* Sufismus *
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* Sufismus *
Sufismus (arabisch تَصَوُّف tasawwuf, DMG taṣawwuf), Sufiya (arabisch صُوفِيَّة sufiya, DMG ṣūfīya), veraltet auch Sufitum oder Sufik, bezeichnete bis zum 9. Jahrhundert eine asketische Randgruppe. Sufismus wird seither als Sammelbezeichnung für Strömungen im Islam verwendet, die asketische Tendenzen und eine spirituelle Orientierung prägen, die oft mit dem Wort Mystik bezeichnet wird. Im 12. Jahrhundert bildeten sich Sufi-Orden aus, die auch religionspolitische Funktionen tragen, darunter Organisation der Volksfrömmigkeit und Mission.[1] Einen Anhänger des Sufismus nennt man Sufi (arabisch صُوفِيّ, DMG Ṣūfī) oder auch Derwisch (persisch دَرویش darwīsch). Spätestens mit der Organisation in Orden ist eine Identifikation von Mystik und Sufismus problematisch, da sich ersteres meist auf einen spezifischen Typus von Spiritualität bezieht, letzteres nun aber auch auf Institutionen. Den Begriffen sufiya und tasawwuf gegenüber steht der Ausdruck ‘irfān (arabisch عِرْفَان), wörtlich Gnosis, in der Bedeutung „Mystik“. Das Wort Sufismus wird in Europa erst seit dem 19. Jahrhundert verwendet.[2]
Für die Ausarbeitung ihrer praktischen und theoretischen Lehren beziehen sich Klassiker des Sufismus auf einen „inneren Sinn“ (arabisch بَاطِن batin, DMG bāṭin) des Korans und insbesondere auf Verse, welche sich auf eine individuelle Beziehung oder Unmittelbarkeit zu Gott beziehen lassen, sowie auf Traditionen (arabisch سُنَّة, Pl. سُنَن sunan, DMG sunan ‚Brauch, gewohnte Handlungsweise, überlieferte Norm‘) und Vita von Mohammed, die in diesem Sinne als Vorbild gedeutet werden. Seit dem 10. Jh. werden systematische Handbücher zum spirituellen Weg des Sufi ausgearbeitet, welche die Nähe zum orthodoxen Sunnitentum betonen. Für die systematische Ausformulierung von Theologie und Epistemologie wurden Philosophen und Theologen wie Ghazali, Suhrawardi und Ibn Arabi prägend.
Entwicklung
Der Sufismus wird manchmal mit dem Gnostizismus in Verbindung gebracht, wobei die Sufis eigentlich unabhängig von einer Religionszugehörigkeit sind und diese Bewegung schon weitaus älter ist als der geschichtliche Islam. Die Sufis selbst betonen jedoch, dass sich der Sufismus zu seiner vollen Blüte erst ab dem Auftreten des Propheten Mohammed entwickelt habe, und dass der Islam die geeignetsten metaphysischen Instrumente für die geistige und seelische Entwicklung des Menschen bereithalte.
Frühe Sufis
Die ersten Sufis soll es nach muslimischer Überlieferung schon zu Lebzeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert gegeben haben. Sie sollen oft als einzelne Asketen gelebt haben. Als bekanntester unter ihnen gilt Uwais al-Qarani aus dem Jemen, der als Einsiedler in der Wüste lebte. Auf ihn soll der nach eigenem Anspruch älteste islamische Sufiorden Maktab Tarighat Oveyssi zurückgehen.
Ein sehr einflussreicher früher Sufi war der Asket Hasan al-Basri (642–728). Seine Vorstellung von einem spirituellen Leben waren: wenig Schlaf, sich weder über Hitze noch über Kälte zu beklagen, keinen festen Wohnsitz zu haben und stets zu fasten. Ebenfalls in der Stadt Basra (im heutigen Irak) lebte und wirkte Rabia al-Adawiyya (714 oder 717/718–801), eine der bedeutendsten weiblichen Sufi-Heiligen. Es wird angenommen, dass sie nie einen Lehrer hatte, und sie wird als eine „trunkene Gottesliebende“ bezeichnet, die als eine strenge Asketin lebte: zum Trinken und für ihre rituellen Waschungen soll sie einen zerbrochenen Krug, eine alte Schilfrohrmatte zum Liegen und einen Flussstein als Kopfkissen verwendet haben.
