicht gibt, gereinigt wird wie im Hinduismus, sondern es ist Teil des Karmaprozesses selbst, und seine Funktion besteht vor allem darin, das Illusorische der Existenz zu erkennen und so die Wiedergeburt zu vermeiden helfen, nicht jedoch Strafen für Taten zu verhängen, die im Sinne der buddhistischen Metaphysik ohnehin nur Teil dieser rein erkenntnisabhängigen Welt sind.
Ostasiatische Varianten:[213] Vor allem zwei, beide in China entstanden:
Der im 4. Jahrhundert entstandene Amida-Buddhismus erwartet die Erlösung in einem Zwischenreich.
Der im 5. Jahrhundert entstandene, später in Japan heimisch gewordene Zen-Buddhismus. Er war vor allem am Diesseits interessiert, weniger an Tod und Wiedergeburt, wandte sich als Reformbewegung gegen erstarrte Bräuche, stellte die Meditation als Instrument der Erleuchtung über die Identität allen Seins in den Mittelpunkt und entwickelte dabei ein striktes Training, wobei er einen enormen Einfluss auf die japanische Kultur ausübte. (siehe unten)
Daoismus und andere chinesische Religionen
Illustration zum Jade-Bericht (19. Jh.), der den Unterweltskönig Biang-cheng zeigt, wie er in der sechsten Hölle den Vorsitz führt. Ein Assistent in Gelehrtentracht präsentiert den Bericht über den Sünder, ein Dämon wird die Bestrafung überwachen.
Allgemein: In China[214] sind, neben dem uralten und in Bräuchen bis heute bestehenden Schamanismus, der Daoismus, Konfuzianismus[215] und der oben bereits dargestellte Buddhismus nach und nach eine teils innige Verbindung eingegangen (San-jiao). Laut einer geläufigen Charakterisierung der chinesischen Religion bilden alle drei Bekenntnisse eine einzige Religion. Dabei hielt man sich an den Konfuzianismus, eigentlich keine Religion, wenn es um die Anleitung für das tägliche Leben ging, wandte sich an den Daoismus für rituelle Läuterung und Exorzismus und an buddhistische Priester bei Begräbnissen. Allerdings ist die Realität wesentlich vielschichtiger. Die jenseitige Welt war vielmehr mit der diesseitigen verwoben und ihr Spiegelbild. Die dortigen Götter und Geister hatten ihre Existenz als Menschen begonnen, und Götter konnten aufgrund eines kaiserlichen Dekretes befördert oder abgelöst werden. Zusätzlich hatten sich noch viele schamanische Elemente einer Ahnenverehrung erhalten. Die chinesische Religion ist im Grunde bis heute ein auf einem Familien- und Sippenkult beruhender, uralter Ahnenkult geblieben, allerdings eher im Sinn einer Ahnenverehrung denn als religiöser Kult, da die auch vom Konfuzianismus geforderte Betonung hier auf der Kontinuität der Abstammungslinien liegt.[216] Dieser Synkretismus sprach alle Schichten an und hielt sich daher bis in die Moderne neben dem Kommunismus Mao Zedongs (mit Unterbrechung durch die Kulturrevolution), der überdies, in sich zwar antihierarchisch, selbst auch konfuzianische Elemente enthielt oder sie doch immer wieder und vor allem seit den 1980ern nutzte.[217] Mao selbst hat das in seinem „Roten Büchlein“ so formuliert:[218]
„Wir alle müssen von ihm (Anm.: dem Volk) den Geist der Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit lernen. Davon ausgehend kann man ein Mensch werden, der dem Volke großen Nutzen bringt. Man kann mit größeren oder geringeren Fähigkeiten ausgestattet sein, aber wer nur eine solche Gesinnung besitzt, wird ein edler Mensch mit klarem Charakter und hohen moralischen Qualitäten sein, ein von niedrigen Interessen freier Mensch, der dem Volke nützlich ist.“
– Mao Zedong: Rotes Büchlein
Frühe Konzepte: Bereits in der Shang-Dynastie (ca. 1766–1028 v. Chr.) glaubte man nachweislich an ein Weiterleben nach dem Tode. Das Weltbild umfasste die klassischen drei Ebenen Totenreich, Welt der Lebenden und Himmel (Götter und Ahnen). Beim Tod stiegen die drei oberen Seelenteile (hun) des Verstorbenen zum Himmel empor und gesellten sich zu den Naturgöttern, die sieben unteren Seelenteile (po) sanken in die Erde ins Totenreich. Die Toten nahmen aber weiter am Leben der Familie teil und erhielten über mindestens fünf Generationen hinweg tägliche Speise- und Trankopfer. Dieses System übernahm der Daoismus später mehr oder weniger.[219]
Der Konfuzianismus, der bis 1911 Staatskult war, ist jedoch keine Religion im engeren Sinne, da er keine oder kaum originäre metaphysische Konzepte entwickelte, Gedanken über den Tod gar für Zeitverschwendung hält (so Konfuzius selbst in den Analekten), sondern vor allem ein staatspolitisch-ethisches System der Alltagspraxis und der Politik war. Jenseitsvorstellungen waren ihm ursprünglich eher fremd, obwohl sie sich unter dem Einfluss des Daoismus, der die altchinesischen, noch stark schamanisch geprägten Vorstellungen des I Ging aufnahm, sowie des Buddhismus später ebenfalls mit der Zeit ausbildeten.[220] Auch enthalten einige konfuzianische Bücher durchaus metaphysische Themen (Jenseits, Geister etc.). Konfuzius selbst hat religiöse Bräuche sehr gewissenhaft beachtet, wurde später sogar vergöttlicht und in eigenen Tempeln verehrt. Seine metaphysische Basis ist allerdings nur die Legalisierung und Formalisierung des überkommenen Ahnenkultes in den Zeremonien (Li), ein eigenes metaphysisches System hat er nicht entwickelt, und ein eigenes konfuzianisches Priestertum hat es nie gegeben.[221] Nach dem Tode bleibt der Mensch über den Ahnenkult in einer fortgesetzten Kommunikation mit der Welt der Nachfahren. Hauptgegenstand des konfuzianischen Konzeptes ist jedoch bei Konfuzius wie auch bei seinen beiden wichtigsten Nachfolgern Mengzi und Xunzi (beide 3. Jh. v. Chr.) die moralische Qualität von Mensch, Welt und Staat, wobei Konfuzius und Mengzi postulierten, der Mensch sei von Natur aus gut, Xunzi hingegen meinte, das Böse sei ihm angeboren.
Der Daoismus ist hingegen die ursprünglichste und autochthone Religion Chinas. Laotse ( = „alter Meister“, vermutlich 6. Jh. v. Chr.) gilt als spiritueller Initiator dieser teilweise als Reaktion auf den Konfuzianismus entstandenen Religion, das Taoteking als seine grundlegende Schrift.
Wesen und kosmologischer Kontext:[222] Der Daoismus vermeidet das Problem der irdischen Gerechtigkeit und ihrer Ethik und beschäftigt sich vor allem mit dem Urgrund des Seins und den inhärenten Wandlungen (I Ging, Yin Yang). Bei gleichzeitiger Ablehnung der alten, von Göttern, Geistern und Dämonen wimmelnden Religion kehrt er wieder stärker zu metaphysischen Inhalten zurück und nimmt sich die Natur zum Vorbild, die als Wesensquelle aller ethischen Normen angesehen wird, das Böse z. B. als entartete Natur, dem der Mensch allerdings nichts entgegenzusetzen habe und der daher ganz im bedingungslosen Annehmen der eigenen Natur aufgehen müsse. Ideal ist hier das Nichtstun; das Tao ist verborgen und kann nicht erkannt werden. Ist Handeln aber notwendig, soll es dem Prinzip Wu Wei folgen: „tun, was natürlich ist“. Die Daoisten lehnten daher alle zivilisatorischen Entwicklungen, aber auch die soziale Ethik des Konfuzianismus ab, und ihr Ideal war eine Rückkehr zu steinzeitlichen Lebensbedingungen, die sie als hinreichend selbstgenügsam ansahen.
Eine Zwischenstellung nimmt dabei die etwa gleichzeitig entstehende Philosophie des Mohismus ein, die allerdings dem Konfuzianismus näher steht als dem Daoismus, jedoch das Jenseitige mehr einbezieht, während der Daoismus die alte schamanische chinesische Götter-und-Geister-Religion scharf ablehnt und eher mit frühen, noch nicht theistischen animistischen, jedoch philosophisch überwölbten Vorstellungen vergleichbar ist.
Der häufig zentrale Dualismus vor allem der chinesischen Religionen wird nicht ethisch als Gut/Böse-Paar begriffen (das etwa in der dualen Yin/Yang-Symbolik nicht enthalten ist!), sondern ontologisch als System grundlegender harmonischer Wechselwirkungen. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist somit ein kosmisches Phänomen, dem sich letztlich auch Götter zu unterwerfen haben, dessen weltliche Ausformung aber der kosmischen untergeordnet und in diesem Rahmen eher belanglos ist.
Tod, Jenseits und Totengericht:
Im Daoismus gab es wie schon seit der Shang-Zeit zwei Seelen: Tji als das unlösbar mit dem Leib zusammenhängende Leben und das Ling, die vom Leib trennbare Seele (auch po und hun), die nach dem Tod entweder ein Gui, ein Teufel, oder ein Schön, eine Gottheit, wurde, je nach den diesseitigen Qualitäten (vor allem Adelige kamen in den Genuss des himmlischen Daseins).[223] Der Tod selbst wurde im alten China als nichts anderes gesehen als ein Teil eines nahtlosen Ganzen, einer universalen Ordnung, der man sich in gehöriger Reihenfolge anzunähern hatte. Störungen der inhärenten Harmonie, die stets wie auch alles Böse dem menschlichen freien Willen entstammten, führten automatisch zu Vergeltung. Allerdings konnte die Kraft der verschiedenen unterweltlichen und göttlichen Wesen bis zu einem gewissen Grade diese Folgen abwenden. Zunächst fand diese Einstellung in einem zuvor schon stark ausgeprägten Begräbnis- und Ahnenkult ihren Ausdruck, und Opferriten waren von überragender Bedeutung.
Mit der Ankunft des Buddhismus in China im 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. systematisierten sich die bereits im Daoismus vorhandenen Himmel- und Höllenvorstellungen bis zum 9./10. Jahrhundert. Der verewigte Laotse und andere Heilige wohnten in einem Paradies, das beim Berg K'un-lun vermutet wurde. Andere, etwa zu Genien gewordene Asketen, wohnten auf den im Osten gelegenen fünf Inseln der Seligen. Besonders die Hölle wurde nun aber systematisiert. Bisher war sie als eine Art Gefängnis verstanden worden, das unter der Verwaltung einer undurchschaubaren Bürokratie stand (chin. di yu für Hölle bedeutet Erdgefängnis) und in dem die Toten ihre Strafen erlitten, etwa wegen nicht oder schlecht eingehaltener Totenrituale usw., weniger wegen ethischer Verfehlungen. Nun entstand ein System mit zehn Höllen, in denen man für seine Sünden schmerzlichst zu bezahlen hatte.[224]
Ab dem 7. Jahrhundert während der Tang-Dynastie verlor der Daoismus vor allem im Volk stark an Einfluss, insbesondere als die konfuzianische Ordnung in die Geisterwelt und in die Verwaltung eingeführt und die Konkurrenz des Buddhismus immer stärker wurde. In der Folge sank er mehr und mehr zu einer reinen Mönchsreligion und zu einem Zauberkult herab.[225] Wie sehr zudem der missverstandene Buddhismus dann die chinesischen Unterweltsvorstellungen des Daoismus beeinflusste, zeigt das Beispiel des Jade-Berichts aus dem 19. Jahrhundert (s. Abb.), denn hier gibt es nun ein „klassisches“, mit dem Nimbus des mythischen Jadekaisers ausgestattetes Totengericht, das auch weltliche Verfehlungen der moralisch-ethischen Kategorie mit grausamen Strafen ahndet. Nach der Strafe werden die Seelen auf die Erde zurückgeschickt und in niederen Existenzformen reinkarniert.[226]
Bemerkenswert für alle religiösen Richtungen Chinas ist die Tatsache, dass es so etwas wie ein Totengericht als Instanz zur ethischen Bewertung diesseitiger Handlungen im Jenseits zunächst nicht gab, allerdings ein Höllengericht, das von einem der zehn Höllenkönige, Janluo Wang, verwaltet wird. Es beschäftigte sich ursprünglich jedoch nicht mit Missetaten der Seelen im Diesseits, sondern mit entsprechenden Verfehlungen in der Unterwelt, die als völliges Gegenbild zum Diesseits konzipiert war und dem Kaiser ebenfalls unterstand. Die Höllenkönige hatten bis zur Mitte der Han-Periode überdies keinen allzu hohen Rang; der höchste unter ihnen trug den Titel „Enkel des Himmels“ , hatte also in etwa den Rang eines kaiserlichen Provinzgouverneurs. Die Vorstellungen von den zehn Höllenkreisen bildeten sich allerdings erst im 9. und 10. Jahrhundert n. Chr. aus, systematisiert durch den Konfuzianismus, wobei die Vorstellungen des Buddhismus hier allerdings völlig missverstanden wurden und sich in der chinesischen Religion nun tatsächlich so etwas wie Höllenstrafen für diesseitige Verfehlungen ausbildeten (es gab, der Vielfalt solcher Missetaten entsprechend, 138 Strafplätze[227]), die formal ganz verblüffend Dantes Inferno gleichen. In den chinesischen Höllen werden allerdings im Gegensatz zu denen Dantes keine göttlich verordneten Strafen vollzogen, sondern Maßnahmen zur Wiederherstellung der Harmonie, dazu wegen Nichteinhaltung von Totenritualen oder wegen gesellschaftlicher Regelverstöße im Diesseits. Solche Strafen konnten dann durch Opferzeremonien von Priestern abgewendet werden. In regelrechten Unterweltskarrieren konnten etwa im Diesseits unschuldig Verfolgte nach und nach göttliche Positionen oder die Funktion von Höllenrichtern einnehmen. Diese späte Phase der chinesischen Unterweltsvorstellungen enthält zahllose Fabeln und Fantasien, die für sich genommen wohl die Angst vor dem Tode mildern sollten, die andererseits aber auch eine wichtige Konstante der chinesischen Kultur gewesen sind. (In Legenden wurden gelegentlich auch Höllenreisen Lebender beschrieben.) So machte man Himmel wie Hölle zu einer verständlichen Kopie des Diesseits, die zudem unter der Kontrolle des Kaisers stand und durchaus „Entfaltungsmöglichkeiten“ für im konfuzianischen Sinn verdiente Menschen bot. Damit war der Tod und das, was danach möglicherweise kam, aber auch nicht mehr so furchteinflößend, da es den diesseitigen Verhältnissen entsprach.
Das eigentliche Verfahren des Totengerichtes stellte sich nach synkretistischer Verschmelzung von Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus wie folgt dar:[228] Im Augenblick des Todes wird der Tote durch Boten zum Gott der Wälle und Gräben Ch'eng Huang (城隍, Chéng Huáng) geführt, der eine Art erste Anhörung veranstaltet. Die Tugendhaften können danach sofort zu einem der buddhistischen Paradiese weiterziehen, etwa auf den Berg K'un-lun, wo die daoistischen Unsterblichen weilen, oder aber in den zehnten Höllengerichtshof, um sofort wiedergeboren zu werden. Die Sünder hingegen steigen nach 49 Tagen direkt hinab in die Hölle am Grunde des Berges Meru. Die Gerichtshöfe der 10 Höllenkönige Shih Wang befinden sich in der Höllenhauptstadt Feng-tu (酆都, Fēng dū) und haben dort – wie weltliche Gerichtshöfe − unterschiedliche Zuständigkeiten, wobei der 10. König für die Reinkarnation der Seelen verantwortlich ist. Diese Systematisierung ist konfuzianisch, während das Höllenmodell auf buddhistischen Vorstellungen beruht, das Paradies hingegen ist vorwiegend daoistisch strukturiert. Die Sünder werden nun in einer oder mehreren Höllen ihrer Bestrafung unterzogen, die allerdings durch das Eingreifen des gnadenvollen Ti-ts'ang (大願地藏菩薩, Dàyuàn Dìzàng Púsà ‚Ksitigarbha‘), eines buddhistischen Bodhisattva, gemildert werden kann. Danach trinken die so Bestraften den Trank des Vergessens und erklimmen das Rad der Wiedergeburt, das sie in ihre nächste Existenz trägt. Nach anderen Vorstellungen werden sie aber von der Brücke der Schmerzen in einen Fluss geworfen, der sie in ihr nächstes Leben trägt.
Der Tod war entsprechend kein Grund zur Freude, und es gab daher im Laufe der chinesischen Geschichte ständig Versuche, ihm zu entgehen. Insbesondere der Daoismus unternahm ausgedehnte Versuche, die Unsterblichkeit im Diesseits zu erlangen[229] oder in ein Paradies zu gelangen, das man sich gewöhnlich, abgesehen vom Berg K'un-lun, als einen Ort jenseits des Horizonts vorstellte. Es entwickelten sich also unter der Prämisse der Schrecken des Todes mehrere spekulative Ausweichmöglichkeiten, darunter auch eine philosophisch-konfuzianische, welche das rituelle Wiedereinfügen in den Kosmos durch allerlei Manipulationen der Geister propagierte. Die extreme Flexibilität der chinesischen Volksreligion erlaubte es in der Spätzeit schließlich jedoch, all diese Vorstellungen gleichzeitig und nicht als widersprüchlich anzunehmen, so dass die Schrecken der zehn unerbittlichen Höllenkönige schließlich schwanden.
Japan und Korea: Shintoismus, Zen-Buddhismus und Schamanismus
Der Shinto-Kami Inari geweihte Füchse, ein Torii, ein buddhistischer Pagodenturm und buddhistische Statuen zusammen an einer Weihestätte in Jōgyō-ji, Kamakura, zeigen, wie sehr die beiden Religionen in Japan miteinander verschmolzen sind
llgemein: In Japan haben sich zwei Religionen durchgesetzt: der Buddhismus (insbesondere der Zen-Buddhismus) und der im Vergleich zu dessen ausgefeilter Dogmatik altertümliche Shintoismus,[230] letzterer als rein nationale Religion, nachdem er bis zum Eindringen des Buddhismus im 6. Jahrhundert eine heterogene Ansammlung lokaler Ahnen- und Geisterkulte gewesen war mit Verehrung von Naturphänomenen und Fabelwesen sowie Fruchtbarkeitsritualen, die vermutlich als Traditionen bereits aus China mitgebracht oder den dortigen Gebräuchen nach und nach angepasst worden waren. Der genaue Ursprung des japanischen Ahnenkultes ist unklar, jedoch scheint der Einfluss des Buddhismus in diesem Punkte erheblich gewesen zu sein.[56] Beider Verhältnis war im Laufe der Geschichte von teils komplizierten Wechselwirkungen geprägt, wobei der Shintoismus, nachdem 1868 die Shinto-Buddhismus-Einheit durch ein kaiserliches Edikt aufgelöst worden war, mitsamt seiner Mythologie schließlich politisch instrumentalisiert und zum Staatsshintoismus mit kaiserlichem Gepräge wurde.
Auch der Shintoismus ist allerdings nicht monolithisch, und man unterteilt ihn in
einen Kaiserhaus-Shinto (Ursprung des späteren Staatsshintoismus),
einen Schrein-Shinto, der im Zentrum offizieller und volkstümlicher Zeremonien steht,
einen Sekten-Shinto und einen Volksshinto, die beide aus altertümlichen magischen etc. Ritualen bestehen.[231]
Die drei ersten Untertypen werden durch keinerlei Dogmen oder heilige Bücher eingegrenzt, so dass mitunter die Frage gestellt wird, ob dieser Shinto überhaupt als Religion zu bezeichnen sei. Im modernen Japan sind viele zugleich Buddhisten und Shintoisten, wobei Begräbnisse vor allem nach buddhistischem Ritus vollzogen werden. Entsprechend stehen in japanischen Häusern oft auch zwei Altäre.
Die Götter als solche heißen Kami, sind im Grunde eher Geisterwesen, und es gibt unzählige davon, auch sind sie nicht allmächtig oder allwissend. Zunächst verstand man darunter personifizierte Naturkräfte; auch Bäume und Berge konnten Kami sein. Sie haben gute und böse Seiten und besitzen entsprechend zwei Seelen, die ihre menschenähnlichen Körper verlassen und in andere eindringen können. Auch die Ahnen-Kami gehören zu ihnen. Kannushi wiederum sind mächtige Mittlergestalten zwischen Menschen und Kami.[232]
Nach dem Tod wird jeder Kami. Gute Menschen werden wohltätige Kamis, böse werden zu verderbenbringenden. Die Erlangung des Status eines Kami hat also keinerlei ethische Qualität, da sie postmortal quasi automatisch erfolgt. Allerdings rangieren darüber noch besondere, mythische Kamis, vor allem Kulturheroen.[233]
Ethik: Der Begriff der Sünde im Shintoismus tsumi ist völlig anders strukturiert als etwa im westlichen Denken oder im Buddhismus. Er ist eine weltliche Belastung, von der man sich durch harae, Bußgelder oder andere Kompensationen, wieder befreit, die der Geschädigte oft selbst einfordert. Tsumi ist damit Teil der Rechtsordnung, nicht der Ethik und trägt allenfalls Zeichen einer Reinigung, wie sie etwa misogi, die kultische Reinigung mit Wasser, darstellt. Dabei gibt es himmlische und irdische tsumi, also Dinge, die einem Menschen von Göttern auferlegt wurden, etwa Hautkrankheiten und andere Heimsuchungen. Irdische Tsumi sind hingegen Dinge, die der Mensch selbst tut, etwa Inzest oder Hexerei.[234] Man kann also die ethischen Prinzipien des Shintoismus durchaus nach Eliade in dem Satz zusammenfassen: „Verehre die Gottheiten, halte die Reinheitsvorschriften ein“, sowie „Sei aufrichtig und gerade“. Schon deshalb ergab sich keine Notwendigkeit, irgend geartete metaphysische Konzepte im Sinne eines Totengerichtes zu entwickeln, zumal man Vergehen nach dem Tode einfach in den Schlund der Unterwelt werfen kann (siehe unten).
Entscheidend sind jedoch zwei Grundbegriffe: makoto no kokoro (wahrhaftiges Herz) und magokoro (treues Herz), gewöhnlich übersetzt als „Aufrichtigkeit, reines Herz, Rechtschaffenheit“. Obwohl die Shinto-Ethik auch die individuellen Tugenden wie Treue, Ehrlichkeit, Liebe und Kindergehorsam schätzt, legt sie doch besonderen Wert auf magokoro, die erst die dynamische Lebenshaltung erzeugt, die diese Tugenden hervorbringt. Entsprechende Reinigungszeremonien sind daher im Shinto wichtig, um diese Geisteshaltung zu erzeugen, die zudem auch die Voraussetzung für die Kommunikation mit den kami ist und auch um deren Segnungen zu empfangen.[235]
Koshin-Rollbild mit den drei Affen
Das Vergeltungsprinzip wiederum, das einen weiteren zentralen Bestandteil eines Totengerichtes ausmacht, hat sich vor allem im Koshin-Glauben erhalten, dem Rest eines ursprünglich komplexeren Systems aus Daoismus, Buddhismus, Shintoismus und Volksglauben, das während der Heian-Zeit nach Japan kam. Danach leben drei Würmer Sanshi in jedem menschlichen Körper. Sie spüren die guten und teilweise auch die bösen Taten in diesem Menschen auf. Am sogenannten Kōshin-Machi alle 60 Tage verlassen die sanshis den Körper während des Schlafes und begeben sich zum Ten-Tei (天帝), dem himmlischen Herrscher, um ihm darüber zu berichten. Ten-Tei entscheidet daraufhin, ob er den bösen Menschen bestraft, etwa durch Krankheit, Verkürzung seiner Lebenszeit oder in extremen Fällen auch durch den Tod. Anhänger des Kōshin-Glaubens bemühen sich daher, ihr Leben ohne böse Taten zu leben; jene allerdings, die Grund zur Sorge habe, versuchen während der Kōshin-Nächte wach zu bleiben, um so die Würmer am Verlassen des Körpers zu hindern. Das bekannteste Symbol dieses Glaubens sind die drei Affen. Die wichtigste Gottheit des Koshin-Volksglaubens ist Shōmen Kongō, eine furchterregende Gestalt mit meistens vier Armen. Er ist die zentrale Figur auf den meisten Rollbildern. Die drei Affen, die Augen, Ohren und Mund zuhalten, werden oft abgebildet.[236]
Jenseitsvorstellungen: Im Shintoismus (Weg der Kami) als einer noch stark animistisch geprägten Religion existiert ein eigenes Totengericht nicht. Überhaupt interessiert er sich vor allem für das Diesseits, kaum für das Jenseits, und seine hauptsächliche ethische Forderung ist die Unterwerfung unter den Kaiser. Allerdings finden sich auch hier starke buddhistische Einflüsse. Die Unterwelt heißt Yomi-no-Kuni/Yomo-tsu-Kuni und ist der Herrschaftsbereich der Totengöttin Izanami als erster Verstorbenen, als sie den Feuergott Kagutsuchi gebar; sie bildete zusammen mit ihrem den Himmel beherrschenden Bruder und Gatten Izanagi das Urgötterpaar, das zugleich Mensch und Gott war.[237] Das Reich der Toten oder „Land der Finsternis“ (Yomo-tsu-Kuni) bzw. „Land der Wurzeln“ (Ne-no-Kuni) oder auch „Tiefes Land“ hat zwei Zugänge: der erste verläuft sanft und kurvenreich ansteigend, der andere liegt in einer riesigen Höhle am Meerufer, und sie dringt geradewegs in die Erde vor. Dort hinein wirft man alle Makel mit allen Sünden, die vor allem, charakteristisch für Bauernkulturen, in der Beschädigung von Bewässerungsanlagen, Grausamkeit gegen Tiere und der Verunreinigung heiliger Stätten bestanden. Die unterirdische Welt wird von männlichen und weiblichen Geistern bewohnt, shiko-me (die hässlichen Frauen) oder hiso-me (die Frauen mit gerunzelter Stirn). Stirbt man, verlässt der Geist (kami oder mi) den Körper, um in die andere Welt zu gehen und mit dem Geist des Kosmos wiedervereint zu werden. Vor allem auf den Totenkult nahm der Buddhismus dann starken Einfluss.
Der japanische Buddhismus entwickelte unter dem Begriff Jigoku eigene, vom restlichen Buddhismus abweichende Höllenvorstellungen. Jigoku[238] ist eine Region mit heißen und kalten Orten unter der Erde. Beherrscht wird es von Emma-ten bzw. Emma-ō (buddh. Yama) und Herrn der Toten, der über die Toten urteilt, indem er ein Verzeichnis zu Rate zieht, das all ihre Sünden enthält. Er sorgt dafür, dass alle Wesen bei einer Wiedergeburt einer der 6 Gati (Daseinsformen, in denen sie je nach Qualität wiedergeboren werden) zugeteilt werden.[239] Assistiert wird er von zwei körperlosen Köpfen, die auf Pfeilern an jeder seiner Seiten ruhen. Der weibliche Kopf Miru-me sieht auch die geheimsten Verfehlungen der Sünder, während der männliche Kopf Kagu-hana jede Missetat entdeckt. Die Verdammnis dauert allerdings nicht ewig, und die Toten werden zu zeitlich begrenzten Strafen an einem oder mehreren Höllenorten verurteilt. Die Urteile können auch hier von Bodhisattvas abgemildert werden, entsprechend den Bittgebeten der Lebenden. Das Jigoku-zōshi, eine Rolle aus dem 12. Jahrhundert, zeigt in Wort und Bild 8 große und 16 mindere Höllen.
In Korea herrscht neben dem Buddhismus und Daoismus sowie dem Neokonfuzianismus vor allem ein sehr alter Ahnenkult mit stark schamanischen Zügen vor.[240] Entsprechend gibt es dort auch keine originären Vorstellungen von einem Totengericht außerhalb des Buddhismus oder Daoismus.
Ethnische Religionen
Verbreitung der Religionen weltweit
Ethnische Religionen sind vor allem wegen der Vor- und Übergangsstadien zum Totengericht im Rahmen ihrer jeweiligen Jenseitsvorstellungen von großem Interesse, da sie ausweisen, unter welchen gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen diese überhaupt erst entstehen können. Vor allem Seelenwanderungsvorstellungen, die auf dem schamanischen Konzept der Mehrfachseele beruhen, sind sehr alt und weltweit nachweisbar.[241]
Die meisten indigenen Religionen Asiens, Afrikas, Ozeaniens und Australiens sowie Amerikas[242] kennen kein philosophisch ausgebildetes Konzept des für autonome moralische Bewertungen essentiellen Begriffs des Gewissens im westlichen Sinne zum Beispiel der griechischen Philosophie, der Patristik, Scholastik und vor allem Immanuel Kants.[243] Sie beinhalten lediglich religiöse oder alltagspraktische Repräsentanzen, die sich jeweils aus der Umgebungs- und sozialen Situation ergeben und häufig in Gestalt von Ritualen und Tabus auftreten, ein übrigens auch im Westen bis heute verbreitetes Verhaltensmuster, das eine „direkte Dienstbarmachung der Religion für außerreligiöse Interessen“ darstellt und zu einem „System von Normen“ führt, „nach denen ein- für allemal gewisse Handlungen als religiöse Gräuel gelten, für welche irgendeine Sühne … eintreten muß“.[244] Das gilt vermutlich bereits für den Schamanismus, dem zahlreiche dieser Religionen noch recht nahestehen und derart meist neben einem Totemismus einen für diesen charakteristischen mythischen Ahnenkult im Zentrum haben, der Totengerichtsvorstellungen ausschließt (der Kult wirklicher, personaler Ahnen ist eine historische spätere Entwicklung[245]), da hier noch ein geistiges Kontinuum zwischen Diesseits und Jenseits herrscht, wie Jensen es bereits postulierte (siehe unten). Im Allgemeinen ist religionsgeschichtlich evident, dass ein wie auch immer gearteter, vor allem jedoch ethisch-moralisch orientierter Gewissensbegriff in den Religionen meist einhergeht mit dem Phänomen des Totengerichts, allerdings zunächst häufig in einer strikt religiösen, meist priesterlich-theologisch bestimmten Ausprägung als innere Instanz, welche den Vollzug göttlichen Willens (und damit auch des weltlichen) steuert. Entsprechend fehlt in diesen ethnischen Religionen gewöhnlich auch ein ausgeprägter Gut-Böse-Dualismus im heutigen Sinne. Die ethnischen Religionen zeigen jedoch vor allem im Zusammenhang mit chthonischen Fruchtbarkeitsvorstellungen verschiedene Frühstadien des Totenglaubens, die später in den entwickelteren Religionen zu einem Totengericht und wegen des Wegfallens der ewig konstanten Ahnenwelt auch zu eschatologischen Vorstellungen hinführen, weshalb sich eine nähere Betrachtung auch in diesem Zusammenhang lohnt.
Asien
In ganz Asien[246] haben sich neben den Hochreligionen auch Reste alter schamanischer bzw. animistischer Vorstellungen gehalten, entweder außerhalb der großen Religionen, etwa der Bön in Tibet und Nepal[247] oder bei den Adivasi des indischen Subkontinents, in der Mongolei (Tengrismus), aber auch synkretistisch im Innern der vorherrschenden Hochreligionen wie in vielen Teilen Indiens und Hinterindiens sowie in Indonesien und auf den Philippinen (z. B. Igorot). Ausgeprägte Totengerichtskonzepte gibt es vor allem außerhalb der Hochreligionen nicht. Das Jenseits wird wie in anderen schamanisch bzw. totemistisch bestimmten Religionen auch als Kontinuum des Diesseits begriffen, und die Funktion der dortigen, oft mythischen, später auch personalen Ahnen bezieht sich vor allem auf das diesseitige Kollektiv. Individuelle Vergeltungsformen fehlen hingegen.
Oft gibt es überhaupt keinen ausgeprägten Totenglauben, allenfalls die Vorstellung, die Toten verwandelten sich in Geister wie bei den Kubu Südostsumatras. Die nomadisierenden Semang auf der Malaiischen Halbinsel glauben, die Toten würden nach Westen entschwinden und nachts als Vögel zurückkehren. Die kulturell weiterentwickelten Andamanesen haben einen ähnlichen Geisterglauben, dazu allerdings Unterweltsvorstellungen, die aber auch auf christliche Einflüsse zurückgehen könnten. Vergleichbares gilt für die Wedda auf Ceylon. Insgesamt findet man überall mehr oder weniger Varianten derselben archaischen Glaubensvorstellungen, selbst bei den Ainu Hokkaidos.
In Vorderasien ist vor allem die monotheistische Religion der kurdischen Jesiden bemerkenswert, in der es weder Hölle noch das Böse als Personifikation gibt, jedoch eine bis zu siebenmalige Reinkarnation, deren Art von der Lebensführung abhängt. Die eigene Verantwortung des Menschen steht im Zentrum. Totenkult und Rituale sind ausgeprägt. Starke zoroastrische, babylonische und abrahamitische Einflüsse sind feststellbar (Engel, Sündenfall, Taufe). Ein eigentliches Totengericht ist soweit bekannt (diese Geheimreligion ist noch weitgehend unerforscht und hat keine heiligen Texte) nicht institutionell ausgeprägt, jedoch eine indirekte moralische Bewertung im Verlaufe der Seelenwanderung.[248]
Eine weitere Variante stellt die alte Religion der nomadischen Sinti und Roma dar, deren Ursprung vermutlich im Norden Indiens zu suchen ist.[249] Magie, Ahnenkult, Fruchtbarkeitskult mit der Verehrung der Erde und Totenglauben sind ausgeprägt; es bestehen starke christliche Synkretismen (Sara, Maria, Apostel), sofern das Christentum nicht ohnehin übernommen wurde. Der Tod ist im Rahmen der Sippe nur ein Durchgangsstadium in eine andere Lebensform und geprägt vom Glauben an das Weiterleben nach dem Tode. Totengerichtsvorstellungen sind vor dem Hintergrund solcher Konzepte nicht ausgeprägt, oder wenn doch, gleichen sie den übernommenen Religionen der Umgebung.
Bei den zu den altindonesischen Völkern gehörenden Batak Sumatras,[250] die durchaus ähnliche Glaubensvorstellungen entwickelten, wenn auch mit starken regionalen und stammesgebundenen Varianten, war ein bereits sehr komplexer Glaube mit Trinitätsvorstellungen entwickelt, der heute allerdings aufgrund des in manchen Zügen ähnlichen Christentums kaum noch existiert. Der Tod wurde als Übergang in einen Seelengeist tondi verstanden. Dieser hatte im Totenreich je nach der Position im Diesseits und den angewandten Riten beim Begräbnis, die sich über ein Jahr hinziehen konnten, eine unterschiedliche Stellung bis zur höchsten Position eines sombaon (Anbetungswürdiger), so dass man hier schon von einer Vorform des Totengerichts sprechen kann, da eine postmortale Einstufung im Jenseits erfolgt, die allerdings noch vom Diesseits aus definiert wird. Die mächtigsten Repräsentanten sind aber auch hier wiederum die auch in Bildnissen präsenten Ahnen mit ihrem Einfluss auf das Diesseits, die daher unbedingt günstig gestimmt werden müssen.
Bei den Wemale auf Seram findet sich die Vorstellung der Dema-Gottheit, ähnlich in den anderen altindonesischen Religionen, die allerdings später allesamt durch Hinduismus, Buddhismus, Islam und Christentum sowie durch die Religionen chinesischer Einwanderer überlagert wurden. Die Zahl der Götter, Geister, Dämonen und Kulturheroen ist enorm und regional vielfältig, ebenso sind es die entsprechenden Mythen, oft auch solche, die Götterstreitigkeiten zum Gegenstand haben, vor allem zwischen den Göttern der Ober- und der Unterwelt. Zu Dämonen können die Seelen der Toten werden, die nicht auf „ordentliche“ Weise starben. Die Ahnen sind insgesamt eher individuell gedacht, haben aber als Stammesahnen oder rituell erhöhte Ahnen eine hohen Status, allerdings nur für Menschen, die in einer genealogischen Abfolge stehen. Entsprechend hatte sich bei den altindonesischen Völkern auch eine Adelsschicht gebildet. Der Status wurde ins Jenseits mitgenommen, das nach einer durch einen Seelenbegleiter geführten beschwerlichen Reise erreicht wurde und als Seelendorf ein Abbild des Diesseits auch in sozialer Hinsicht war. Wurden aber die Riten im Diesseits eingestellt, verfiel auch das Seelendorf, denn die Einheit zwischen Toten und Lebenden war dadurch zerbrochen. Das Zerbrechen oder Sichauflösen eines solchen Kontinuums wiederum ist die Voraussetzung für die Existenz eines Totengerichtes als Zäsur zwischen Diesseits und Jenseits, wie es die eindringenden Hochreligionen allesamt entweder systematisiert oder institutionalisiert boten. Geistige Basis eines solchen Wandels ist nach Jensen die zunehmende Heilserwartung der Menschen, die einen Wandel von dem sich in Urzeitereignissen verwirklichenden Dema-Gott zur eingreifenden Gottheit mit sich brachte, wie sie für den Polytheismus und erst recht für den Monotheismus typisch ist. Ein dazwischengeschalteter, diese Heilserwartungen zwar garantierender, aber ethisch voraussetzungsloser Ahnenkult wäre hier störend gewesen, da die Götter ihr Eingreifen nun zunehmend mit ethischen Regeln verbanden, die darauf jene des ursprünglich lebenspraktischen und durch Ahnen kontrollierten Brauchtums der Naturvölker ablösten. An die Stelle der magisch wirkenden Ahnengeister traten dann andere, diesseitige (z. B. Priester) und jenseitige (Totengericht, Jenseits, Hölle) Kontroll- und Strafmechanismen.[251] Max Weber notierte dazu:[252]
„Wo der Geisterglaube zum Götterglauben rationalisiert wird, also nicht mehr die Geister magisch gezwungen, sondern Götter kultisch verehrt und gebeten sein wollen, schlägt die magische Ethik des Geisterglaubens in die Vorstellung um: dass denjenigen, welcher die gottgewollten Normen verletzt, das ethische Missfallen des Gottes trifft, welcher jene Ordnung unter seinen speziellen Schutz gestellt hat.“
– Max Weber: Religionssoziologie
Weiter in Teil 6
Andy- Admin
- Anzahl der Beiträge : 36197
Anmeldedatum : 03.04.11
Teil 6
Afrika
Ahnenfigur der Hemba, Demokratische Republik Kongo. Der in Afrika vorherrschende archaische Ahnenkult verhinderte weitgehend die Entstehung von ausgeprägten Totengerichtskonzepten außerhalb der Hochreligionen. Unter den Hemba wurden solche geschnitzten Holzfiguren männlicher Ahnen verehrt und repräsentierten die Verbindung zu Landeigentum und Clanabstammung. Sie stellen vor allem ideale körperliche und moralische Eigenschaften dar, weniger individuelle, obwohl sie bestimmte Ahnen abbilden sollen.
Von Interesse sind hier vor allem die alten Religionen des subsaharischen Bereiches und des Sahel bzw. der sogenannten Sudanzone, weniger der meist islamische Bereich Nordafrikas oder des alten christlichen Bereiches in Äthiopien, außer was die Synkretismen angeht, die sich bis weit nach Norden in der Sahara etwa bei den Tuareg und anderen teils randständigen Ethnien vor allem in der Übergangszone und in den Regionen alter afrikanischer Königreiche finden (s. Geschichte Nordafrikas).