Sufis des 9. und 10. Jahrhunderts
Im 9. Jahrhundert war Dhu'n-Nun al-Misri (gestorben 859) einer der ersten Sufis, der eine Theorie über „Fana“ (arab. für Auflösung) und „Baqa“ (arab. für Bestehen) entwickelte, eine Lehre über die Vernichtung bzw. Auflösung des Selbst (nafs). Außerdem formulierte er die Theorie von Ma'rifa (intuitive Gotteserkenntnis). Durch seine poetischen Gebete führte er einen neuen Stil in die ernste und asketische Frömmigkeit der damaligen Sufis ein. Er vernahm – dem koranischen Wort getreu – aus allem Geschaffenen den Lobpreis Gottes und beeinflusste so die späteren Naturschilderungen persischer und türkischer Sufis.
Bayazid Bistami (803–875), aus Bistam im heutigen Iran, hielt vor allem die Liebe für das Wichtigste, um die Einheit mit Gott zu erreichen. Darüber hinaus erlangte er den Zustand von absolutem Einssein mit dem Schöpfer durch strenge Selbstkasteiung und Entbehrungen. Andererseits war ihm jedoch bewusst, dass er paradoxerweise alle seine Bemühungen aufgeben musste, denn er sagte, er erreiche Gott nur allein mit Gottes Hilfe. Er legte seinen Schülern nahe, ihre Angelegenheiten in die Hände Gottes zu geben, und er ermutigte sie, die reine Lehre der Einheit Gottes zu akzeptieren. Diese Lehre bestand aus fünf Merkmalen: die Verpflichtungen entsprechend dem Koran und der Sunna einzuhalten, immer die Wahrheit zu sprechen, das Herz frei von Hass zu halten und verbotene Nahrung und Erneuerungen zu meiden.
Einen eher nüchternen Weg des Sufismus vertrat Dschunaid (gest. 910) aus Bagdad, welches zur damaligen Zeit als ein religiöses und spirituelles Zentrum galt. Er hatte durch seine Lehre einen großen Einfluss auf spätere Sufis, er betonte die Liebe, die Vereinigung und die Übergabe des individuellen Willens an den Willen Gottes. Zur damaligen Zeit betrachtete die islamische Orthodoxie bereits die Aktivitäten der Sufis mit wachsendem Misstrauen, aus diesem Grund lehnte Dschunaid seinen Schüler Mansur al-Halladsch (858–922), ebenfalls ein Perser, ab, der die Geheimnisse des Sufipfades in aller Öffentlichkeit aussprach. Von diesem stammt einer der bekanntesten Aussprüche eines Sufis: „ana al-Haqq“. Dieser Ausspruch lautet übersetzt „Ich bin die Wahrheit“, wobei Haqq nicht nur Wahrheit bedeutet, sondern auch einer der Namen Gottes ist. Somit kann man auch übersetzen: „Ich bin Gott“. Dies und sein provokantes Auftreten waren einige der Gründe, warum al-Halladsch schließlich als erster Sufi-Märtyrer hingerichtet worden ist. Neben anderen Sufis hat wohl Rumi am besten zum Ausdruck gebracht, dass „ana al-Haqq“ die konsequenteste Auslegung von der Einheit Gottes ist. Hätte al-Halladsch gesagt „Er ist Gott“, dann hätte dies zwangsläufig zu einer Dualität geführt, da es dann nicht nur Gott, sondern auch einen zweiten gegeben hätte, nämlich al-Halladsch, der dies äußert.
Al-Ghazali (1058–1111)
Ein wichtiger Vertreter des Sufismus ist al-Ghazali (* um 1058, gest. 1111), auch er ein Perser, der einer der ersten war, der seine Ideen zu einem mystischen System ordnete. Dieser größte sunnitische Theologe gliederte das System der gemäßigten Mystik des Sufismus in den orthodoxen Islam ein. Der ursprüngliche Rechtsgelehrte erkannte eines Tages, dass er nur durch eine der Welt entsagende Lebensweise wirklich zu Gott finden könne. Er gab deshalb seinen Lehrstuhl an der Universität in Bagdad auf, um als wandernder Derwisch viele Jahre in der Abgeschiedenheit zu verbringen. Er hinterließ der Welt zahlreiche religiöse und spirituelle Schriften und schaffte es sogar, für eine Zeit lang die Orthodoxie mit dem Sufismus ein wenig zu versöhnen und beide Systeme aneinander anzunähern. Durch Abmilderung des radikalen Asketismus der frühen Sufis und Systematisierung des sufistischen Gedankenguts trug al-Ghazali maßgeblich zur allgemeinen Anerkennung des Sufismus im Islam bei. Er lehnte eine starre Dogmatik ab und lehrte den Weg zu einem Gottesbewusstsein, das aus dem Herzen entspringt. Ein zentraler Punkt bei al-Ghazali ist die Arbeit am „feinstofflichen Herzen“. Der Lehre al-Ghazalis gemäß besitzen die Menschen in ihrer Brust ein „feinstoffliches Herz“, das in der Welt der Engel beheimatet ist. Dieses Organ ist in der grobstofflichen Welt im Asyl und weist den Menschen den Weg ins Paradies zurück.