Grundstrukturen afrikanischer Religionen:[253] Im Allgemeinen glaubte man, der Tod sei quasi durch ein Versehen entstanden, und die Toten lebten unter der Erde in einer von einem oder mehreren Totengöttern beherrschten Totenreich, das dem Diesseits aber sehr ähnlich sei (etwa im Südwest-Bantu-Gebiet;[254] doch fehlt diese Vorstellung z. B. auf Madagaskar[255]). Die Toten seien aber auch im Diesseits durch magische Kräfte präsent und müssten bei Laune gehalten werden, und vor allem in Ostafrika glaubte man, die Menschen insgesamt lebten unter der Gewalt von Göttern, Ahnen und Geistern, die die maßgebenden übernatürlichen Phänomene darstellten und entsprechend beeinflusst werden könnten, so dass Afrika auch der Kontinent der Magie genannt worden ist.[256] Besessenheitskulte wie etwa der zentralsudanesische isoki-Kult oder die holey-Kulte der Dogon sind verbreitet. Die afrikanischen Religionen, auch die großen und komplexeren wie die der Yoruba mit ihrem 401-köpfigen Pantheon, sind entsprechend beherrscht von Ahnenkult,[257] der aber auch wie bei den Massai weitgehend fehlen kann. Jenseits- und Totenfurcht sind verbreitet, hie und da mit Reinkarnation oder vergleichbaren Vorstellungen, bei den Bantu in der Sambesi-Angola-Provinz und bei den Dogon und den Bambara am oberen Niger mit dem Konzept einer Mehrfachseele, desgleichen und besonders komplex in der Obervolta-Provinz.[258] Ebenso finden sich gelegentliche Spuren eines alten Totemismus, meist als Sippen- bzw. Klantotemismus wie besonders ausgeprägt bei den Massai. In der Obervolta-Provinz tritt Totemismus in Form eines Nagualismus auf.[259] Gelegentlich glaubt man wie in Nordostafrika, die Toten kämen als Seelenvögel wieder.[260] Statt von Ahnenkult, den es aber zum Beispiel bei Khoikhoi und San sowie den Mbuti-Pygmäen nicht gibt,[261] spricht man in Afrika aber besser von der Verehrung der „Lebendtoten“, denn die Toten sind noch mehrere Generationen gegenwärtig, ihnen wird auf dem Hausaltar geopfert, und alles, was in der Sippe geschieht, wird ihnen berichtet. Das Verhältnis zu ihnen und zu jenseitigen Sphären ist harmonisch und lebensbejahend, und die Hauptfrage der ethnischen afrikanischen Religionen ist nicht: Welches Schicksal erwartet uns im Jenseits? sondern vielmehr: Welchen Einfluss haben die Toten auf uns Lebende, und welche Taten, die wir unseren Mitmenschen zufügen, können diese später als Tote an uns rächen?[262] In den mitunter außerhalb der Städte bis in unsere Tage neolithisch geprägten Völkern kommen dazu noch Fruchtbarkeitskulte. Die Sterne werden gelegentlich wie bei den Ethnien des südlichen Limpopo-Gebietes oder Nordostafrikas mit den Toten in Verbindung gebracht.[263]
Ein Totengericht gibt es nur sporadisch und in Vor- bzw. Frühformen, etwa im Zentralsudan, wo der Erdgott dabei eine wesentliche Rolle spielt. Der Wiedergeburtsglaube ist verbreitet. Die Vorstellung von einem Totengericht ist den meisten Bevölkerungsgruppen aber fremd. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Subsistenzstrategie, denn Jäger und Sammler und frühe sogenannte Altpflanzer hängen eher dem Ahnenkult an; erst entwickelte Feldbauern zeigen im Allgemeinen Tendenzen, mit dem Konzept der Unterwelt in Kombination mit zyklischen Fruchtbarkeitsvorstellungen nach und nach und parallel zu Götterpantheons auch Konzepte eines Totengerichtes zu entwickeln.[264] Allerdings ist die Fläche der für eine ertragreiche Landwirtschaft geeigneten Humusböden in Afrika relativ klein, und der entscheidende Wirtschaftsfaktor war dort stets die menschliche Arbeitskraft.[265] Die Kambara und Duka jedoch glauben, dass böse Taten bestraft und gute belohnt werden. Vergeltungsmaßnahmen im Jenseits kennen auch andere lokale Bevölkerungsgruppen des Zentralsudan. Die Djukun nennen das Totenreich „Haus der Wahrheit“, in dem Ana, die Erdgottheit, als oberster Richter herrscht. Ebenso glauben die Duru, dass der in der Erde wohnende Gott die Toten richtet. Im Übrigen richtet sich die Position der Toten im Jenseits nach der Position im Diesseits.[266] Inwieweit in solchen Fällen islamische Einflüsse eine Rolle gespielt haben oder ob es sich dabei um autochthone Vorstellungen handelt, wie man sie im pazifischen Raum so ähnlich findet, ist strittig. In Liberia und Sierra Leone wird dies jedoch vermutet, denn dort werden nach dem Glauben der Vai die Geister der Verstorbenen während einer 40-tägigen auch über eine Totenfluss führenden Reise von den Toten, denen sie im Laufe ihres Lebens Unrecht getan haben, gepeinigt und streng befragt.[267] Die zentralafrikanischen Wute haben moralisch-dualistische Konzepte entwickelt, denn sie teilen die Totenseelen wie auch zahlreiche Naturgeister in gut und böse ein, ähnlich die benachbarten Mbum. Die Guten gingen zu Gott, die Bösen ins Feuer.[268] Bei den zentralafrikanischen Bongo lenkt loma als Macht aus dem Jenseits das Schicksal und bewertet es nach moralischen Kriterien, greift sogar direkt in das Leben ein. Sozialer und moralischer Rang bestimmen dann das Verhältnis zu loma im Jenseits.[269]
Die im Verlauf der Geschichte Nordafrikas vor allem im Falle des Islam bedeutsame Rolle der überwölbenden Hochreligionen ist wie in anderen Weltreligionen stets mit zu berücksichtigen. So finden sich etwa in der fandano genannten Religion der Hadiya in Nordostafrika islamische Eschatologievorstellungen, Fastenbräuche usw., ähnlich bei den Dar Fur. Die Daza und Tubu praktizieren noch einen Ahnenkult und präislamische Agrarriten etc. Totenfurcht und der Glaube an Naturgeister sind noch bei den Tuareg lebendig geblieben, desgleichen in Nordafrika insgesamt Reste des alten Berberglaubens.[270] Oft wird der Islam aber wie etwa in der Oberniger-Provinz vor allem als Jenseitsreligion betrachtet, oder es wurden wie früher bei den Songhai nur äußerliche Bräuche übernommen.[271] Häufig praktizieren Afrikaner neben dem Islam oder Christentum zudem auch die alte Volksreligion, die allerdings nach und nach zu schwinden beginnt, da in Islam und Christentum offenbar die im traditionellen Volksglauben ausgeprägte Angst vor jenseitigen Mächten und ihrer Willkür bei einem sehr fernen, nicht eingreifenden und daher auch nicht verehrten otiosen Hoch- und Schöpfergott durch das mitfühlende Eingreifen des abrahamitischen Schöpfergottes und erst recht von Jesus Christus besänftigt wird, so dass eine Heilsgewissheit entsteht, die ethische Maßstäbe zur Grundlage hat und durch ein nicht mehr willkürliches Totengericht auch garantiert wird, solange man sich an diese Maßstäbe hält. Dabei werden überdies die in Afrika besonders verhängnisvollen ethnischen Grenzen in der Gleichheit aller Gläubigen aufgehoben, allerdings sind auch neue zwischen Islam und Christentum bzw. sogenannten Naturreligionen entstanden.[272]
Ozeanien und Australien
Orientierungskarte Australien und Ozeanien
Für die Völker Ozeaniens ist die Existenz der Toten eine Aufgabe für das Gedächtnis der Lebenden.[273] Doch gibt es stets Momente, wo die Toten diese gleichsam parallele Existenz zu den Lebenden verlassen, um in die Unterwelt hinabzusteigen, die Orte des Vergessens.[274] Ein ausgeprägtes Totengericht findet sich in Ozeanien aber nicht, ebenso wenig finden sich ausgeprägte Weltuntergangsszenarien. Grundlage vor allem in Melanesien ist ein Weltbild mit einem starken Ahnenkult, ebenso in Polynesien und Mikronesien, von dessen Religion aufgrund der radikalen Eroberungsgeschichte allerdings kaum noch etwas übrig ist. Am bekanntesten sind hier die megalithischen, moai genannten Steinskulpturen der polynesischen Osterinsel, die vermutlich mythische Ahnen darstellen und als Mittler zwischen Göttern und Menschen im Rahmen der einzelnen Sippen fungierten, deren Kraft sie repräsentierten.[275] Verwandtschaft und Abstammung sind auch in Melanesien Basis der Kultur und Träger des religiösen Lebens. Das soziale System wird gelegentlich und vor allem in Polynesien von machtpolitisch orientierten diesseitigen Adelssystemen (vor allem auf Hawaii, wo es elf Adelsränge gab) und Häuptlingssystemen mit Mana und Tabu (vor allem in Melanesien) überlagert,[276] denen wie zum Beispiel auf Hawaii, Tahiti oder Tonga auch eine paradiesische Oberwelt für den Adel und eine karge Unterwelt für das gemeine Volk entspricht. Das somit rein klassenspezifische System besitzt aber im mehr oder weniger ausgeprägten Ahnenkult noch ein jenseitiges Korrektiv, das allerdings in einigen Fürstenherrschaften ebenfalls nur noch für die Adelsschicht gilt. Totemismus ist vor allem bei den Papuas Neuguineas verbreitet. Insbesondere in Melanesien waren die Verwandtschaftsgruppen und Stammesverbände Träger des religiösen Lebens.
Allerdings finden sich für Altpflanzer typische Früh- bzw. Vorformen eines Totengerichtes mit Seelenvorstellungen vor allem dort, wo wie insbesondere in Polynesien oft vielfältige, meist mit Naturerscheinungen assoziierte Götterpantheons existieren und damit kosmogonisch auch eine meist als Kopie des Diesseits vorgestellte Unterwelt. Die Betonung liegt hier aber meist noch auf der als beschwerlich geschilderten schamanischen Seelenreise, deren Ziel die Vereinigung mit den früher verstorbenen Stammes- und Clanangehörigen ist, an deren Ende aber eine Art Eintrittszeremoniell mit einer Prüfung durch die Unterweltsgottheit stehen kann und damit eine Vorform des Totengerichts. Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang bei vielen Völkern die Nachweise, dass der Tote zu Lebzeiten gewisse Zeremonien durchlaufen hat, was etwa durch das Vorhandensein von Tätowierungen nachzuweisen ist. Ursprünglich scheint das Totenreich identisch mit dem Reich der Götter gewesen zu sein, hat sich dann aber offenbar mit der Vorstellung der Dema-Gottheit, die selbst weder gut noch böse ist, unter die Erde verlagert, da dort der Ursprung des Lebens und der Fruchtbarkeit imaginiert wurde, die durch den Tod der Dema-Gottheit erst geschaffen worden war, so dass eine enge Verbindung zwischen Sterben und Fruchtbarkeit entstand, die für alle Pflanzervölker typisch ist, wie sie Adolf Ellegard Jensen insbesondere am melanesischen Volk der Marind-anim beobachtete.[277]
Bei den Maori gibt es mit Hine-Ahua-Rangi eine Unterweltsgöttin. Ihr Vater Tāne tritt als Organisator der Welt auf und als Repräsentant des Guten. Sein Gegenspieler Gott Tangaroa ist hingegen Verursacher des Bösen, so dass man hier bereits einen kosmogonisch fundierten, sekundär ethischen Dualismus vor sich hat.[278] Als Todesgöttin fungiert aber auch Hine-nui-te-po (Große Frau der Nacht), als Hine-a-tauira Gattin und Tochter zugleich des Tane, die, als sie von ihrer inzestuösen Entstehung erfuhr, in die Unterwelt floh und sich dort einen neuen Namen gab. Dort wirkt sie allerdings nicht als Totenrichterin, vielmehr verkörpert sie die endgültige Aufhebung der männlichen Kraft, indem sie die Männer in den Tod zieht, denn Rang, gesellschaftliche Stellung und positive Daseinsmächte im Rahmen des tapu-Systems wurden wesensmäßig als männlich betrachtet. Frauen waren hingegen unrein und Quelle negativer Einflüsse auf diese Kräfte. Ein weiterer Mythos bestätigt diese ganz andersartige und vor allem an altpflanzerlichen Fruchtbarkeitsvorstellungen orientierte Konzeption der Unterweltsgottheit. In dieser Erzählung wird der polynesische Trickster-Halbgott und Kulturheros Maui bei dem Versuch getötet, die Todesgöttin zu vergewaltigen und so für alle Lebewesen Unsterblichkeit zu erringen.[279]
Wie anderswo werden auch bei den Maori mana und tapu an den Einzelnen weitervererbt, ebenso wie das heilige Stammesland. Später bildeten sich dann Maori-Kirchen (z. B. Ringatu und Ratana), die die alte Religion mit der christlichen zu verschmelzen suchten, einschließlich der christlichen Jenseitsvorstellungen.
Die australischen Aborigines[280] wiederum haben diesen Kult der mythischen Ahnen, der kein Ahnenkult im engeren Sinne ist,[281] sondern die Verehrung mythischer Gestalten, also Fantasiewesen, die in verschiedenen Gestalten imaginiert werden, zu einem hochkomplexen mythisch-philosophischen System, der Traumzeit, weiterentwickelt, in der ein Totengericht schon systembedingt ebenfalls keinen Platz findet, denn alle moralischen Gesetze und Sitten in der Welt leiten sich aus der Verbindung zwischen sichtbarem und spirituellem Universum ab. Lebende und Tote sind daher nicht zu trennen, und die Ahnen haben ihren Sitz in Naturerscheinungen und Totems.[282] Die Vorstellungen der Australier über das Leben der Seele nach dem Tode sind allerdings relativ unklar und uneinheitlich. Manche Stämme glauben, dass die Seelen über die Erde wandern, andere, dass sie nach Norden oder in den Himmel reisen oder dass sie sich kurz nach dem Tod in Nichts auflösen. Entsprechend fehlt die Vorstellung von einem Jenseits, und eine große Rolle spielen Seelenvorstellungen nicht.[283] In manchen Mythen wird davon berichtet, die Menschen seien früher wie der Mond ständig wiedergeboren worden, und sie hätten schließlich den Wunsch geäußert, tot bleiben zu dürfen.[284]
Amerika
Amerika[285] gilt, was die ethnischen Religionen angeht, als Kontinent des Schamanismus. Wie andernorts sind die Jenseitsvorstellungen auch hier vor allem von der jeweiligen Subsistenzstrategie abhängig, das heißt Jäger und Sammler, nomadisierender Viehhirte oder Bauer. Auch hier sind sowohl in Nord- wie in Südamerika schamanische Vorstellungen und Fruchtbarkeitsmythen vorherrschend, die per se ein Totengericht im Allgemeinen ausschließen oder doch nur in Ansätzen zeigen. Totemismus ist meist als Sippen- oder Stammeskult verbreitet, der Geisterglaube ebenso. Ein Ahnenkult fehlt hingegen gelegentlich, ist aber bei den ackerbautreibenden Stämmen wie den Pueblos vorhanden gewesen (Katchina). Insgesamt blieben vor allem in vielen Teilen Lateinamerikas noch alte Kulturmuster erhalten, und entsprechend sind im Ausstrahlungsbereich der alten mesoamerikanischen und südamerikanischen Hochkulturen oft auch noch Reste dieser Religionen lebendig, wobei hier vor allem eine auffällige Vermischung mit dem Katholizismus zu beobachten ist, zum Beispiel mit Christus als Sonnengott und Maria als Mondgöttin. Die Sonne erhebt sich dabei aus den „heiligen“ Bergen und „stirbt“ im Westen, im Land der Toten.[286]
Der Jenseitsglaube orientierte sich am Diesseits; in einigen Gebieten gab es Wiedergeburtsvorstellungen. Man lebte als Toter in der Art fort, wie man im Diesseits gelebt hatte.[287] Soweit vorhanden, sind neuere Vorstellungen von einem Totengericht vor allem in Iberoamerika oft wohl auch auf die Überprägung durch das meist katholische Christentum zurückzuführen, das vor allem in Lateinamerika gelegentlich lokale, nicht eigentlich mehr als christlich zu bezeichnende Mischformen hervorgebracht hat, denn selbst in den altamerikanischen Hochkulturen gab es solche Vorstellungen zwar, doch waren sie allenfalls in Mittelamerika deutlich vorhanden (siehe oben).
Nordamerika[288]
In Nordamerika herrschte praktisch ausschließlich der von einem starken animistischen Geisterglauben begleitete Ahnenglaube vor, der aber schon wegen der nomadisierenden Lebensweise selten einen regelrechten Ahnenkult hervorbrachte. Die Inuit der Arktis etwa glaubten, die Toten hätten ihren Wohnsitz im Himmel; aber auch unter der Erde traf man mit den Ahnen wieder zusammen. Ähnliche Vorstellungen gab es in der Subarktis.[289] Bei den nordatlantischen Algonkin gab es statusabhängig Mumifizierungen und Zweitbestattungen, wenn man die Toten auf Wanderungen mitnahm.[290] Bei den Natchez und anderen nördlichen und Präriestämmen existierte die Vorstellung der Knochenseele, die erst nach der Reinigung der Knochen ins Jenseits gelangt. Die Comanchen glaubten an eine Art Paradies. An der pazifischen Nordwestküste und der Nordostküste herrschte der Glauben an einen Hochgott, den Großen Geist, der bei den subarktischen Algonkin und Naskapi Manitu hieß und bereits ethische Anforderungen stellte; teilweise bestanden dort Vorstellungen von einer Mehrfachseele. Einige Stämme des Großen Basins hatten die Vorstellung von einem Seelendualismus entwickelt. Die Furcht vor Totengeistern war vor allem bei den kalifornischen Indianern verbreitet, die auch an einen speziellen Totengott Kuksu glaubten, dem umfangreiche Zeremonien gewidmet waren.[291] Die Indianer des Südwestens glaubten an ein Jenseits weit im Westen nach Sonnenuntergang oder im Himmel. Eine Seele kam erst dann dorthin, wenn ihr gewaltsamer Tod gerächt war. Häufig war vor allem in den Great Plains und im östlichen Waldland die dualistische Zweiteilung einer sich bekämpfenden Götterwelt in Mächte der Höhe und Mächte der Tiefe. Insgesamt deuten die Bestattungen in Nordamerika auf einen weit verbreiteten Glauben an ein Leben nach dem Tode hin. Im Osten Nordamerikas streute man zudem roten Ocker (meist Hämatit) über die Toten oder das ganze Grab. Grabbeigaben sind häufig. Auch die enormen, mit reichen Beigaben bestückten Sippengrabanlagen der sogenannten Mound Builders der Adena- und Hopewell-Kultur, die teils einen den ägyptischen Pyramiden vergleichbaren Aufwand betrieben (es gab über 100.000 von ihnen, für die Mounds von Poverty Points etwa wurden 405.000 m3 Erde bewegt, der größte erforderte etwa 3 Mio. Arbeitsstunden[292]), deutet in diese Richtung.[293]
All dies sind Symptome eines schamanisch bestimmten Ahnenkultes, selbst dort, wo Ackerbau betrieben wurde, teilweise mit einer städtischen Kultur wie etwa am mittleren Mississippi und unteren Ohio (z. B. Cahokia mit 20.000 Einwohnern).[294] Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die ab 1860 vor allem in den Great Plains entstandene Geistertanzbewegung, die den Glauben an die Wiederauferstehung aller Indianer sowie die Vertreibung aller Weißen propagierte und messianische Züge trug.[295] Totengerichtsvorstellungen existieren jedoch auch in Vorformen in keiner der nordamerikanischen Ethnien.
Mittelamerika, nördliches Südamerika und Karibik[296]
Dort finden sich neben dem Katholizismus vor allem in Nordmexiko Synkretismusformen mit den alten Eingeborenenreligionen bei einem dann ausgeprägten Schamanismus, aber auch Restbestände der alten hochkulturellen Religionen mit Göttern und Geistern (siehe oben), jedoch auch hier ohne wesentliche indigene Vorstellungen eines Totengerichts außer den christlichen, es sei denn durch Wiederaufnahme alter mesoamerikanischer Religionsvorstellungen, wie sie etwa in der mexikanischen Provinz Chiapas, einem alten Maya-Gebiet, sowie in Guatemala und auf der Halbinsel Yucatan zu beobachten sind.