Sheikh Adi (1075–1162)
Ein bedeutender Sufi war Sheikh Adi (Şexadi, voller Name Adî Ibn-Musafîr, vermutlich 1075–1162), der den Sufismus über die Grenzen des Islams hinaus verbreitete. Wohl um konservativen Widersachern zu entfliehen gelangte er in die irakisch-kurdischen Berge und siedelte in Lalisch, einem alten Sonnentempel, der mehrfach zwischen Yeziden, Christen und Muslimen wechselte. Dort erfuhr er vom yezidischen Glauben und brachte sufistische Elemente in diesen ein. So gilt er heute als Reformer des Yezidentums und wird, obwohl eigentlich ein Moslem, heute von Yeziden als Heiliger verehrt. Lalish, der Ort an dem nach yezidischer Vorstellung die Erde fest wurde, ist heute yezidisches Heiligtum und Grabstätte des Şexadi. Da es aus der Zeit vor Şexadi praktisch keine schriftlichen Überlieferungen aus dem Yezidentum gibt, ist heute nur bekannt, dass der yezidische Glauben selbst viele mystische Elemente enthält und enthielt. Şexadis Vorstellungen ergänzten die ältere yezidische Religion und haben heute noch Bestand.
Ibn al-Arabi (1165–1240)
Ebenso bedeutend wie al-Ghazali ist Ibn Arabi (1165–1240), der etwa ein halbes Jahrhundert nach al-Ghazalis Tod in der spanischen Stadt Murcia geboren wurde. Ibn Arabi ist Autor etwa 500 wichtiger sufistischer Schriften; man sagt, er habe keinen spirituellen Lehrer gehabt, sondern sei von dem verborgenen Meister Khidr direkt in den mystischen Islam initiiert worden. Ibn Arabi wird auch als der „Sheikh al-akbar“ („der größte Sheikh“) bezeichnet, wobei seine Ideen über „wahdat al-wudschud“, der Einheit des Seins, schon vor ihm Teil der Sufi-Metaphysik war. Doch er formulierte diese Ideen als erster in schriftlicher Form, wodurch sie der Nachwelt und späteren Sufis gut erhalten blieben. Demnach hat Gott die ganze Welt als eine einzige zusammenhängende Einheit geschaffen, damit sie den höchsten Schöpfer preise und erkenne. In seinem Werk „Fusus Al-Hikam“ zeichnet Ibn-Arabi eine metaphysische Genealogie, in der die 28 namhaft im Koran erwähnten Propheten dazu beitragen, das mystische Bewusstsein der Menschen zu wecken. Dieser Gedanke wurde im 19. und 20. Jahrhundert von westlichen esoterischen Autoren wie Madame Blavatsky und Rudolf Steiner wieder aufgegriffen. Danach sind die bedeutenden Religionsgestalten der Menschen auch Lichtgestalten, die das Bewusstsein der Menschen formen.
Farid ad-Din Attar (1145/46–1221)
Das Mausoleum Farid ad-Din Attars in Nischapur, Iran
Die poetischen Werke Farid ad-Din Attars (Farīd ad-Dīn ʿAṭṭār) sind im Westen nicht sehr bekannt, doch nahmen sie über Jahrhunderte hinweg Einfluss auf Mystiker sowohl östlicher als auch westlicher Herkunft. Außerdem gilt Attar als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Sufismus. Er warf ein neues Licht auf die Lehre, indem er wie niemand vor ihm den Pfad mit der Kunst eines Geschichtenerzählers beschreibt.
Eines der berühmtesten seiner 114 Werke sind die „Vogelgespräche“ (Manṭiq aṭ-ṭair). Dieses Epos berichtet von dreißig Vögeln, die eine Reise durch sieben Täler zum Vogelkönig, dem Simurgh, unternehmen und schließlich in diesem ihre eigene Identität erkennen. Attar benutzt hier ein Wortspiel, da Simurgh nicht nur der Name eines dem Phönix ähnelnden Fabelwesens ist, sondern si murgh gelesen auch „dreißig Vögel“ bedeutet.[3]
Sufi-Ordensgemeinschaften
Es wird heutzutage von den meisten Historikern angenommen, dass die erste Sufi-Ordensgemeinschaft (Tariqa) im 12. Jahrhundert von Abd al-Qadir al-Dschilani (1088 oder 1077–1166) gegründet wurde, die deshalb auch den Namen Qadiri-Tariqa trägt. Kurz darauf entstanden die Yesevi- und die Rifai-Tariqa. Später entwickelten sich weitere Tariqas, von denen viele größtenteils noch heute existieren, einige jedoch nicht mehr im Blickpunkt des öffentlichen Lebens, wie die Schaʿrānī-Tariqa. Die Zentren bzw. Versammlungsorte der Orden nennt man Khanqah (persisch خانگاه chānegāh und خَانَقَاه chāneghāh), Dergah (persisch دَرْگَاه dargāh „Türschwelle“, „Palast“; osmanisch dergâh auch Derwischkonvent), Tekke (osmanisch تَكَّيَّه tekke, tekye) oder Zawiya (arabisch زَاوِيَة zāwiya pl. زَوَايَا zawāyā). Manchmal ist auch von Konventen oder Klöstern die Rede, man kann aber eine Tekke nicht mit der christlichen Vorstellung eines Klosters vergleichen.
Eine der bekanntesten Tariqas ist die der Mevlevis, die auf den Sufipoeten Dschalal ad-Din Rumi zurückgeht. Die meisten seiner Werke sind in persischer, manche aber auch in arabischer Sprache verfasst. Die Derwische dieses Ordens praktizieren den Dhikr mit religiöser Musik und drehen sich dabei um die eigene Achse. Dieses Ritual ist im Westen als „Derwischtanz“ (semā) oder „Tanz der drehenden Derwische“ bekannt.
Weitere überregionale Sufi-Orden neben den bereits genannten sind Naqschbandi, Bektaschi, Kubrawi, Suhrawardi, Chishti oder Halveti. Diese Orden sind darüber hinaus in zahlreiche Unterverzweigungen gegliedert und haben manchmal auch Überschneidungen untereinander (siehe auch: Liste der Sufi-Orden).
Der Sufismus ist in den Augen der Sufis immer lebendig geblieben und hat seine Dynamik bewahrt, weil er sich stets den Zeiten anpasst und sich dementsprechend wandelt. Gleichzeitig bleibt er aber der Essenz der Tradition treu, die die innere Ausrichtung des Herzens auf Gott sowie das Aufgeben des Ego ist. Da Gesellschaften und Kulturen sich ständig weiterentwickeln und verändern, antwortet auch der Sufismus äußerlich gesehen auf diese Veränderungen. Hierzu ein Zitat:
„Sufismus ist die alte Weisheit des Herzens. Er ist nicht durch Form, Zeit oder Raum begrenzt. Er war immer und wird immer sein.“
– Llewellyn Vaughan-Lee (* 1953)
Etymologie
Der Begriff Sufismus ist der Name einer alten Lehre, die sich in der heutigen Zeit hauptsächlich durch den Islam manifestiert. Das Wort Sufismus kam in einer Zeit auf, in der diese Lehre mit dieser Weltreligion verbunden war, die essentielle Lehre des Sufismus kann aber durch alle Religionen und Weltanschauungen über viele Jahrtausende zurückverfolgt werden.