Südamerika[297]
Hier zeigt sich aufgrund der großen klimatischen und geographischen Unterschiede eine größere Variationsbreite bei den Religionen, die aber allesamt, wo nicht synkretistisch oder vom Christentum geprägt, ebenfalls das alte schamanische Bild aufweisen, wenn auch ein besonders vielfältiges. Doch gibt es im gesamten Südamerika keine Götter oder Kulturheroen, die allen Indianern gemeinsam sind, aber die Mythen sind trotz großer Variationsbreite dennoch thematisch weiträumig miteinander verflochten. Der Glaube an eine wie immer geartete Weiterexistenz nach dem Tod ist jedoch stark verbreitet. Wie bereits in Mittelamerika sind auch hier außerhalb des Christentums keinerlei Formen eines Totengerichtes zu beobachten, obwohl Unterweltsvorstellung als Aufenthaltsort der Toten existieren, wobei es wie bei den Xavante Zentralbrasiliens sogar Ordnungsprinzipien gibt, denn in deren Unterwelt werden etwa die Toten streng nach Blutsverwandtschaft voneinander geschieden, damit weltliche Konflikte sich nicht im Totenreich fortsetzen können. Auch Prüfungen müssen während der Reise ins Jenseits durchlaufen werden, das generell als Unterwelt imaginiert wird, die allerdings ganz unterschiedlich, also sowohl fröhlich wie auch fade und elend sein kann, aber im Allgemeinen ähnlich wie der Tod nicht gefürchtet und als Teil der Existenz verstanden wird. Übergangsriten etwa in Amazonien sind häufig, desgleichen Zweitbestattungen und Kommunion mit den Toten. Die Jenseitsvorstellungen sind insgesamt aber häufig vom Ahnenkult bestimmt, auch dort, wo trotz des hier besonders extremen Völkermordes durch die Conquistadoren alte andine Religionsformen der Inkas und ihrer Vorgänger überlebt hatten, gelegentlich mit dem Glauben an einen otiosen Hochgott.
Neue Religionen
Unter dieser Rubrik[298] werden meist in den letzten zwei Jahrhunderten entstandene synkretistische Religionsformen zusammengefasst, die so stark von der dominierenden Religion abweichen, dass sie nicht mehr als Sekten angesehen werden können. Sie sind meist erst sehr spät und oft vor dem Hintergrund kolonialer und sozialer Einflüsse und Umbrüche und/oder ethnischer Differenzen entstanden. Meist sind zwei Religionen beteiligt, mitunter aber auch mehr. Die Unterscheidung: Sekten – ethnische Religionen – neue Religionen ist allerdings problematisch, wie etwa das Beispiel der Mormonen zeigt, bei denen jüdische und christliche Elemente mit den Schriften des prophetischen Stifters Joseph Smith ineinander übergehen, mitsamt einem Totengericht, das auf dem Prinzip der menschlichen Willensfreiheit beruht.[299]
Afrokaribische und südamerikanische Religionen: Häufig mischen sich in ihnen wie etwa im Voodoo[300] archaische Geistervorstellungen mit christlichen Inhalten, wobei etwa im Voodoo erstere dominieren. Magische Inhalte und Geister sind entsprechend verbreitet, Besessenheitssymptomatiken und Trance sind häufig. Weitere Beispiele sind Maria Lionza in Venezuela, Umbanda und Condomblé in Brasilien, Rastafari in Jamaika. Da sie meist in der Unterschicht verbreitet sind und auf soziale Ungerechtigkeiten reagieren, sind ihre Inhalte entsprechend ausgerichtet als Bewältigungsformen des als bedrückend empfundenen Diesseits und als schichtspezifisches Bindemittel, das durch Zeremonien stabilisierend wirkt. Über ihre Jenseitsvorstellungen ist relativ wenig bekannt.
Asien: Baha'i in Palästina weist Bezüge zum Islam auf, die Vereinigungskirche bzw. Moon-Sekte verbindet christlich-messianische Gehalte mit daoistischen. Aufgrund der fehlenden Kodifizierungen des Shintoismus gibt es vor allem in Japan zahlreiche neue Religionen wie Tenrikyo, Konkoyo oder Risshokosaikei. Ähnliches gilt für Korea. Auch im ebenfalls sehr heterogenen Hinduismus gibt es derartige, teilweise auch in Europa existente Neureligionen wie Hare Krishna oder Bhagwan, teilweise mit psychoreligiöser Ausrichtung und durch Gurus gesteuert. Die Totengerichtsvorstellungen sind in all diesen Religionen entweder weitgehend von der Grundreligion bestimmt oder vor allem im Rahmen von Reinkarnationskonzepten nur schwach oder überhaupt nicht ausgeprägt.
Afrika: Die afrikanischen Gebets- und Heilungskirchen wiederum verbinden häufig regionale Traditionen mit christlichen. Ähnliches gilt für die drei großen unabhängigen afrikanischen Großkirchen (AUK), indes die christlich beeinflussten Freiheitsbewegungen in Schwarzafrika eine religiöse europäische Dominanz ablehnen und vor allem als Heilungskirchen imponieren sowie stark politisch aktiv sind mit Führern wie Desmond Tutu. Über Totengerichtsvorstellungen ist wenig bekannt, auch nicht inwieweit der totengerichtslose traditionelle afrikanische Ahnenkult im Einzelfalle christliche Jenseitsvorstellungen überlagert.
Entwicklungen in der Moderne
Hermeneutik
Von einem Totengericht im eigentlichen Sinne und außerhalb der klassischen Religionen kann man hier zwar nicht eigentlich mehr sprechen, wohl aber von entsprechenden ideologisch bzw. religiös gefärbten Vorgängen und Residuen im Zusammenhang mit eschatologischen und grundlegenden psychischen Vorgängen, was die individuelle und kollektive Bewältigung der Todesproblematik angeht. Eine rein historisierende Darstellung des ja zentralen Konzeptes des Totengerichtes wäre damit unvollständig ohne die Betrachtung der gedanklichen Strukturen, Begrifflichkeiten und Motivationen, mit denen es neuzeitlich und bis in unsere Tage verwoben ist oder die es beeinflusst, wenn nicht gar mit hervorgebracht hat. Zahlreiche neuzeitliche Denker haben das so ähnlich gesehen. Oswald Spengler etwa schreibt:[301]
„An den Tod, den jeder zum Licht geborene Mensch erleiden muss, knüpfen sich die Ideen von Schuld und Strafe, vom Dasein als einer Buße, von einem neuen Leben jenseits der belichteten Welt und von einer Erlösung, die aller Todesangst ein Ende macht. Erst aus der Erkenntnis des Todes stammt das, was wir Menschen im Unterschiede von den Tieren als Weltanschauung besitzen.“
– Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes
Dennoch ist es heikel, derartige historische Parallelen zu ziehen. Bertrand Russell hat diese Deutungsproblematik auf den Punkt gebracht, als er im Zusammenhang mit den messianischen Zügen des Kommunismus etwas spöttisch meinte, Marx habe wohl das jüdische messianistische Geschichtsverständnis für den Sozialismus so ähnlich angepasst, wie das Augustinus für das Christentum getan habe. Der dialektische Materialismus, der nach Marx der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegt entspräche dabei dem biblischen Gott, das Proletariat entspräche den Auserwählten, die Kommunistische Partei der Kirche, die Revolution der Wiederkunft Christi und das kommunistische Reich dem Tausendjährigen Reich. Eine direkte Übertragung, in diesem Falle messianischer Ideen auf ideologische Gehalte der Moderne, ist somit schon wegen der eindeutigen Unterschiede beider Systeme hochproblematisch und eher semantischer Natur, und sie ist nur insofern zulässig, als sie sich auf aktuelle Ereignisse mit ähnlichen sozialen Dynamiken bezieht, die jeweils eine vergleichbare mythische Basis haben, welche in starken Bildern bestimmte elementare menschliche Erfahrungen und Hoffnungen ausdrücken.[302] Entsprechend ist auch der Gedanke des Totengerichts in neuzeitlichem Kontext zu werten und zu interpretieren als phänomenologisches Bezugssystem im Rahmen eines hermeneutischen Zirkels, in etwa wie die damit einhergehende Vorstellung der Hölle von modernen theologischen Interpreten so gedeutet wird: „Höllen sind mythologische Bilder der existentiellen menschlichen Angst vor dem drohenden Absturz ins Nichts, es sind negativ-messianische Mythen.“[303] Sie sind wie das Totengericht Teil der Welt- und Sozialinterpretation, und diese verändert sich, weil sich unsere Lebenswelt verändert.[304]
Vorbemerkungen
Sakralisierte Darstellung Mao Zedongs
Die Vorstellungen vom Jenseits, von Himmel, Hölle und einem Totengericht sowie die damit verbundene Furcht und Hoffnung haben nach Ende des Mittelalters und vor allem nach der Aufklärung nicht aufgehört, die Menschen zu beschäftigen. Es ist daher nur zwangsläufig, auch die in den folgenden Perioden aktuellen Konzepte in diesem Zusammenhang konkret und nicht nur pauschal oder spekulativ theoretisch, sondern in den Indizien wertungsfrei zu sichten, selbst wenn die Begrifflichkeit „Totengericht“ nicht unbedingt ausdrücklich im mittelalterlichen oder antiken Sinne expressis verbis auftaucht. Aber die Grundidee ist nach wie vor auch und gerade außerhalb der Religionen vorhanden. Sie beschäftigt die Menschen, nutzt Gesellschaften und Staaten nicht nur im konservativen, vielleicht sogar fundamentalistischen Sinne, sondern auch in moderner, säkularer und ideologisch transformierter Gewandung.[305]
Hier findet sich nun in erster Linie das von Theodor Adorno in „Studien zum autoritären Charakter“ dingfest gemachte Phänomen der Neutralisierung und Zersplitterung der Religion:[306]
„Die Neutralisierung der Religion geht Hand in Hand mit ihrer Zersplitterung. So wie die Betonung ihres praktischen Nutzens schließlich die religiöse Wahrheit von der religiösen Autorität trennt, so ist auch der spezifische Inhalt von Religion beständig einem Prozess der Auswahl und Anpassung unterworfen.“
– Theodor Adorno: Studien zum autoritären Charakter
Ein anderer Mechanismus in diesem Zusammenhang ist allerdings uralt: die Sakralisierung der Macht, wie sie sich vor allem ikonographisch noch an den Beispielen neuzeitlicher totalitärer Herrscher deutlich ablesen lässt.[307] Und manche von ihnen wie etwa in Nordkorea Kim Il Sung wurden de facto für unsterblich erklärt, andere erhielten Mausoleen als Totentempel, wo sie wie Lenin, Stalin, Mao oder Hồ Chí Minh einbalsamiert zur Schau gestellt wurden und zumindest zeitweise (Stalin z. B.) die ehrfürchtige Bewunderung, wenn nicht gar Anbetung durch das Volk erfahren. Gustave Le Bon, einer der Mitbegründer der Massenpsychologie, hat das Phänomen wie folgt beschrieben:[308]
„Nicht nur dann ist man religiös, wenn man eine Gottheit anbetet, sondern auch dann, wenn man alle Kräfte seines Geistes, alle Unterwerfung seines Willens, alles Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens weiht, das zum Ziele oder Führer der Gedanken und Handlungen wird… Heutzutage besitzen die großen Seeleneroberer keine großen Altäre mehr, wohl aber Statuen und Bilder, und der Kultus, den man mit ihnen treibt, ist von früheren nicht erheblich verschieden… Für die Massen muss man entweder ein Gott sein oder man ist nichts.“
– Gustave Le Bon: Psychologie der Massen
Denn Unterwerfung und Furcht sind nun einmal zentrale Aspekte jeder Macht, wie etwa Bertrand Russell in „Formen der Macht“ feststellt und auch die Gründe dafür nennt:[309]
„In der Unterwerfung unter den göttlichen Willen liegt ein Sinn äußerster Sicherheit… Alle Bereitschaft zur Unterwerfung ist in Furcht verwurzelt, ob nun der Führer, dem wir uns unterwerfen, menschlich oder göttlich ist. (S. 19)
Für den Pragmatismus ist ein Glaube ‚wahr‘, wenn die Folgen angenehm sind. Glaube an das höhere Verdienst eines Diktators hat angenehmere Folgen als Unglaube, wenn man unter seiner Regierung lebt. Überall, wo wirksame religiöse Verfolgung herrscht, ist der offizielle Glaube im pragmatischen Sinn wahr. Die pragmatische Philosophie verleiht daher den Machthabern eine metaphysische Allgewalt, die eine tägliche Philosophie ihnen verweigern würde. (S. 258 f.)“
– Bertrand Russell: Formen der Macht
Säkularisierung, Ideologisierung, Instrumentalisierung
Im Verlauf einer allgemeinen nachmittelalterlichen Säkularisierung und im Gefolge von Reformation und Humanismus hatten bereits Rationalismus, Aufklärung, Positivismus, Empirismus, Utilitarismus und Idealismus zu einer neuen Sichtweise der Religionen und der damit einhergehenden Phänomene geführt. Vor allem im 19. Jahrhundert bildeten sich dann eigene, scheinbar nur rationale Gedankenkonstruktionen als Ideologien oder ideologieähnliche Substrate heraus,[310] in denen wie in Nationalökonomie und Liberalismus vor allem gesellschaftliche und ökonomische Momente eine entscheidende Rolle spielten, wobei jenseitige Elemente nach und nach entweder säkular instrumentalisiert wurden (das war, wenn auch religiös, schon im Mittelalter etwa mit Investiturstreit und Kreuzzügen und erst recht in der Renaissance z. B. bei den „ersten Ideologen“ Savonarola und Machiavelli[311] oder den Medici-Päpsten mit machtpolitisch durchaus ähnlicher Ausrichtung der Fall gewesen) oder aber der völligen, gleichsam materialistischen bzw. technokratischen Missachtung anheimfielen.[312] Bezeichnend für Ideologien wie Religionen ist zudem, dass sie beide eine erhebliche Bindewirkung entfalten können, die in Extremfällen den Selbsterhaltungstrieb überlagern.[313] (Die dabei wirksamen psychologischen Mechanismen beschreibt unter anderem Peter Conzen.[314])
Gemeinsam ist all diesen Entwicklungen aber das seit längerem diskutierte Phänomen des Verlustes der Transzendenz oder, wie Richard Schaeffler in Mircea Eliades „Geschichte der religiösen Ideen“ feststellte: „Die Religionsgeschichte mündet in die völlige Verschleierung des ‚Heiligen‘, genauer, seine Identifikation mit dem ‚Profanen‘.“[315] Damit wurden aber auch religiöse Phänomene wie Totengericht, Auferstehung, Erlösung, Letztes Gericht usw. neu und meist sehr kritisch bzw. absolut negativ bewertet, selbst wenn künstlerische Bewegungen wie die Romantik oder die Präraffaeliten sie in meist altertümelnder Manier rein äußerlich überhöhten oder Faschismus und Kapitalismus sie machtpolitisch instrumentalisierten. Doch wurden solche Phänomene, sofern nicht agnostisch ignoriert oder nihilistisch geleugnet, vor allem in Philosophie und Wissenschaft nun zunehmend vor allem unter drei Gesichtspunkten betrachtet:
entweder als rein psychische Substrate, die den tiefenpsychologischen Mechanismen wie Verdrängung, Projektion, Abwehr oder Introjektion unterliegen,
als sozial bedingte Mechanismen im Rahmen der als Klassenkampf apostrophierten gesellschaftlichen Entwicklungen, so vor allem im Marxismus-Leninismus,
als evolutionär bedingte Entwicklungsstufen, die der aufgeklärte Mensch nun hinter sich gelassen habe wie im Darwinismus und seinem garstigen Kind, dem Sozialdarwinismus.
Dennoch zeigen vor allem die großen Ideologien, meist ausgehend vom Christentum (und heute auch vom Islam), teils religiöse Züge, ohne allerdings im engeren Sinne Religionen zu sein,[316] jedoch mit einer starken Bindewirkung, Erlösergestalten, Heilsversprechungen und Erlösungsmotiven bis hin zu teils der Glaubenswelt entnommenen eschatologischen Vorstellungen, die nun aber aufgrund der häufig materialistischen Grundkonzepte zwangsläufig ins Diesseits einer näheren oder ferneren Zukunft verlegt wurden, auch dort, wo religiöse Hintergründe noch vorhanden und integriert sind, wie etwa in dem göttliche Gnadenwillen vorwegnehmenden Calvinismus/Kapitalismus vor allem angelsächsischer Prägung, wie ihn bereits die puritanischen Pilgerväter nach Amerika brachten.
Typisch für die ideologischen Konzepte der Moderne, vor allem wenn sie „konstituiert durch das eiserne Band des Terrors“ in totalitärer Gestalt mit einem „Anspruch auf totale Welterklärung“ und unter dem „Gesetz des Tötens“ sowie mit der „Furcht als Prinzip öffentlich-politischen Handelns“ (Hannah Arendt[317]) auftreten, ist hier abermals die Verlagerung des Totengerichts ins Diesseits, mit diesseitigen Personen und Organisationen (z. B. die SS, die sich ja als schwarzen Orden im Gefolge der Jesuiten betrachtete[318]) als Richtern, wobei Hitler vom damals führenden Juristen Carl Schmitt zum obersten Richter verabsolutiert wurde: „Der wahre Führer ist immer auch Richter.“[319] Dessen auch nur vermuteter Wille galt als absolut und quasigöttlich[320] und orientierte sich an der schon von Max Weber beschriebenen charismatischen Funktion als einer Verbindung zwischen Held, Krieger, Staatsmann und Hohepriester mit quasi religiöser Symbolik,[321] so dass man nicht zu Unrecht von einem Führerkult spricht. Und das hieß nach Schmitt hier auch: oberster Richter in quasigöttlicher Stellung ohne jede Kontrolle, der, wie die weitere Entwicklung zeigte, dieses Recht auch so ausübte, ganz ähnlich wie „Väterchen Stalin“ oder der „Große Vorsitzende“ Mao, auch sie absolut charismatische Gestalten. Auch für den sowjetischen KGB und seine Vorläufer und Nachfolger lässt sich eine Funktion als säkularer Totenrichter bzw. dessen Erfüllungsgehilfen (in den alten und klassischen Religionen waren das meist Dämonen) feststellen, und beide Organisationen sandten ihre Opfer nach kafkaesk undurchsichtigen Prozessen und/oder bürokratischen Prozeduren in mitunter Erziehungs- oder Schutzlager genannte Todeslager: in die KZs zwecks Endlösung (falls „rassisch“ unerwünscht) die einen (die dortigen Höllenwächter hießen nicht umsonst Totenkopfverbände), in die Gulags die anderen. Beide waren diesseitige Höllen, wie Eugen Kogon in „Der SS-Staat“ und Alexander Solschenizyn in „Der erste Kreis der Hölle“ nebst zahlreichen anderen berichteten. Und sie haben auch in späteren Zeiten durchaus Nachfolger gefunden, sei es in Kambodscha (Rote Khmer), China nicht nur während der Kulturrevolution unter der Herrschaft der Roten Garden oder sonst wo.
Auch die Theologie nach Auschwitz verzweifelt mitunter am apokalyptischen Charakter der vorwiegend in den KZs vollzogenen Schoah mit der Theodizee-Frage: Wo war Gott in Auschwitz?[322]
Weiter in Teil 7
Ahnenfigur der Hemba, Demokratische Republik Kongo. Der in Afrika vorherrschende archaische Ahnenkult verhinderte weitgehend die Entstehung von ausgeprägten Totengerichtskonzepten außerhalb der Hochreligionen. Unter den Hemba wurden solche geschnitzten Holzfiguren männlicher Ahnen verehrt und repräsentierten die Verbindung zu Landeigentum und Clanabstammung. Sie stellen vor allem ideale körperliche und moralische Eigenschaften dar, weniger individuelle, obwohl sie bestimmte Ahnen abbilden sollen.