Etymologisch ist unklar, ob das Wort Sufi von arabisch ṣūf صُوف – „Schurwolle“, das auf die wollenen Gewänder der Sufis hinweist, oder von ṣafā صفا – „rein sein“ stammt. „Rein“ meint in diesem Zusammenhang gereinigt von Unkenntnis bzw. Unwissenheit, Aberglauben, Dogmatismus, Egoismus und Fanatismus sowie frei von Beschränkungen durch die soziale Schicht, politische Überzeugung, Rasse oder Nation. Historisch wahrscheinlicher ist jedoch erstere Auslegung, da die Herleitung von „rein“ auch eine gewollte Interpretation darstellen könnte. Andere, vor allem westliche Vertreter eines „universellen Sufismus“, brachten das Wort Sufi mit dem griechischen Wort sophia („Weisheit“) oder mit dem hebräischen Wort aus der Kabbala En Sof („es hat kein Ende“) in Verbindung. Die Jüdische Enzyklopädie (Bd. XI, S. 579 ff.) betrachtet die Kabbala und die Chassidim, die jüdischen Mystiker, als aus dem Sufismus entstanden, bzw. als mit ihm identische Tradition. Der bedeutendste im Westen lebende Vertreter des Sufismus, Idries Shah, verweist hingegen auf die Schrift des Hujwiri die Offenbarung aus dem 11. Jahrhundert hin. In dieser frühesten verfügbaren Abhandlung über die Sufi-Tradition in persischer Sprache und gleichzeitig eine der maßgeblichen Sufi-Schriften wird erklärt, "dass das Wort Sufi keine Etymologie besitzt".[4]
Eine andere Erklärung bietet auch der Begriff ahl aṣ-ṣuffa, was „Leute der Veranda“ bedeutet, oder „ǧāma-i ṣūf“, was „wollenes Gewand“ heißt.[5] Dies bezieht sich auf die Gruppe von Personen, die sich zu Lebzeiten Mohammeds um den Propheten scharten und wahrscheinlich in Armut lebten. Es wird außerdem behauptet, dass das Wort Sufismus auf die Leute der ersten (Gebets-)Reihe (ṣaff-i avval) hindeuten kann.
Ergänzend zur Wortherkunft sei erwähnt, dass der Begriff Sufismus nicht von Anhängern dieser Lehre eingeführt wurde. Das Wort selbst ist ein aus Deutschland stammender Neologismus, der 1821 geprägt wurde.[6]. Vielmehr wurde er von Personen außerhalb dieser mystischen Strömung geprägt. Ein Sufi bezeichnet sich selbst in der Regel nicht als solcher, vielmehr verwenden Sufis für sich Bezeichnungen wie "Menschen der Wahrheit", "Meister", die "Nahen", „Suchende“, „Schüler“, „Reisende“ etc.
Lehre
Es gibt Sufi-Orden, die als sunnitisch oder schiitisch klassifiziert werden können, aber auch solche, die beiden, und andere, die keiner der beiden islamischen Richtungen zuzuordnen sind. Diese stellen einen separaten Bereich des muslimischen Glaubens dar und lehren meist einen „universellen Sufismus“. Die meisten Sufis bewegen sich aber innerhalb des orthodoxen Islams von Sunna und Schia und sind somit entweder Sunniten oder Schiiten, wobei die meisten Tariqas mit dem sunnitischen Islam in Verbindung gebracht werden (z. B. Naqshbandi, Qadiri) und nur wenige mit dem schiitischen.
Der Weg der Sufis folgt vier Stufen, deren Ausprägung auf den indischen Raum verweist; bis heute ist jedoch offen, wie und in welche Richtung diese Beeinflussung historisch verlief:
Auslöschen der sinnlichen Wahrnehmung
Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften
Sterben des Ego
Auflösung in das göttliche Prinzip
Das oberste Ziel der Sufis ist, Gott so nahe zu kommen wie möglich und dabei die eigenen Wünsche zurückzulassen. Dabei wird Gott bzw. die Wahrheit als „der Geliebte“ erfahren. Der Kern des Sufismus ist demnach die innere Beziehung zwischen dem „Liebenden“ (Sufi) und dem „Geliebten“ (Gott). Durch die Liebe wird der Sufi zu Gott geführt, wobei der Suchende danach strebt, die Wahrheit schon in diesem Leben zu erfahren und nicht erst auf das Jenseits zu warten. Dies spiegelt sich in dem Prinzip zu sterben, bevor man stirbt wider, das überall im Sufismus verfolgt wird. Hierzu versuchen die Sufis, die Triebe der niederen Seele bzw. des tyrannischen Ego (an-nafs al-ammara) so zu bekämpfen, dass sie in positive Eigenschaften umgeformt werden. Auf diese Weise kann man einzelne Stationen durchlaufen, deren höchste die reine Seele (an-nafs al-safiya) ist. Diese letzte Stufe bleibt jedoch ausschließlich den Propheten und den vollkommensten Heiligen vorbehalten.
Die mystische Gotteserfahrung ist der Zustand des Einsseins (tauhid) mit Gott, die sogenannte „unio mystica“.