Von Interesse sind hier vor allem die alten Religionen des subsaharischen Bereiches und des Sahel bzw. der sogenannten Sudanzone, weniger der meist islamische Bereich Nordafrikas oder des alten christlichen Bereiches in Äthiopien, außer was die Synkretismen angeht, die sich bis weit nach Norden in der Sahara etwa bei den Tuareg und anderen teils randständigen Ethnien vor allem in der Übergangszone und in den Regionen alter afrikanischer Königreiche finden (s. Geschichte Nordafrikas).
Grundstrukturen afrikanischer Religionen:[253] Im Allgemeinen glaubte man, der Tod sei quasi durch ein Versehen entstanden, und die Toten lebten unter der Erde in einer von einem oder mehreren Totengöttern beherrschten Totenreich, das dem Diesseits aber sehr ähnlich sei (etwa im Südwest-Bantu-Gebiet;[254] doch fehlt diese Vorstellung z. B. auf Madagaskar[255]). Die Toten seien aber auch im Diesseits durch magische Kräfte präsent und müssten bei Laune gehalten werden, und vor allem in Ostafrika glaubte man, die Menschen insgesamt lebten unter der Gewalt von Göttern, Ahnen und Geistern, die die maßgebenden übernatürlichen Phänomene darstellten und entsprechend beeinflusst werden könnten, so dass Afrika auch der Kontinent der Magie genannt worden ist.[256] Besessenheitskulte wie etwa der zentralsudanesische isoki-Kult oder die holey-Kulte der Dogon sind verbreitet. Die afrikanischen Religionen, auch die großen und komplexeren wie die der Yoruba mit ihrem 401-köpfigen Pantheon, sind entsprechend beherrscht von Ahnenkult,[257] der aber auch wie bei den Massai weitgehend fehlen kann. Jenseits- und Totenfurcht sind verbreitet, hie und da mit Reinkarnation oder vergleichbaren Vorstellungen, bei den Bantu in der Sambesi-Angola-Provinz und bei den Dogon und den Bambara am oberen Niger mit dem Konzept einer Mehrfachseele, desgleichen und besonders komplex in der Obervolta-Provinz.[258] Ebenso finden sich gelegentliche Spuren eines alten Totemismus, meist als Sippen- bzw. Klantotemismus wie besonders ausgeprägt bei den Massai. In der Obervolta-Provinz tritt Totemismus in Form eines Nagualismus auf.[259] Gelegentlich glaubt man wie in Nordostafrika, die Toten kämen als Seelenvögel wieder.[260] Statt von Ahnenkult, den es aber zum Beispiel bei Khoikhoi und San sowie den Mbuti-Pygmäen nicht gibt,[261] spricht man in Afrika aber besser von der Verehrung der „Lebendtoten“, denn die Toten sind noch mehrere Generationen gegenwärtig, ihnen wird auf dem Hausaltar geopfert, und alles, was in der Sippe geschieht, wird ihnen berichtet. Das Verhältnis zu ihnen und zu jenseitigen Sphären ist harmonisch und lebensbejahend, und die Hauptfrage der ethnischen afrikanischen Religionen ist nicht: Welches Schicksal erwartet uns im Jenseits? sondern vielmehr: Welchen Einfluss haben die Toten auf uns Lebende, und welche Taten, die wir unseren Mitmenschen zufügen, können diese später als Tote an uns rächen?[262] In den mitunter außerhalb der Städte bis in unsere Tage neolithisch geprägten Völkern kommen dazu noch Fruchtbarkeitskulte. Die Sterne werden gelegentlich wie bei den Ethnien des südlichen Limpopo-Gebietes oder Nordostafrikas mit den Toten in Verbindung gebracht.[263]
Ein Totengericht gibt es nur sporadisch und in Vor- bzw. Frühformen, etwa im Zentralsudan, wo der Erdgott dabei eine wesentliche Rolle spielt. Der Wiedergeburtsglaube ist verbreitet. Die Vorstellung von einem Totengericht ist den meisten Bevölkerungsgruppen aber fremd. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Subsistenzstrategie, denn Jäger und Sammler und frühe sogenannte Altpflanzer hängen eher dem Ahnenkult an; erst entwickelte Feldbauern zeigen im Allgemeinen Tendenzen, mit dem Konzept der Unterwelt in Kombination mit zyklischen Fruchtbarkeitsvorstellungen nach und nach und parallel zu Götterpantheons auch Konzepte eines Totengerichtes zu entwickeln.[264] Allerdings ist die Fläche der für eine ertragreiche Landwirtschaft geeigneten Humusböden in Afrika relativ klein, und der entscheidende Wirtschaftsfaktor war dort stets die menschliche Arbeitskraft.[265] Die Kambara und Duka jedoch glauben, dass böse Taten bestraft und gute belohnt werden. Vergeltungsmaßnahmen im Jenseits kennen auch andere lokale Bevölkerungsgruppen des Zentralsudan. Die Djukun nennen das Totenreich „Haus der Wahrheit“, in dem Ana, die Erdgottheit, als oberster Richter herrscht. Ebenso glauben die Duru, dass der in der Erde wohnende Gott die Toten richtet. Im Übrigen richtet sich die Position der Toten im Jenseits nach der Position im Diesseits.[266] Inwieweit in solchen Fällen islamische Einflüsse eine Rolle gespielt haben oder ob es sich dabei um autochthone Vorstellungen handelt, wie man sie im pazifischen Raum so ähnlich findet, ist strittig. In Liberia und Sierra Leone wird dies jedoch vermutet, denn dort werden nach dem Glauben der Vai die Geister der Verstorbenen während einer 40-tägigen auch über eine Totenfluss führenden Reise von den Toten, denen sie im Laufe ihres Lebens Unrecht getan haben, gepeinigt und streng befragt.[267] Die zentralafrikanischen Wute haben moralisch-dualistische Konzepte entwickelt, denn sie teilen die Totenseelen wie auch zahlreiche Naturgeister in gut und böse ein, ähnlich die benachbarten Mbum. Die Guten gingen zu Gott, die Bösen ins Feuer.[268] Bei den zentralafrikanischen Bongo lenkt loma als Macht aus dem Jenseits das Schicksal und bewertet es nach moralischen Kriterien, greift sogar direkt in das Leben ein. Sozialer und moralischer Rang bestimmen dann das Verhältnis zu loma im Jenseits.[269]
Die im Verlauf der Geschichte Nordafrikas vor allem im Falle des Islam bedeutsame Rolle der überwölbenden Hochreligionen ist wie in anderen Weltreligionen stets mit zu berücksichtigen. So finden sich etwa in der fandano genannten Religion der Hadiya in Nordostafrika islamische Eschatologievorstellungen, Fastenbräuche usw., ähnlich bei den Dar Fur. Die Daza und Tubu praktizieren noch einen Ahnenkult und präislamische Agrarriten etc. Totenfurcht und der Glaube an Naturgeister sind noch bei den Tuareg lebendig geblieben, desgleichen in Nordafrika insgesamt Reste des alten Berberglaubens.[270] Oft wird der Islam aber wie etwa in der Oberniger-Provinz vor allem als Jenseitsreligion betrachtet, oder es wurden wie früher bei den Songhai nur äußerliche Bräuche übernommen.[271] Häufig praktizieren Afrikaner neben dem Islam oder Christentum zudem auch die alte Volksreligion, die allerdings nach und nach zu schwinden beginnt, da in Islam und Christentum offenbar die im traditionellen Volksglauben ausgeprägte Angst vor jenseitigen Mächten und ihrer Willkür bei einem sehr fernen, nicht eingreifenden und daher auch nicht verehrten otiosen Hoch- und Schöpfergott durch das mitfühlende Eingreifen des abrahamitischen Schöpfergottes und erst recht von Jesus Christus besänftigt wird, so dass eine Heilsgewissheit entsteht, die ethische Maßstäbe zur Grundlage hat und durch ein nicht mehr willkürliches Totengericht auch garantiert wird, solange man sich an diese Maßstäbe hält. Dabei werden überdies die in Afrika besonders verhängnisvollen ethnischen Grenzen in der Gleichheit aller Gläubigen aufgehoben, allerdings sind auch neue zwischen Islam und Christentum bzw. sogenannten Naturreligionen entstanden.[272]
Ozeanien und Australien
Orientierungskarte Australien und Ozeanien
Für die Völker Ozeaniens ist die Existenz der Toten eine Aufgabe für das Gedächtnis der Lebenden.[273] Doch gibt es stets Momente, wo die Toten diese gleichsam parallele Existenz zu den Lebenden verlassen, um in die Unterwelt hinabzusteigen, die Orte des Vergessens.[274] Ein ausgeprägtes Totengericht findet sich in Ozeanien aber nicht, ebenso wenig finden sich ausgeprägte Weltuntergangsszenarien. Grundlage vor allem in Melanesien ist ein Weltbild mit einem starken Ahnenkult, ebenso in Polynesien und Mikronesien, von dessen Religion aufgrund der radikalen Eroberungsgeschichte allerdings kaum noch etwas übrig ist. Am bekanntesten sind hier die megalithischen, moai genannten Steinskulpturen der polynesischen Osterinsel, die vermutlich mythische Ahnen darstellen und als Mittler zwischen Göttern und Menschen im Rahmen der einzelnen Sippen fungierten, deren Kraft sie repräsentierten.[275] Verwandtschaft und Abstammung sind auch in Melanesien Basis der Kultur und Träger des religiösen Lebens. Das soziale System wird gelegentlich und vor allem in Polynesien von machtpolitisch orientierten diesseitigen Adelssystemen (vor allem auf Hawaii, wo es elf Adelsränge gab) und Häuptlingssystemen mit Mana und Tabu (vor allem in Melanesien) überlagert,[276] denen wie zum Beispiel auf Hawaii, Tahiti oder Tonga auch eine paradiesische Oberwelt für den Adel und eine karge Unterwelt für das gemeine Volk entspricht. Das somit rein klassenspezifische System besitzt aber im mehr oder weniger ausgeprägten Ahnenkult noch ein jenseitiges Korrektiv, das allerdings in einigen Fürstenherrschaften ebenfalls nur noch für die Adelsschicht gilt. Totemismus ist vor allem bei den Papuas Neuguineas verbreitet. Insbesondere in Melanesien waren die Verwandtschaftsgruppen und Stammesverbände Träger des religiösen Lebens.
Allerdings finden sich für Altpflanzer typische Früh- bzw. Vorformen eines Totengerichtes mit Seelenvorstellungen vor allem dort, wo wie insbesondere in Polynesien oft vielfältige, meist mit Naturerscheinungen assoziierte Götterpantheons existieren und damit kosmogonisch auch eine meist als Kopie des Diesseits vorgestellte Unterwelt. Die Betonung liegt hier aber meist noch auf der als beschwerlich geschilderten schamanischen Seelenreise, deren Ziel die Vereinigung mit den früher verstorbenen Stammes- und Clanangehörigen ist, an deren Ende aber eine Art Eintrittszeremoniell mit einer Prüfung durch die Unterweltsgottheit stehen kann und damit eine Vorform des Totengerichts. Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang bei vielen Völkern die Nachweise, dass der Tote zu Lebzeiten gewisse Zeremonien durchlaufen hat, was etwa durch das Vorhandensein von Tätowierungen nachzuweisen ist. Ursprünglich scheint das Totenreich identisch mit dem Reich der Götter gewesen zu sein, hat sich dann aber offenbar mit der Vorstellung der Dema-Gottheit, die selbst weder gut noch böse ist, unter die Erde verlagert, da dort der Ursprung des Lebens und der Fruchtbarkeit imaginiert wurde, die durch den Tod der Dema-Gottheit erst geschaffen worden war, so dass eine enge Verbindung zwischen Sterben und Fruchtbarkeit entstand, die für alle Pflanzervölker typisch ist, wie sie Adolf Ellegard Jensen insbesondere am melanesischen Volk der Marind-anim beobachtete.[277]
Bei den Maori gibt es mit Hine-Ahua-Rangi eine Unterweltsgöttin. Ihr Vater Tāne tritt als Organisator der Welt auf und als Repräsentant des Guten. Sein Gegenspieler Gott Tangaroa ist hingegen Verursacher des Bösen, so dass man hier bereits einen kosmogonisch fundierten, sekundär ethischen Dualismus vor sich hat.[278] Als Todesgöttin fungiert aber auch Hine-nui-te-po (Große Frau der Nacht), als Hine-a-tauira Gattin und Tochter zugleich des Tane, die, als sie von ihrer inzestuösen Entstehung erfuhr, in die Unterwelt floh und sich dort einen neuen Namen gab. Dort wirkt sie allerdings nicht als Totenrichterin, vielmehr verkörpert sie die endgültige Aufhebung der männlichen Kraft, indem sie die Männer in den Tod zieht, denn Rang, gesellschaftliche Stellung und positive Daseinsmächte im Rahmen des tapu-Systems wurden wesensmäßig als männlich betrachtet. Frauen waren hingegen unrein und Quelle negativer Einflüsse auf diese Kräfte. Ein weiterer Mythos bestätigt diese ganz andersartige und vor allem an altpflanzerlichen Fruchtbarkeitsvorstellungen orientierte Konzeption der Unterweltsgottheit. In dieser Erzählung wird der polynesische Trickster-Halbgott und Kulturheros Maui bei dem Versuch getötet, die Todesgöttin zu vergewaltigen und so für alle Lebewesen Unsterblichkeit zu erringen.[279]
Wie anderswo werden auch bei den Maori mana und tapu an den Einzelnen weitervererbt, ebenso wie das heilige Stammesland. Später bildeten sich dann Maori-Kirchen (z. B. Ringatu und Ratana), die die alte Religion mit der christlichen zu verschmelzen suchten, einschließlich der christlichen Jenseitsvorstellungen.
Die australischen Aborigines[280] wiederum haben diesen Kult der mythischen Ahnen, der kein Ahnenkult im engeren Sinne ist,[281] sondern die Verehrung mythischer Gestalten, also Fantasiewesen, die in verschiedenen Gestalten imaginiert werden, zu einem hochkomplexen mythisch-philosophischen System, der Traumzeit, weiterentwickelt, in der ein Totengericht schon systembedingt ebenfalls keinen Platz findet, denn alle moralischen Gesetze und Sitten in der Welt leiten sich aus der Verbindung zwischen sichtbarem und spirituellem Universum ab. Lebende und Tote sind daher nicht zu trennen, und die Ahnen haben ihren Sitz in Naturerscheinungen und Totems.[282] Die Vorstellungen der Australier über das Leben der Seele nach dem Tode sind allerdings relativ unklar und uneinheitlich. Manche Stämme glauben, dass die Seelen über die Erde wandern, andere, dass sie nach Norden oder in den Himmel reisen oder dass sie sich kurz nach dem Tod in Nichts auflösen. Entsprechend fehlt die Vorstellung von einem Jenseits, und eine große Rolle spielen Seelenvorstellungen nicht.[283] In manchen Mythen wird davon berichtet, die Menschen seien früher wie der Mond ständig wiedergeboren worden, und sie hätten schließlich den Wunsch geäußert, tot bleiben zu dürfen.[284]
Amerika
Amerika[285] gilt, was die ethnischen Religionen angeht, als Kontinent des Schamanismus. Wie andernorts sind die Jenseitsvorstellungen auch hier vor allem von der jeweiligen Subsistenzstrategie abhängig, das heißt Jäger und Sammler, nomadisierender Viehhirte oder Bauer. Auch hier sind sowohl in Nord- wie in Südamerika schamanische Vorstellungen und Fruchtbarkeitsmythen vorherrschend, die per se ein Totengericht im Allgemeinen ausschließen oder doch nur in Ansätzen zeigen. Totemismus ist meist als Sippen- oder Stammeskult verbreitet, der Geisterglaube ebenso. Ein Ahnenkult fehlt hingegen gelegentlich, ist aber bei den ackerbautreibenden Stämmen wie den Pueblos vorhanden gewesen (Katchina). Insgesamt blieben vor allem in vielen Teilen Lateinamerikas noch alte Kulturmuster erhalten, und entsprechend sind im Ausstrahlungsbereich der alten mesoamerikanischen und südamerikanischen Hochkulturen oft auch noch Reste dieser Religionen lebendig, wobei hier vor allem eine auffällige Vermischung mit dem Katholizismus zu beobachten ist, zum Beispiel mit Christus als Sonnengott und Maria als Mondgöttin. Die Sonne erhebt sich dabei aus den „heiligen“ Bergen und „stirbt“ im Westen, im Land der Toten.[286]
Der Jenseitsglaube orientierte sich am Diesseits; in einigen Gebieten gab es Wiedergeburtsvorstellungen. Man lebte als Toter in der Art fort, wie man im Diesseits gelebt hatte.[287] Soweit vorhanden, sind neuere Vorstellungen von einem Totengericht vor allem in Iberoamerika oft wohl auch auf die Überprägung durch das meist katholische Christentum zurückzuführen, das vor allem in Lateinamerika gelegentlich lokale, nicht eigentlich mehr als christlich zu bezeichnende Mischformen hervorgebracht hat, denn selbst in den altamerikanischen Hochkulturen gab es solche Vorstellungen zwar, doch waren sie allenfalls in Mittelamerika deutlich vorhanden (siehe oben).
Nordamerika[288]
In Nordamerika herrschte praktisch ausschließlich der von einem starken animistischen Geisterglauben begleitete Ahnenglaube vor, der aber schon wegen der nomadisierenden Lebensweise selten einen regelrechten Ahnenkult hervorbrachte. Die Inuit der Arktis etwa glaubten, die Toten hätten ihren Wohnsitz im Himmel; aber auch unter der Erde traf man mit den Ahnen wieder zusammen. Ähnliche Vorstellungen gab es in der Subarktis.[289] Bei den nordatlantischen Algonkin gab es statusabhängig Mumifizierungen und Zweitbestattungen, wenn man die Toten auf Wanderungen mitnahm.[290] Bei den Natchez und anderen nördlichen und Präriestämmen existierte die Vorstellung der Knochenseele, die erst nach der Reinigung der Knochen ins Jenseits gelangt. Die Comanchen glaubten an eine Art Paradies. An der pazifischen Nordwestküste und der Nordostküste herrschte der Glauben an einen Hochgott, den Großen Geist, der bei den subarktischen Algonkin und Naskapi Manitu hieß und bereits ethische Anforderungen stellte; teilweise bestanden dort Vorstellungen von einer Mehrfachseele. Einige Stämme des Großen Basins hatten die Vorstellung von einem Seelendualismus entwickelt. Die Furcht vor Totengeistern war vor allem bei den kalifornischen Indianern verbreitet, die auch an einen speziellen Totengott Kuksu glaubten, dem umfangreiche Zeremonien gewidmet waren.[291] Die Indianer des Südwestens glaubten an ein Jenseits weit im Westen nach Sonnenuntergang oder im Himmel. Eine Seele kam erst dann dorthin, wenn ihr gewaltsamer Tod gerächt war. Häufig war vor allem in den Great Plains und im östlichen Waldland die dualistische Zweiteilung einer sich bekämpfenden Götterwelt in Mächte der Höhe und Mächte der Tiefe. Insgesamt deuten die Bestattungen in Nordamerika auf einen weit verbreiteten Glauben an ein Leben nach dem Tode hin. Im Osten Nordamerikas streute man zudem roten Ocker (meist Hämatit) über die Toten oder das ganze Grab. Grabbeigaben sind häufig. Auch die enormen, mit reichen Beigaben bestückten Sippengrabanlagen der sogenannten Mound Builders der Adena- und Hopewell-Kultur, die teils einen den ägyptischen Pyramiden vergleichbaren Aufwand betrieben (es gab über 100.000 von ihnen, für die Mounds von Poverty Points etwa wurden 405.000 m3 Erde bewegt, der größte erforderte etwa 3 Mio. Arbeitsstunden[292]), deutet in diese Richtung.[293]
All dies sind Symptome eines schamanisch bestimmten Ahnenkultes, selbst dort, wo Ackerbau betrieben wurde, teilweise mit einer städtischen Kultur wie etwa am mittleren Mississippi und unteren Ohio (z. B. Cahokia mit 20.000 Einwohnern).[294] Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die ab 1860 vor allem in den Great Plains entstandene Geistertanzbewegung, die den Glauben an die Wiederauferstehung aller Indianer sowie die Vertreibung aller Weißen propagierte und messianische Züge trug.[295] Totengerichtsvorstellungen existieren jedoch auch in Vorformen in keiner der nordamerikanischen Ethnien.
Mittelamerika, nördliches Südamerika und Karibik[296]
Dort finden sich neben dem Katholizismus vor allem in Nordmexiko Synkretismusformen mit den alten Eingeborenenreligionen bei einem dann ausgeprägten Schamanismus, aber auch Restbestände der alten hochkulturellen Religionen mit Göttern und Geistern (siehe oben), jedoch auch hier ohne wesentliche indigene Vorstellungen eines Totengerichts außer den christlichen, es sei denn durch Wiederaufnahme alter mesoamerikanischer Religionsvorstellungen, wie sie etwa in der mexikanischen Provinz Chiapas, einem alten Maya-Gebiet, sowie in Guatemala und auf der Halbinsel Yucatan zu beobachten sind.
Südamerika[297]
Hier zeigt sich aufgrund der großen klimatischen und geographischen Unterschiede eine größere Variationsbreite bei den Religionen, die aber allesamt, wo nicht synkretistisch oder vom Christentum geprägt, ebenfalls das alte schamanische Bild aufweisen, wenn auch ein besonders vielfältiges. Doch gibt es im gesamten Südamerika keine Götter oder Kulturheroen, die allen Indianern gemeinsam sind, aber die Mythen sind trotz großer Variationsbreite dennoch thematisch weiträumig miteinander verflochten. Der Glaube an eine wie immer geartete Weiterexistenz nach dem Tod ist jedoch stark verbreitet. Wie bereits in Mittelamerika sind auch hier außerhalb des Christentums keinerlei Formen eines Totengerichtes zu beobachten, obwohl Unterweltsvorstellung als Aufenthaltsort der Toten existieren, wobei es wie bei den Xavante Zentralbrasiliens sogar Ordnungsprinzipien gibt, denn in deren Unterwelt werden etwa die Toten streng nach Blutsverwandtschaft voneinander geschieden, damit weltliche Konflikte sich nicht im Totenreich fortsetzen können. Auch Prüfungen müssen während der Reise ins Jenseits durchlaufen werden, das generell als Unterwelt imaginiert wird, die allerdings ganz unterschiedlich, also sowohl fröhlich wie auch fade und elend sein kann, aber im Allgemeinen ähnlich wie der Tod nicht gefürchtet und als Teil der Existenz verstanden wird. Übergangsriten etwa in Amazonien sind häufig, desgleichen Zweitbestattungen und Kommunion mit den Toten. Die Jenseitsvorstellungen sind insgesamt aber häufig vom Ahnenkult bestimmt, auch dort, wo trotz des hier besonders extremen Völkermordes durch die Conquistadoren alte andine Religionsformen der Inkas und ihrer Vorgänger überlebt hatten, gelegentlich mit dem Glauben an einen otiosen Hochgott.
Neue Religionen
Unter dieser Rubrik[298] werden meist in den letzten zwei Jahrhunderten entstandene synkretistische Religionsformen zusammengefasst, die so stark von der dominierenden Religion abweichen, dass sie nicht mehr als Sekten angesehen werden können. Sie sind meist erst sehr spät und oft vor dem Hintergrund kolonialer und sozialer Einflüsse und Umbrüche und/oder ethnischer Differenzen entstanden. Meist sind zwei Religionen beteiligt, mitunter aber auch mehr. Die Unterscheidung: Sekten – ethnische Religionen – neue Religionen ist allerdings problematisch, wie etwa das Beispiel der Mormonen zeigt, bei denen jüdische und christliche Elemente mit den Schriften des prophetischen Stifters Joseph Smith ineinander übergehen, mitsamt einem Totengericht, das auf dem Prinzip der menschlichen Willensfreiheit beruht.[299]
Afrokaribische und südamerikanische Religionen: Häufig mischen sich in ihnen wie etwa im Voodoo[300] archaische Geistervorstellungen mit christlichen Inhalten, wobei etwa im Voodoo erstere dominieren. Magische Inhalte und Geister sind entsprechend verbreitet, Besessenheitssymptomatiken und Trance sind häufig. Weitere Beispiele sind Maria Lionza in Venezuela, Umbanda und Condomblé in Brasilien, Rastafari in Jamaika. Da sie meist in der Unterschicht verbreitet sind und auf soziale Ungerechtigkeiten reagieren, sind ihre Inhalte entsprechend ausgerichtet als Bewältigungsformen des als bedrückend empfundenen Diesseits und als schichtspezifisches Bindemittel, das durch Zeremonien stabilisierend wirkt. Über ihre Jenseitsvorstellungen ist relativ wenig bekannt.
Asien: Baha'i in Palästina weist Bezüge zum Islam auf, die Vereinigungskirche bzw. Moon-Sekte verbindet christlich-messianische Gehalte mit daoistischen. Aufgrund der fehlenden Kodifizierungen des Shintoismus gibt es vor allem in Japan zahlreiche neue Religionen wie Tenrikyo, Konkoyo oder Risshokosaikei. Ähnliches gilt für Korea. Auch im ebenfalls sehr heterogenen Hinduismus gibt es derartige, teilweise auch in Europa existente Neureligionen wie Hare Krishna oder Bhagwan, teilweise mit psychoreligiöser Ausrichtung und durch Gurus gesteuert. Die Totengerichtsvorstellungen sind in all diesen Religionen entweder weitgehend von der Grundreligion bestimmt oder vor allem im Rahmen von Reinkarnationskonzepten nur schwach oder überhaupt nicht ausgeprägt.
Afrika: Die afrikanischen Gebets- und Heilungskirchen wiederum verbinden häufig regionale Traditionen mit christlichen. Ähnliches gilt für die drei großen unabhängigen afrikanischen Großkirchen (AUK), indes die christlich beeinflussten Freiheitsbewegungen in Schwarzafrika eine religiöse europäische Dominanz ablehnen und vor allem als Heilungskirchen imponieren sowie stark politisch aktiv sind mit Führern wie Desmond Tutu. Über Totengerichtsvorstellungen ist wenig bekannt, auch nicht inwieweit der totengerichtslose traditionelle afrikanische Ahnenkult im Einzelfalle christliche Jenseitsvorstellungen überlagert.
Entwicklungen in der Moderne
Hermeneutik
Von einem Totengericht im eigentlichen Sinne und außerhalb der klassischen Religionen kann man hier zwar nicht eigentlich mehr sprechen, wohl aber von entsprechenden ideologisch bzw. religiös gefärbten Vorgängen und Residuen im Zusammenhang mit eschatologischen und grundlegenden psychischen Vorgängen, was die individuelle und kollektive Bewältigung der Todesproblematik angeht. Eine rein historisierende Darstellung des ja zentralen Konzeptes des Totengerichtes wäre damit unvollständig ohne die Betrachtung der gedanklichen Strukturen, Begrifflichkeiten und Motivationen, mit denen es neuzeitlich und bis in unsere Tage verwoben ist oder die es beeinflusst, wenn nicht gar mit hervorgebracht hat. Zahlreiche neuzeitliche Denker haben das so ähnlich gesehen. Oswald Spengler etwa schreibt:[301]
„An den Tod, den jeder zum Licht geborene Mensch erleiden muss, knüpfen sich die Ideen von Schuld und Strafe, vom Dasein als einer Buße, von einem neuen Leben jenseits der belichteten Welt und von einer Erlösung, die aller Todesangst ein Ende macht. Erst aus der Erkenntnis des Todes stammt das, was wir Menschen im Unterschiede von den Tieren als Weltanschauung besitzen.“
– Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes
Dennoch ist es heikel, derartige historische Parallelen zu ziehen. Bertrand Russell hat diese Deutungsproblematik auf den Punkt gebracht, als er im Zusammenhang mit den messianischen Zügen des Kommunismus etwas spöttisch meinte, Marx habe wohl das jüdische messianistische Geschichtsverständnis für den Sozialismus so ähnlich angepasst, wie das Augustinus für das Christentum getan habe. Der dialektische Materialismus, der nach Marx der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegt entspräche dabei dem biblischen Gott, das Proletariat entspräche den Auserwählten, die Kommunistische Partei der Kirche, die Revolution der Wiederkunft Christi und das kommunistische Reich dem Tausendjährigen Reich. Eine direkte Übertragung, in diesem Falle messianischer Ideen auf ideologische Gehalte der Moderne, ist somit schon wegen der eindeutigen Unterschiede beider Systeme hochproblematisch und eher semantischer Natur, und sie ist nur insofern zulässig, als sie sich auf aktuelle Ereignisse mit ähnlichen sozialen Dynamiken bezieht, die jeweils eine vergleichbare mythische Basis haben, welche in starken Bildern bestimmte elementare menschliche Erfahrungen und Hoffnungen ausdrücken.[302] Entsprechend ist auch der Gedanke des Totengerichts in neuzeitlichem Kontext zu werten und zu interpretieren als phänomenologisches Bezugssystem im Rahmen eines hermeneutischen Zirkels, in etwa wie die damit einhergehende Vorstellung der Hölle von modernen theologischen Interpreten so gedeutet wird: „Höllen sind mythologische Bilder der existentiellen menschlichen Angst vor dem drohenden Absturz ins Nichts, es sind negativ-messianische Mythen.“[303] Sie sind wie das Totengericht Teil der Welt- und Sozialinterpretation, und diese verändert sich, weil sich unsere Lebenswelt verändert.[304]
Vorbemerkungen
Sakralisierte Darstellung Mao Zedongs
Die Vorstellungen vom Jenseits, von Himmel, Hölle und einem Totengericht sowie die damit verbundene Furcht und Hoffnung haben nach Ende des Mittelalters und vor allem nach der Aufklärung nicht aufgehört, die Menschen zu beschäftigen. Es ist daher nur zwangsläufig, auch die in den folgenden Perioden aktuellen Konzepte in diesem Zusammenhang konkret und nicht nur pauschal oder spekulativ theoretisch, sondern in den Indizien wertungsfrei zu sichten, selbst wenn die Begrifflichkeit „Totengericht“ nicht unbedingt ausdrücklich im mittelalterlichen oder antiken Sinne expressis verbis auftaucht. Aber die Grundidee ist nach wie vor auch und gerade außerhalb der Religionen vorhanden. Sie beschäftigt die Menschen, nutzt Gesellschaften und Staaten nicht nur im konservativen, vielleicht sogar fundamentalistischen Sinne, sondern auch in moderner, säkularer und ideologisch transformierter Gewandung.[305]
Hier findet sich nun in erster Linie das von Theodor Adorno in „Studien zum autoritären Charakter“ dingfest gemachte Phänomen der Neutralisierung und Zersplitterung der Religion:[306]
„Die Neutralisierung der Religion geht Hand in Hand mit ihrer Zersplitterung. So wie die Betonung ihres praktischen Nutzens schließlich die religiöse Wahrheit von der religiösen Autorität trennt, so ist auch der spezifische Inhalt von Religion beständig einem Prozess der Auswahl und Anpassung unterworfen.“
– Theodor Adorno: Studien zum autoritären Charakter
Ein anderer Mechanismus in diesem Zusammenhang ist allerdings uralt: die Sakralisierung der Macht, wie sie sich vor allem ikonographisch noch an den Beispielen neuzeitlicher totalitärer Herrscher deutlich ablesen lässt.[307] Und manche von ihnen wie etwa in Nordkorea Kim Il Sung wurden de facto für unsterblich erklärt, andere erhielten Mausoleen als Totentempel, wo sie wie Lenin, Stalin, Mao oder Hồ Chí Minh einbalsamiert zur Schau gestellt wurden und zumindest zeitweise (Stalin z. B.) die ehrfürchtige Bewunderung, wenn nicht gar Anbetung durch das Volk erfahren. Gustave Le Bon, einer der Mitbegründer der Massenpsychologie, hat das Phänomen wie folgt beschrieben:[308]
„Nicht nur dann ist man religiös, wenn man eine Gottheit anbetet, sondern auch dann, wenn man alle Kräfte seines Geistes, alle Unterwerfung seines Willens, alles Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens weiht, das zum Ziele oder Führer der Gedanken und Handlungen wird… Heutzutage besitzen die großen Seeleneroberer keine großen Altäre mehr, wohl aber Statuen und Bilder, und der Kultus, den man mit ihnen treibt, ist von früheren nicht erheblich verschieden… Für die Massen muss man entweder ein Gott sein oder man ist nichts.“
– Gustave Le Bon: Psychologie der Massen
Denn Unterwerfung und Furcht sind nun einmal zentrale Aspekte jeder Macht, wie etwa Bertrand Russell in „Formen der Macht“ feststellt und auch die Gründe dafür nennt:[309]
„In der Unterwerfung unter den göttlichen Willen liegt ein Sinn äußerster Sicherheit… Alle Bereitschaft zur Unterwerfung ist in Furcht verwurzelt, ob nun der Führer, dem wir uns unterwerfen, menschlich oder göttlich ist. (S. 19)
Für den Pragmatismus ist ein Glaube ‚wahr‘, wenn die Folgen angenehm sind. Glaube an das höhere Verdienst eines Diktators hat angenehmere Folgen als Unglaube, wenn man unter seiner Regierung lebt. Überall, wo wirksame religiöse Verfolgung herrscht, ist der offizielle Glaube im pragmatischen Sinn wahr. Die pragmatische Philosophie verleiht daher den Machthabern eine metaphysische Allgewalt, die eine tägliche Philosophie ihnen verweigern würde. (S. 258 f.)“
– Bertrand Russell: Formen der Macht
Säkularisierung, Ideologisierung, Instrumentalisierung
Im Verlauf einer allgemeinen nachmittelalterlichen Säkularisierung und im Gefolge von Reformation und Humanismus hatten bereits Rationalismus, Aufklärung, Positivismus, Empirismus, Utilitarismus und Idealismus zu einer neuen Sichtweise der Religionen und der damit einhergehenden Phänomene geführt. Vor allem im 19. Jahrhundert bildeten sich dann eigene, scheinbar nur rationale Gedankenkonstruktionen als Ideologien oder ideologieähnliche Substrate heraus,[310] in denen wie in Nationalökonomie und Liberalismus vor allem gesellschaftliche und ökonomische Momente eine entscheidende Rolle spielten, wobei jenseitige Elemente nach und nach entweder säkular instrumentalisiert wurden (das war, wenn auch religiös, schon im Mittelalter etwa mit Investiturstreit und Kreuzzügen und erst recht in der Renaissance z. B. bei den „ersten Ideologen“ Savonarola und Machiavelli[311] oder den Medici-Päpsten mit machtpolitisch durchaus ähnlicher Ausrichtung der Fall gewesen) oder aber der völligen, gleichsam materialistischen bzw. technokratischen Missachtung anheimfielen.[312] Bezeichnend für Ideologien wie Religionen ist zudem, dass sie beide eine erhebliche Bindewirkung entfalten können, die in Extremfällen den Selbsterhaltungstrieb überlagern.[313] (Die dabei wirksamen psychologischen Mechanismen beschreibt unter anderem Peter Conzen.[314])
Gemeinsam ist all diesen Entwicklungen aber das seit längerem diskutierte Phänomen des Verlustes der Transzendenz oder, wie Richard Schaeffler in Mircea Eliades „Geschichte der religiösen Ideen“ feststellte: „Die Religionsgeschichte mündet in die völlige Verschleierung des ‚Heiligen‘, genauer, seine Identifikation mit dem ‚Profanen‘.“[315] Damit wurden aber auch religiöse Phänomene wie Totengericht, Auferstehung, Erlösung, Letztes Gericht usw. neu und meist sehr kritisch bzw. absolut negativ bewertet, selbst wenn künstlerische Bewegungen wie die Romantik oder die Präraffaeliten sie in meist altertümelnder Manier rein äußerlich überhöhten oder Faschismus und Kapitalismus sie machtpolitisch instrumentalisierten. Doch wurden solche Phänomene, sofern nicht agnostisch ignoriert oder nihilistisch geleugnet, vor allem in Philosophie und Wissenschaft nun zunehmend vor allem unter drei Gesichtspunkten betrachtet:
entweder als rein psychische Substrate, die den tiefenpsychologischen Mechanismen wie Verdrängung, Projektion, Abwehr oder Introjektion unterliegen,
als sozial bedingte Mechanismen im Rahmen der als Klassenkampf apostrophierten gesellschaftlichen Entwicklungen, so vor allem im Marxismus-Leninismus,
als evolutionär bedingte Entwicklungsstufen, die der aufgeklärte Mensch nun hinter sich gelassen habe wie im Darwinismus und seinem garstigen Kind, dem Sozialdarwinismus.
Dennoch zeigen vor allem die großen Ideologien, meist ausgehend vom Christentum (und heute auch vom Islam), teils religiöse Züge, ohne allerdings im engeren Sinne Religionen zu sein,[316] jedoch mit einer starken Bindewirkung, Erlösergestalten, Heilsversprechungen und Erlösungsmotiven bis hin zu teils der Glaubenswelt entnommenen eschatologischen Vorstellungen, die nun aber aufgrund der häufig materialistischen Grundkonzepte zwangsläufig ins Diesseits einer näheren oder ferneren Zukunft verlegt wurden, auch dort, wo religiöse Hintergründe noch vorhanden und integriert sind, wie etwa in dem göttliche Gnadenwillen vorwegnehmenden Calvinismus/Kapitalismus vor allem angelsächsischer Prägung, wie ihn bereits die puritanischen Pilgerväter nach Amerika brachten.
Typisch für die ideologischen Konzepte der Moderne, vor allem wenn sie „konstituiert durch das eiserne Band des Terrors“ in totalitärer Gestalt mit einem „Anspruch auf totale Welterklärung“ und unter dem „Gesetz des Tötens“ sowie mit der „Furcht als Prinzip öffentlich-politischen Handelns“ (Hannah Arendt[317]) auftreten, ist hier abermals die Verlagerung des Totengerichts ins Diesseits, mit diesseitigen Personen und Organisationen (z. B. die SS, die sich ja als schwarzen Orden im Gefolge der Jesuiten betrachtete[318]) als Richtern, wobei Hitler vom damals führenden Juristen Carl Schmitt zum obersten Richter verabsolutiert wurde: „Der wahre Führer ist immer auch Richter.“[319] Dessen auch nur vermuteter Wille galt als absolut und quasigöttlich[320] und orientierte sich an der schon von Max Weber beschriebenen charismatischen Funktion als einer Verbindung zwischen Held, Krieger, Staatsmann und Hohepriester mit quasi religiöser Symbolik,[321] so dass man nicht zu Unrecht von einem Führerkult spricht. Und das hieß nach Schmitt hier auch: oberster Richter in quasigöttlicher Stellung ohne jede Kontrolle, der, wie die weitere Entwicklung zeigte, dieses Recht auch so ausübte, ganz ähnlich wie „Väterchen Stalin“ oder der „Große Vorsitzende“ Mao, auch sie absolut charismatische Gestalten. Auch für den sowjetischen KGB und seine Vorläufer und Nachfolger lässt sich eine Funktion als säkularer Totenrichter bzw. dessen Erfüllungsgehilfen (in den alten und klassischen Religionen waren das meist Dämonen) feststellen, und beide Organisationen sandten ihre Opfer nach kafkaesk undurchsichtigen Prozessen und/oder bürokratischen Prozeduren in mitunter Erziehungs- oder Schutzlager genannte Todeslager: in die KZs zwecks Endlösung (falls „rassisch“ unerwünscht) die einen (die dortigen Höllenwächter hießen nicht umsonst Totenkopfverbände), in die Gulags die anderen. Beide waren diesseitige Höllen, wie Eugen Kogon in „Der SS-Staat“ und Alexander Solschenizyn in „Der erste Kreis der Hölle“ nebst zahlreichen anderen berichteten. Und sie haben auch in späteren Zeiten durchaus Nachfolger gefunden, sei es in Kambodscha (Rote Khmer), China nicht nur während der Kulturrevolution unter der Herrschaft der Roten Garden oder sonst wo.
Auch die Theologie nach Auschwitz verzweifelt mitunter am apokalyptischen Charakter der vorwiegend in den KZs vollzogenen Schoah mit der Theodizee-Frage: Wo war Gott in Auschwitz?[322]
Weiter in Teil 7
Andy- Admin
- Anzahl der Beiträge : 36197
Anmeldedatum : 03.04.11
Teil 7
Marxismus, Sozialismus und Kommunismus
Alle drei geistig ja eng miteinander verbundenen ideologischen Richtungen stehen der durchaus auch als gefährliche Konkurrenz empfundenen Religion außerordentlich kritisch, ja ablehnend gegenüber, und zwar nicht nur hinsichtlich des Machtaspektes, sondern auch in Bezug auf metaphysische, vor allem teleologische Inhalte.[323] Der Kommunismus etwa hat das an sich eschatologische und vor allem im Leninismus und Stalinismus propagandistisch überhöhte teleologische Konzept des „Paradieses der Werktätigen“ entwickelt, das durchaus heilsgeschichtliche Bezüge aufweist und die Entwicklung der Gesellschaft von der paradiesischen Urgemeinschaft über Sklavenhaltergesellschaften und Kapitalismus bis hin zum paradiesischen Kommunismus als eine notwendige Folge von gesellschaftlichen „Sündenfällen“ beschreibt, wie Karl Marx es in seiner Geschichtsphilosophie darstellte,[324][325] wobei ganz offensichtlich messianische Züge auftreten. Der marxistische Ethnologe und Religionswissenschaftler S. A. Tokarew schrieb dazu in seiner Religionsgeschichte einleitend und wenn auch nicht expressis verbis durchaus auf Ideen wie das Totengericht bezogen:[326]
„Die Religion ist eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, eine Form der Ideologie. Jede Ideologie aber widerspiegelt letztlich das materielle Sein des Menschen, die ökonomische Struktur der Gesellschaft, und insofern kann man die Religion unter dem gleichen Gesichtspunkt betrachten wie etwa Philosophie, Moral, Recht oder Kunst. Aber die Religion nimmt unter diesen Formen der Ideologie eine Sonderstellung ein. Friedrich Engels sagte im ‚Anti-Dühring‘ im Hinblick auf das Wesen der religiösen Weltauffassung: ‚Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen.‘ (Aus: K. Marx/F. Engels: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 378.) Die Religion ist ein verzerrtes Bewusstsein, eine verzerrte Widerspiegelung der wirklichen Welt. Das ist ihr erstes charakteristisches Merkmal. Als ‚Widerschein der wirklichen Welt‘ (Marx) reproduziert die Religion jedoch in verzerrter Form die irdische Grundlage. Daher muss man, um eine bestimmte Form der Religion zu verstehen, von der irdischen Grundlage ausgehen, deren verkehrte Widerspiegelung die betreffende Religion ist.“
– S. A. Tokarew: Die Religion in der Geschichte der Völker
Alle drei atheistischen Ideologien haben kaum Interesse für religiöse Fragen gezeigt, außer dass sie Religion als Unterdrückungsinstrument im Sinne von Marx und Engels ablehnten (Marx nannte Religion ja „Opium des Volkes)“. Erst in ihren späteren totalitären Ausprägungen hat vor allem der Bolschewismus in der Sowjetunion und den von ihr nach und nach beherrschten oder beeinflussten Regionen (z. B. China, Nordkorea, Ostblock) die nicht zu leugnenden Vorteile von totengerichtsähnlichen Institutionen und Höllen bzw. die Furcht davor für die Machtsicherung erkannt. Er und seine Nachahmer folgen damit aber in der Praxis nicht nur totalitären Handlungsmustern, sondern auch den klassischen religiösen Vorbildern, die sie theoretisch so strikt ablehnten. Sie belegten damit gleichzeitig die Nützlichkeit solcher metaphysischen Institute, wobei das alte Instrument der Todesstrafe nun wie auch im Faschismus zu einer ständigen Drohung anwuchs (1945 wurde sie im Deutschen Reich für 46 Delikte verhängt, konnte aber seit 1940 grundsätzlich für alle Delikte verhängt werden, wenn das „gesunde Volksempfinden“ dies erforderte). Die normale individuelle menschliche Furcht vor dem Tod wurde so als Todesfurcht für die Gesamtgesellschaft instrumentalisiert und erhielt dabei eine metaphysische Tendenz in dem Sinne, dass jeder, der dem idealen Endziel, ob nun gesellschaftlich, ökonomisch, territorial oder rassistisch im Wege stand, im Interesse der Gesamtidee zu vernichten sei.[327] Die sowjetischen Schauprozesse vor allem der 1930er, die man wie die ähnlichen Prozesse vor dem NS-Volksgerichtshof durchaus auch als diesseitige Totengerichtsverfahren interpretieren kann, da ihre Urteile von der höchsten Gewalt, nämlich Stalin, vorgegeben waren und regelmäßig in die Hölle der Gulags führten oder in Todesurteilen endeten, hatten vor allem den Zweck, dies dem gesamten Volk klarzumachen.[328]
Faschismus
Hitler beim Reichsparteitag von 1936 in Nürnberg als sakralisierte Figur unter dem von Albert Speer konzipierten Lichtdom, der ihm eine himmlische Aura verlieh; hinter ihm sein Stellvertreter Rudolf Heß, links neben ihm der Reichsorganisationsleiter Robert Ley
Der europäische Faschismus,[329] soweit er sich nicht wie in Spanien (etwa im Opus Dei) oder Italien der Kirchen in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus bediente und auf die tiefe Verwurzelung religiöser Vorstellungen Rücksicht nahm oder sie benutzte, übertrug die in der christlichen Religion enthaltenen Heilserwartungen auf die eigene Ideologie und richtete sie wie im Kommunismus auf das Endziel einer klassenlosen Gesellschaft aus, in diesem Fall mit einem stark rassistischen, vor allem antisemitischen Impuls.
Entsprechend enthielt er durchaus manichäische und chiliastische Erwartungen, die vor allem im Nationalsozialismus im Begriff des Tausendjährigen Reiches zum Ausdruck kamen, ein aus der mittelalterlichen Heilserwartung übernommener, von Hitler allerdings bereits 1934 abgelehnter Begriff.[330] Dennoch enthielt der Nationalsozialismus durchaus Komponenten eines als befreiende Heilstat verstandenen Gottesgerichtes (Endlösung, Endsieg, Volksgerichtshof usw.), das aber nun auf die Regimegegner, Feinde und unter rassischen Gesichtspunkten vor allem die Juden zielte und durchaus grauenhafte Realität wurde, indes Teile der Partei versuchten (vor allem Kreise um Heinrich Himmler, der sich mit der Wewelsburg ein eigenes mythologisches Zentrum schuf), Mythologie und Rituale der alten Germanen wieder zum Leben zu erwecken (z. B. Ahnenerbe). Der hier agierende Gott und Erlöser war allerdings nun mehr und mehr der „Führer“ Hitler selbst, und zahlreiche Zitate belegen diese für die Juden endzeitlichen Ankündigungen einer Vernichtung, nach der ein die Welt beherrschendes Deutsches Reich aus germanischen Übermenschen entstehen würde, wie dies bereits von Alfred Rosenberg in seinem 1930 erschienenen Mythus des 20. Jahrhunderts postuliert worden war, das vor allem in seinem dritten Teil durchaus eschatologische Züge aufweist. „Die Religion ist der archimedische Punkt der völkischen Weltanschauung. Sie lieferte nicht nur die Rechtfertigung der ebenso apokalyptischen wie fanatisch befolgten völkischen Erlösungslehre, sie gab den Völkischen überhaupt erst die Begründung für ihr antiegalitäres, rassistisches Denkgebäude, das in seinem Wesenskern davon ausging, ‚dass aus deutschem Blute das Heil der Welt komme‘ (Ernst Hunkel).“ … „Religion und Religiosität galten als Treibfeder jedweden Denkens und Handelns im völkischen Geist… In scharfem Widerspruch zur christlichen Lehre war die völkische ‚arteigene‘ Religion von dieser Welt, sie war auf das Diesseits und auf die alles Sein bestimmende Rasse ausgerichtet.“ … „Vorbedingung für die Germanisierung war die – so bezeichnete – ‚Entjudung des Christentums‘ (Alfred Heil).“[331] Gleichzeitig entwickelte der Nationalsozialismus im Dritten Reich (eine ja schon fast eschatologische Bezeichnung) einen regelrechten Totenkult. Vor dem Kriege wurden die im Kampf für die Partei Gefallenen als „Blutzeugen“ verklärt (der bekannteste Fall ist Horst Wessel), insbesondere die Toten des Hitler-Putsches von 1923. Später wurde während des Krieges der Kult auf alle Gefallenen ausgedehnt. Der Tod im Totenkult stellte dabei eine Initiation ins Heldentum und ins ewige Leben dar, bedeutete aber auch ein freiwilliges Opfer für die Volksgemeinschaft, so dass dem Opfertod nachträglich ein Sinn verliehen wurde.[332]
Kapitalismus und Imperialismus
Max Weber hat in seiner vor allem auf den Calvinismus bzw. Pietismus zielenden Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ aus dem Jahre 1904/05 die Beziehungen des Kapitalismus zum Protestantismus dargestellt. Zwei Zitate mögen genügen:[333]
„Die Mahnung des Apostels (Anm.: Paulus) zum ‚Festmachen‘ der eigenen Berufung wird hier als Pflicht, im täglichen Kampf sich die subjektive Gewissheit der eigenen Erwähltheit und Rechtfertigung zu erringen, gedeutet. An Stelle der demütigen Sünder, denen Luther, wenn sie in reuigem Glauben sich Gott anvertrauen, die Gnade verheißt, werden so jene selbstgewissen ‚Heiligen‘ gezüchtet, die wir in den stahlharten puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus und in einzelnen Exemplaren bis in die Gegenwart wiederfinden. Und andererseits wurde, um jene Selbstgewißheit zu erlangen, als hervorragendes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Sie und sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes.“
– Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“
„Jenes religiös geforderte, vom natürlichen Leben verschiedene Sonderleben des Heiligen spielte sich – das ist das Entscheidende – nicht mehr außerhalb der Welt in Mönchsgemeinschaften, sondern innerhalb der Welt und ihrer Ordnungen ab. Diese Rationalisierung der Lebensführung innerhalb der Welt im Hinblick auf das Jenseits war die Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus.“
– Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“
Insbesondere dieser durch asketische Lebensführung bestimmte Calvinismus vollzieht damit eine Wendung vom jenseitigen Totengericht zum vorauseilend diesseitigen, erfolgsabhängigen „Bonus“, denn hier wird das Ergebnis des Totengerichtes als Heilsgewissheit bereits am Erfolg diesseitiger, vor allem wirtschaftlicher Tätigkeit abgelesen und als rein menschliche Wertung vorweggenommen, aber nicht mehr wie noch bei Luther in der augustinischen Rechtfertigungslehre dem unerforschlichen göttlichen Gnadenwillen nach dem Tode anheimgestellt. Daraus erklären sich zwanglos die Gesetzlichkeiten des westlichen Kolonialismus und Imperialismus bis hin zur Globalisierung, wenn auch zunehmend ohne Askese, es sei denn in der modernen egoistischen, rein erfolgsorientierten Askese von Investmentbankern mit 18-Stunden-Tag. Die bereits von Las Casas bestrittene Rechtfertigung des damaligen Kolonialismus und seiner Gräuel wurde schon seit der spanischen Eroberung der Neuen Welt und ihrer mit Völkermord unter dem Zeichen des Kreuzes einhergehenden exzessiven Sklaverei als Dienst an Gott und Beweis göttlicher Gnade angesehen (die Eingeborenen wurden nicht als Menschen betrachtet).[334] In diesen und späteren Fällen, insbesondere bis heute im angelsächsischen Raum, wurde und wird Erfolg somit als Resultat eines ins Weltliche vorgezogenen göttlichen Gnadenurteils gedeutet, nicht unähnlich mancher mittelalterlicher Vorstellungen der Käuflichkeit eines Totengerichtes.
In der vor allem westlichen Moderne sind also die klassischen metaphysischen Vorstellungen vom Totengericht inzwischen selbst innerhalb der Religionen oft obsolet und wurden entweder durch atheistische Ablehnung, agnostische Neutralität, religiöse Gleichgültigkeit oder materielle Transformation ins Diesseits im Sinne einer „Heils-Antizipation“[335] ersetzt, in diesem Falle als Vorwegnahme des hier ausschließlich am weltlichen Erfolg orientierten göttlichen Gnadenwillens, wie ihn der Pietismus/Calvinismus interpretiert, oder wie bereits in der Barockfrömmigkeit in einer stark figurativen Veräußerlichung von Glaubensinhalten.
Was bleibt, ist hingegen eine Art psychische Leerstelle, ein spirituelles Unbehagen angesichts des nach wie vor und trotz enormer wissenschaftlicher Fortschritte weiterbestehenden und prinzipiell auch in der Thanatologie nicht auflösbaren Unwissens über das Leben nach dem Tode (und der Angst davor), ein Unbehagen, das viele in ostasiatische, kulturell jedoch nicht übertragbare Seelenwanderungsvorstellungen, Ersatzreligionen wie die Esoterik oder aber in fundamentalistisches Gedankengut fliehen lässt (auch in den USA). Der grundlegenden Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gibt und wie es aussieht, ob und wie bzw. nach welchen Kriterien die eigenen Taten möglicherweise dort bewertet werden, kann nun einmal kein Mensch ausweichen, denn das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die damit einhergehende Angst davor sind fundamentaler Bestandteil der menschlichen Selbsterkenntnis, wie bereits die Genesis berichtet und wie sie letztlich zur Entstehung von Glauben und Religionen mit ihren Heilsgewissheiten mit beigetragen haben dürfte.[336]
Diese Heilsgewissheit verleitet den islamischen Selbstmordattentäter, den Schahid, zu seiner mörderischen Tat im Glauben, ihm werde so als Märtyrer jegliches Totengericht erspart[169] und sein Weg führe ihn wie auch seine islamischen Opfer, die in diesem Sinne ebenfalls als Märtyrer gelten, direkt und ohne Zwischenschaltung des im Islam ja besonders strengen Totengerichtes ins Paradies.
Für den „aufgeklärten“ Menschen des Westens mit seiner äußerlich zur Schau gestellten Angst vor dem Altern und Sterben, aber Verdrängung des Todes und des Danach aber gilt wohl Ernst Blochs Diktum:[337]
„Wir sagen aber auch, dass der Tod (unbekannt, wie lange noch) nur deshalb so gut verdrängt werden kann, weil hinter ihm einmal neues Leben versteckt worden, das heißt ausgeträumt und hineingeglaubt worden war. So wird es unwahrscheinlich, dass die kreatürliche Todesangst spätbürgerlich bloß durch Wegblicken beseitigt worden ist. Oberflächlichkeit allein ist keine Befreiung, und Verdrängung allein gibt nicht das Gefühl eines Siegs. Es wird wahrscheinlich, dass das heutige Geschlecht, indem es ohne Todesfurcht lebt, vergangenen Glauben beleiht, auch von völlig ungedeckten Schecks lebt.“
– Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung
Zusammenfassung der wesentlichen Strukturelemente
Fasst man den Begriff des Totengerichts samt dem damit zusammenhängenden Komplex von Diesseits und Jenseits sowie seine Stellung innerhalb dieses metaphysischen Raumes weit genug, lassen sich anhand der oben im Einzelnen geschilderten Fakten folgende allgemeine Charakteristika feststellen:
Die Vorstellung von einem Totengericht enthält wesensmäßig Heils- bzw. Erlösungsversprechen und gewöhnlich entsprechende Verdammungsurteile mit Strafzumessungen unterschiedlicher Schweregrade und Dauer in bestimmten, dafür jeweils vorgesehenen metaphysischen Regionen.
Die für ein Totengericht wesentlichen Kriterien und Auswahlmechanismen waren zu Beginn der Religionsgeschichte nicht so sehr ethisch bestimmt, sondern vielmehr gesellschaftlich, sozial sowie auch statusbedingt, oder sie orientierten sich an der Todesursache und ähnlichen vergleichbaren Motiven. Erst relativ spät basieren sie auf dem moralisch interpretierten Vergeltungsprinzip.
Ein Totengericht fand ursprünglich stets nach dem Tode im wie immer gearteten Jenseits statt, wurde später aber auch, da machtpolitisch sinnvoll, zumindest teilweise ins Diesseits verlagert und/oder mit diesseitigen Eschatologien verbunden.
Ein Totengericht war meist institutionell strukturiert als formeller Gerichtshof mit Angeklagten, Zeugen, Anklägern und Richtern, eventuell sogar Protokollanten. In den ostasiatischen Religionen vor allem findet sich jedoch auch die Form des systemimmanenten Totengerichtes, das keiner Institutionalisierung bedarf, da es wesensmäßig im Rahmen der Seelenwanderung bereits angelegt ist. Meist wurden diese Formen dann aber noch durch Institutionalisierungen ergänzt, etwa im Buddhismus, wo es jedoch als Teil des karmischen Erkenntnisprozesses und nicht als primäres Entsühnungsinstrument wie im Hinduismus fungiert, während es im Daoismus-Konfuzianismus wiederum autonomer und regelrecht bürokratischer Teil der Unterwelt ist und zunächst lediglich die Taten dort sanktioniert, erst später im Rahmen synkretistischer Vorgänge zwischen Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus auch ethische Wertigkeiten integriert.
Hauptmotive für die Entstehung eines Totengerichtes waren Furcht vor dem Tod und die Hoffnung auf ein möglichst günstiges Schicksal danach. Ausgelöst wurde dieser Glaube vermutlich durch die Entstehung differenzierter, geschichteter Gesellschaften, in denen die Machtpotentiale immer unterschiedlicher verteilt waren und Instrumente nötig wurden, diese auch außerhalb des reinen Gewaltmonopols auf psychischer Ebene durch transzendente Straf- bzw. Belohnungselemente im Sinne von Furcht und Hoffnung stabil zu halten, was ein rein schamanischer Ahnenkult mit seiner nicht strafbewehrten Seelenwelt jedoch nicht mehr leisten konnte. Inwieweit dabei Klassenkampfmerkmale eine Rolle spielten, wie die marxistische Geschichts- und Religionsforschung postuliert, ist strittig.
Es finden sich vor allem im historischen Längsschnitt häufig Übergänge und Mischformen zwischen den einzelnen Formen des Totengerichts, etwa in den chinesischen Religionen, im Buddhismus und Hinduismus, aber auch im Judentum, Christentum und Islam.
Insgesamt fällt auf, dass der Schamanismus und andere frühe Religionsformen eine ausgeprägte Ahnenverehrung kennen, jedoch kein Totengericht. Wird diese Ahnenverehrung schwächer oder existiert nicht mehr, bilden sich neben ausgeprägten Göttervorstellungen und häufig in Verbindung mit Vegetationskulten auch Konzepte einer düsteren Unterwelt heraus. Entsprechend der diesseitigen gesellschaftlichen Schichtung entwickelt sich eine Differenzierung der Toten, die schließlich zu Paradiesvorstellungen führt, zunächst nur für die führenden Schichten, später auf immer breiterer Basis. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, eine selektierende Zwischeninstanz zu etablieren. Sie trägt den immer mächtiger werdenden ethischen Forderungen der Gottheiten Rechnung und löst so den alten, ethisch indifferenten Ahnenkult nach und nach ab. In den östlichen Religionen mit ausgeprägter Seelenwanderungslehre entwickeln sich auf der Grundlage der Vorstellung, dass das Böse ins Gesetz des Karma eingebettet ist,[338] entsprechende innere Mechanismen, die einem Totengericht entsprechen.
Die Totengerichtsvorstellungen sind häufig von entsprechenden eschatologischen Konzepten begleitet, entweder von linearen wie in den monotheistischen Religionen, oder zyklischen wie zum Beispiel in Mittelamerika und teilweise im Hinduismus.
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
Alle drei geistig ja eng miteinander verbundenen ideologischen Richtungen stehen der durchaus auch als gefährliche Konkurrenz empfundenen Religion außerordentlich kritisch, ja ablehnend gegenüber, und zwar nicht nur hinsichtlich des Machtaspektes, sondern auch in Bezug auf metaphysische, vor allem teleologische Inhalte.[323] Der Kommunismus etwa hat das an sich eschatologische und vor allem im Leninismus und Stalinismus propagandistisch überhöhte teleologische Konzept des „Paradieses der Werktätigen“ entwickelt, das durchaus heilsgeschichtliche Bezüge aufweist und die Entwicklung der Gesellschaft von der paradiesischen Urgemeinschaft über Sklavenhaltergesellschaften und Kapitalismus bis hin zum paradiesischen Kommunismus als eine notwendige Folge von gesellschaftlichen „Sündenfällen“ beschreibt, wie Karl Marx es in seiner Geschichtsphilosophie darstellte,[324][325] wobei ganz offensichtlich messianische Züge auftreten. Der marxistische Ethnologe und Religionswissenschaftler S. A. Tokarew schrieb dazu in seiner Religionsgeschichte einleitend und wenn auch nicht expressis verbis durchaus auf Ideen wie das Totengericht bezogen:[326]
„Die Religion ist eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, eine Form der Ideologie. Jede Ideologie aber widerspiegelt letztlich das materielle Sein des Menschen, die ökonomische Struktur der Gesellschaft, und insofern kann man die Religion unter dem gleichen Gesichtspunkt betrachten wie etwa Philosophie, Moral, Recht oder Kunst. Aber die Religion nimmt unter diesen Formen der Ideologie eine Sonderstellung ein. Friedrich Engels sagte im ‚Anti-Dühring‘ im Hinblick auf das Wesen der religiösen Weltauffassung: ‚Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen.‘ (Aus: K. Marx/F. Engels: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 378.) Die Religion ist ein verzerrtes Bewusstsein, eine verzerrte Widerspiegelung der wirklichen Welt. Das ist ihr erstes charakteristisches Merkmal. Als ‚Widerschein der wirklichen Welt‘ (Marx) reproduziert die Religion jedoch in verzerrter Form die irdische Grundlage. Daher muss man, um eine bestimmte Form der Religion zu verstehen, von der irdischen Grundlage ausgehen, deren verkehrte Widerspiegelung die betreffende Religion ist.“
– S. A. Tokarew: Die Religion in der Geschichte der Völker
Alle drei atheistischen Ideologien haben kaum Interesse für religiöse Fragen gezeigt, außer dass sie Religion als Unterdrückungsinstrument im Sinne von Marx und Engels ablehnten (Marx nannte Religion ja „Opium des Volkes)“. Erst in ihren späteren totalitären Ausprägungen hat vor allem der Bolschewismus in der Sowjetunion und den von ihr nach und nach beherrschten oder beeinflussten Regionen (z. B. China, Nordkorea, Ostblock) die nicht zu leugnenden Vorteile von totengerichtsähnlichen Institutionen und Höllen bzw. die Furcht davor für die Machtsicherung erkannt. Er und seine Nachahmer folgen damit aber in der Praxis nicht nur totalitären Handlungsmustern, sondern auch den klassischen religiösen Vorbildern, die sie theoretisch so strikt ablehnten. Sie belegten damit gleichzeitig die Nützlichkeit solcher metaphysischen Institute, wobei das alte Instrument der Todesstrafe nun wie auch im Faschismus zu einer ständigen Drohung anwuchs (1945 wurde sie im Deutschen Reich für 46 Delikte verhängt, konnte aber seit 1940 grundsätzlich für alle Delikte verhängt werden, wenn das „gesunde Volksempfinden“ dies erforderte). Die normale individuelle menschliche Furcht vor dem Tod wurde so als Todesfurcht für die Gesamtgesellschaft instrumentalisiert und erhielt dabei eine metaphysische Tendenz in dem Sinne, dass jeder, der dem idealen Endziel, ob nun gesellschaftlich, ökonomisch, territorial oder rassistisch im Wege stand, im Interesse der Gesamtidee zu vernichten sei.[327] Die sowjetischen Schauprozesse vor allem der 1930er, die man wie die ähnlichen Prozesse vor dem NS-Volksgerichtshof durchaus auch als diesseitige Totengerichtsverfahren interpretieren kann, da ihre Urteile von der höchsten Gewalt, nämlich Stalin, vorgegeben waren und regelmäßig in die Hölle der Gulags führten oder in Todesurteilen endeten, hatten vor allem den Zweck, dies dem gesamten Volk klarzumachen.[328]
Faschismus
Hitler beim Reichsparteitag von 1936 in Nürnberg als sakralisierte Figur unter dem von Albert Speer konzipierten Lichtdom, der ihm eine himmlische Aura verlieh; hinter ihm sein Stellvertreter Rudolf Heß, links neben ihm der Reichsorganisationsleiter Robert Ley
Der europäische Faschismus,[329] soweit er sich nicht wie in Spanien (etwa im Opus Dei) oder Italien der Kirchen in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus bediente und auf die tiefe Verwurzelung religiöser Vorstellungen Rücksicht nahm oder sie benutzte, übertrug die in der christlichen Religion enthaltenen Heilserwartungen auf die eigene Ideologie und richtete sie wie im Kommunismus auf das Endziel einer klassenlosen Gesellschaft aus, in diesem Fall mit einem stark rassistischen, vor allem antisemitischen Impuls.
Entsprechend enthielt er durchaus manichäische und chiliastische Erwartungen, die vor allem im Nationalsozialismus im Begriff des Tausendjährigen Reiches zum Ausdruck kamen, ein aus der mittelalterlichen Heilserwartung übernommener, von Hitler allerdings bereits 1934 abgelehnter Begriff.[330] Dennoch enthielt der Nationalsozialismus durchaus Komponenten eines als befreiende Heilstat verstandenen Gottesgerichtes (Endlösung, Endsieg, Volksgerichtshof usw.), das aber nun auf die Regimegegner, Feinde und unter rassischen Gesichtspunkten vor allem die Juden zielte und durchaus grauenhafte Realität wurde, indes Teile der Partei versuchten (vor allem Kreise um Heinrich Himmler, der sich mit der Wewelsburg ein eigenes mythologisches Zentrum schuf), Mythologie und Rituale der alten Germanen wieder zum Leben zu erwecken (z. B. Ahnenerbe). Der hier agierende Gott und Erlöser war allerdings nun mehr und mehr der „Führer“ Hitler selbst, und zahlreiche Zitate belegen diese für die Juden endzeitlichen Ankündigungen einer Vernichtung, nach der ein die Welt beherrschendes Deutsches Reich aus germanischen Übermenschen entstehen würde, wie dies bereits von Alfred Rosenberg in seinem 1930 erschienenen Mythus des 20. Jahrhunderts postuliert worden war, das vor allem in seinem dritten Teil durchaus eschatologische Züge aufweist. „Die Religion ist der archimedische Punkt der völkischen Weltanschauung. Sie lieferte nicht nur die Rechtfertigung der ebenso apokalyptischen wie fanatisch befolgten völkischen Erlösungslehre, sie gab den Völkischen überhaupt erst die Begründung für ihr antiegalitäres, rassistisches Denkgebäude, das in seinem Wesenskern davon ausging, ‚dass aus deutschem Blute das Heil der Welt komme‘ (Ernst Hunkel).“ … „Religion und Religiosität galten als Treibfeder jedweden Denkens und Handelns im völkischen Geist… In scharfem Widerspruch zur christlichen Lehre war die völkische ‚arteigene‘ Religion von dieser Welt, sie war auf das Diesseits und auf die alles Sein bestimmende Rasse ausgerichtet.“ … „Vorbedingung für die Germanisierung war die – so bezeichnete – ‚Entjudung des Christentums‘ (Alfred Heil).“[331] Gleichzeitig entwickelte der Nationalsozialismus im Dritten Reich (eine ja schon fast eschatologische Bezeichnung) einen regelrechten Totenkult. Vor dem Kriege wurden die im Kampf für die Partei Gefallenen als „Blutzeugen“ verklärt (der bekannteste Fall ist Horst Wessel), insbesondere die Toten des Hitler-Putsches von 1923. Später wurde während des Krieges der Kult auf alle Gefallenen ausgedehnt. Der Tod im Totenkult stellte dabei eine Initiation ins Heldentum und ins ewige Leben dar, bedeutete aber auch ein freiwilliges Opfer für die Volksgemeinschaft, so dass dem Opfertod nachträglich ein Sinn verliehen wurde.[332]
Kapitalismus und Imperialismus
Max Weber hat in seiner vor allem auf den Calvinismus bzw. Pietismus zielenden Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ aus dem Jahre 1904/05 die Beziehungen des Kapitalismus zum Protestantismus dargestellt. Zwei Zitate mögen genügen:[333]
„Die Mahnung des Apostels (Anm.: Paulus) zum ‚Festmachen‘ der eigenen Berufung wird hier als Pflicht, im täglichen Kampf sich die subjektive Gewissheit der eigenen Erwähltheit und Rechtfertigung zu erringen, gedeutet. An Stelle der demütigen Sünder, denen Luther, wenn sie in reuigem Glauben sich Gott anvertrauen, die Gnade verheißt, werden so jene selbstgewissen ‚Heiligen‘ gezüchtet, die wir in den stahlharten puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus und in einzelnen Exemplaren bis in die Gegenwart wiederfinden. Und andererseits wurde, um jene Selbstgewißheit zu erlangen, als hervorragendes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Sie und sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes.“
– Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“
„Jenes religiös geforderte, vom natürlichen Leben verschiedene Sonderleben des Heiligen spielte sich – das ist das Entscheidende – nicht mehr außerhalb der Welt in Mönchsgemeinschaften, sondern innerhalb der Welt und ihrer Ordnungen ab. Diese Rationalisierung der Lebensführung innerhalb der Welt im Hinblick auf das Jenseits war die Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus.“
– Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“
Insbesondere dieser durch asketische Lebensführung bestimmte Calvinismus vollzieht damit eine Wendung vom jenseitigen Totengericht zum vorauseilend diesseitigen, erfolgsabhängigen „Bonus“, denn hier wird das Ergebnis des Totengerichtes als Heilsgewissheit bereits am Erfolg diesseitiger, vor allem wirtschaftlicher Tätigkeit abgelesen und als rein menschliche Wertung vorweggenommen, aber nicht mehr wie noch bei Luther in der augustinischen Rechtfertigungslehre dem unerforschlichen göttlichen Gnadenwillen nach dem Tode anheimgestellt. Daraus erklären sich zwanglos die Gesetzlichkeiten des westlichen Kolonialismus und Imperialismus bis hin zur Globalisierung, wenn auch zunehmend ohne Askese, es sei denn in der modernen egoistischen, rein erfolgsorientierten Askese von Investmentbankern mit 18-Stunden-Tag. Die bereits von Las Casas bestrittene Rechtfertigung des damaligen Kolonialismus und seiner Gräuel wurde schon seit der spanischen Eroberung der Neuen Welt und ihrer mit Völkermord unter dem Zeichen des Kreuzes einhergehenden exzessiven Sklaverei als Dienst an Gott und Beweis göttlicher Gnade angesehen (die Eingeborenen wurden nicht als Menschen betrachtet).[334] In diesen und späteren Fällen, insbesondere bis heute im angelsächsischen Raum, wurde und wird Erfolg somit als Resultat eines ins Weltliche vorgezogenen göttlichen Gnadenurteils gedeutet, nicht unähnlich mancher mittelalterlicher Vorstellungen der Käuflichkeit eines Totengerichtes.
In der vor allem westlichen Moderne sind also die klassischen metaphysischen Vorstellungen vom Totengericht inzwischen selbst innerhalb der Religionen oft obsolet und wurden entweder durch atheistische Ablehnung, agnostische Neutralität, religiöse Gleichgültigkeit oder materielle Transformation ins Diesseits im Sinne einer „Heils-Antizipation“[335] ersetzt, in diesem Falle als Vorwegnahme des hier ausschließlich am weltlichen Erfolg orientierten göttlichen Gnadenwillens, wie ihn der Pietismus/Calvinismus interpretiert, oder wie bereits in der Barockfrömmigkeit in einer stark figurativen Veräußerlichung von Glaubensinhalten.
Was bleibt, ist hingegen eine Art psychische Leerstelle, ein spirituelles Unbehagen angesichts des nach wie vor und trotz enormer wissenschaftlicher Fortschritte weiterbestehenden und prinzipiell auch in der Thanatologie nicht auflösbaren Unwissens über das Leben nach dem Tode (und der Angst davor), ein Unbehagen, das viele in ostasiatische, kulturell jedoch nicht übertragbare Seelenwanderungsvorstellungen, Ersatzreligionen wie die Esoterik oder aber in fundamentalistisches Gedankengut fliehen lässt (auch in den USA). Der grundlegenden Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gibt und wie es aussieht, ob und wie bzw. nach welchen Kriterien die eigenen Taten möglicherweise dort bewertet werden, kann nun einmal kein Mensch ausweichen, denn das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die damit einhergehende Angst davor sind fundamentaler Bestandteil der menschlichen Selbsterkenntnis, wie bereits die Genesis berichtet und wie sie letztlich zur Entstehung von Glauben und Religionen mit ihren Heilsgewissheiten mit beigetragen haben dürfte.[336]
Diese Heilsgewissheit verleitet den islamischen Selbstmordattentäter, den Schahid, zu seiner mörderischen Tat im Glauben, ihm werde so als Märtyrer jegliches Totengericht erspart[169] und sein Weg führe ihn wie auch seine islamischen Opfer, die in diesem Sinne ebenfalls als Märtyrer gelten, direkt und ohne Zwischenschaltung des im Islam ja besonders strengen Totengerichtes ins Paradies.
Für den „aufgeklärten“ Menschen des Westens mit seiner äußerlich zur Schau gestellten Angst vor dem Altern und Sterben, aber Verdrängung des Todes und des Danach aber gilt wohl Ernst Blochs Diktum:[337]
„Wir sagen aber auch, dass der Tod (unbekannt, wie lange noch) nur deshalb so gut verdrängt werden kann, weil hinter ihm einmal neues Leben versteckt worden, das heißt ausgeträumt und hineingeglaubt worden war. So wird es unwahrscheinlich, dass die kreatürliche Todesangst spätbürgerlich bloß durch Wegblicken beseitigt worden ist. Oberflächlichkeit allein ist keine Befreiung, und Verdrängung allein gibt nicht das Gefühl eines Siegs. Es wird wahrscheinlich, dass das heutige Geschlecht, indem es ohne Todesfurcht lebt, vergangenen Glauben beleiht, auch von völlig ungedeckten Schecks lebt.“
– Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung
Zusammenfassung der wesentlichen Strukturelemente
Fasst man den Begriff des Totengerichts samt dem damit zusammenhängenden Komplex von Diesseits und Jenseits sowie seine Stellung innerhalb dieses metaphysischen Raumes weit genug, lassen sich anhand der oben im Einzelnen geschilderten Fakten folgende allgemeine Charakteristika feststellen:
Die Vorstellung von einem Totengericht enthält wesensmäßig Heils- bzw. Erlösungsversprechen und gewöhnlich entsprechende Verdammungsurteile mit Strafzumessungen unterschiedlicher Schweregrade und Dauer in bestimmten, dafür jeweils vorgesehenen metaphysischen Regionen.
Die für ein Totengericht wesentlichen Kriterien und Auswahlmechanismen waren zu Beginn der Religionsgeschichte nicht so sehr ethisch bestimmt, sondern vielmehr gesellschaftlich, sozial sowie auch statusbedingt, oder sie orientierten sich an der Todesursache und ähnlichen vergleichbaren Motiven. Erst relativ spät basieren sie auf dem moralisch interpretierten Vergeltungsprinzip.
Ein Totengericht fand ursprünglich stets nach dem Tode im wie immer gearteten Jenseits statt, wurde später aber auch, da machtpolitisch sinnvoll, zumindest teilweise ins Diesseits verlagert und/oder mit diesseitigen Eschatologien verbunden.
Ein Totengericht war meist institutionell strukturiert als formeller Gerichtshof mit Angeklagten, Zeugen, Anklägern und Richtern, eventuell sogar Protokollanten. In den ostasiatischen Religionen vor allem findet sich jedoch auch die Form des systemimmanenten Totengerichtes, das keiner Institutionalisierung bedarf, da es wesensmäßig im Rahmen der Seelenwanderung bereits angelegt ist. Meist wurden diese Formen dann aber noch durch Institutionalisierungen ergänzt, etwa im Buddhismus, wo es jedoch als Teil des karmischen Erkenntnisprozesses und nicht als primäres Entsühnungsinstrument wie im Hinduismus fungiert, während es im Daoismus-Konfuzianismus wiederum autonomer und regelrecht bürokratischer Teil der Unterwelt ist und zunächst lediglich die Taten dort sanktioniert, erst später im Rahmen synkretistischer Vorgänge zwischen Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus auch ethische Wertigkeiten integriert.
Hauptmotive für die Entstehung eines Totengerichtes waren Furcht vor dem Tod und die Hoffnung auf ein möglichst günstiges Schicksal danach. Ausgelöst wurde dieser Glaube vermutlich durch die Entstehung differenzierter, geschichteter Gesellschaften, in denen die Machtpotentiale immer unterschiedlicher verteilt waren und Instrumente nötig wurden, diese auch außerhalb des reinen Gewaltmonopols auf psychischer Ebene durch transzendente Straf- bzw. Belohnungselemente im Sinne von Furcht und Hoffnung stabil zu halten, was ein rein schamanischer Ahnenkult mit seiner nicht strafbewehrten Seelenwelt jedoch nicht mehr leisten konnte. Inwieweit dabei Klassenkampfmerkmale eine Rolle spielten, wie die marxistische Geschichts- und Religionsforschung postuliert, ist strittig.
Es finden sich vor allem im historischen Längsschnitt häufig Übergänge und Mischformen zwischen den einzelnen Formen des Totengerichts, etwa in den chinesischen Religionen, im Buddhismus und Hinduismus, aber auch im Judentum, Christentum und Islam.
Insgesamt fällt auf, dass der Schamanismus und andere frühe Religionsformen eine ausgeprägte Ahnenverehrung kennen, jedoch kein Totengericht. Wird diese Ahnenverehrung schwächer oder existiert nicht mehr, bilden sich neben ausgeprägten Göttervorstellungen und häufig in Verbindung mit Vegetationskulten auch Konzepte einer düsteren Unterwelt heraus. Entsprechend der diesseitigen gesellschaftlichen Schichtung entwickelt sich eine Differenzierung der Toten, die schließlich zu Paradiesvorstellungen führt, zunächst nur für die führenden Schichten, später auf immer breiterer Basis. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, eine selektierende Zwischeninstanz zu etablieren. Sie trägt den immer mächtiger werdenden ethischen Forderungen der Gottheiten Rechnung und löst so den alten, ethisch indifferenten Ahnenkult nach und nach ab. In den östlichen Religionen mit ausgeprägter Seelenwanderungslehre entwickeln sich auf der Grundlage der Vorstellung, dass das Böse ins Gesetz des Karma eingebettet ist,[338] entsprechende innere Mechanismen, die einem Totengericht entsprechen.
Die Totengerichtsvorstellungen sind häufig von entsprechenden eschatologischen Konzepten begleitet, entweder von linearen wie in den monotheistischen Religionen, oder zyklischen wie zum Beispiel in Mittelamerika und teilweise im Hinduismus.
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
Andy- Admin
- Anzahl der Beiträge : 36197
Anmeldedatum : 03.04.11
Seite 1 von 1
Befugnisse in diesem Forum
Sie können in diesem Forum nicht antworten
So Nov 17, 2024 4:25 am von Andy
» END OF GREEN
So Nov 17, 2024 4:21 am von Andy
» zozyblue
So Nov 17, 2024 4:18 am von Andy
» MAGNUM
So Nov 17, 2024 4:14 am von Andy
» Natasha Bedingfield
So Nov 17, 2024 4:12 am von Andy
» ... TRAKTOR ...
So Nov 17, 2024 4:10 am von Andy
» = Azillis =
So Nov 17, 2024 4:07 am von Andy
» Alice Cooper
So Nov 17, 2024 4:04 am von Andy
» Art of Trance
So Nov 17, 2024 4:02 am von Andy