Dazu ein Zitat von Abu Nasr as-Sarradsch, einem Zeitgenossen des islamischen Mystikers Dschunaid:
„Sufismus bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu werden.“
Oder eine etwas ausführlichere Beschreibung von Abu Sa’id:
„Sufismus ist Ruhm im Elend, Reichtum in der Armut, Herrschaft in Dienstbarkeit, Sättigung im Hunger, Leben im Tode und Süße in der Bitterkeit … Der Sufi ist der, der mit allem zufrieden ist, was Gott tut, so dass Gott mit allem zufrieden ist, was er tut.“
Ein wichtiger Aspekt der sufistischen Lehre ist außerdem, dass man die Wahrheit erfährt und nicht nur intellektuell erfasst. Gemäß dem Grundsatz „Den Glauben sieht man in den Taten“ ist es für die Sufis entscheidend, oft eher mit gutem Beispiel in der Welt aufzutreten als über den Glauben zu reden. Darüber hinaus ist „Aufrichtigkeit“ unentbehrlich, und man sollte versuchen, nach außen hin so rein zu werden, wie man es auch nach innen hin anstrebt.
Viele Sufis, so sie nicht Anhänger einer strengen Scharia sind, glauben, dass in allen Religionen eine grundlegende Wahrheit zu finden sei, und dass die großen Religionen von ihrem Wesen/Geist her dasselbe seien. Manche Sufis gehen deswegen sogar so weit, dass sie den Sufismus nicht innerhalb des Islams (also einer Religion) angesiedelt sehen, sondern meinen, dass die Mystik über der Religion stehe, ja diese sogar bedinge.
Weiter geht es in Teil 2
Für die Ausarbeitung ihrer praktischen und theoretischen Lehren beziehen sich Klassiker des Sufismus auf einen „inneren Sinn“ (arabisch بَاطِن batin, DMG bāṭin) des Korans und insbesondere auf Verse, welche sich auf eine individuelle Beziehung oder Unmittelbarkeit zu Gott beziehen lassen, sowie auf Traditionen (arabisch سُنَّة, Pl. سُنَن sunan, DMG sunan ‚Brauch, gewohnte Handlungsweise, überlieferte Norm‘) und Vita von Mohammed, die in diesem Sinne als Vorbild gedeutet werden. Seit dem 10. Jh. werden systematische Handbücher zum spirituellen Weg des Sufi ausgearbeitet, welche die Nähe zum orthodoxen Sunnitentum betonen. Für die systematische Ausformulierung von Theologie und Epistemologie wurden Philosophen und Theologen wie Ghazali, Suhrawardi und Ibn Arabi prägend.
Entwicklung
Der Sufismus wird manchmal mit dem Gnostizismus in Verbindung gebracht, wobei die Sufis eigentlich unabhängig von einer Religionszugehörigkeit sind und diese Bewegung schon weitaus älter ist als der geschichtliche Islam. Die Sufis selbst betonen jedoch, dass sich der Sufismus zu seiner vollen Blüte erst ab dem Auftreten des Propheten Mohammed entwickelt habe, und dass der Islam die geeignetsten metaphysischen Instrumente für die geistige und seelische Entwicklung des Menschen bereithalte.
Frühe Sufis
Die ersten Sufis soll es nach muslimischer Überlieferung schon zu Lebzeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert gegeben haben. Sie sollen oft als einzelne Asketen gelebt haben. Als bekanntester unter ihnen gilt Uwais al-Qarani aus dem Jemen, der als Einsiedler in der Wüste lebte. Auf ihn soll der nach eigenem Anspruch älteste islamische Sufiorden Maktab Tarighat Oveyssi zurückgehen.
Ein sehr einflussreicher früher Sufi war der Asket Hasan al-Basri (642–728). Seine Vorstellung von einem spirituellen Leben waren: wenig Schlaf, sich weder über Hitze noch über Kälte zu beklagen, keinen festen Wohnsitz zu haben und stets zu fasten. Ebenfalls in der Stadt Basra (im heutigen Irak) lebte und wirkte Rabia al-Adawiyya (714 oder 717/718–801), eine der bedeutendsten weiblichen Sufi-Heiligen. Es wird angenommen, dass sie nie einen Lehrer hatte, und sie wird als eine „trunkene Gottesliebende“ bezeichnet, die als eine strenge Asketin lebte: zum Trinken und für ihre rituellen Waschungen soll sie einen zerbrochenen Krug, eine alte Schilfrohrmatte zum Liegen und einen Flussstein als Kopfkissen verwendet haben.
Sufis des 9. und 10. Jahrhunderts
Im 9. Jahrhundert war Dhu'n-Nun al-Misri (gestorben 859) einer der ersten Sufis, der eine Theorie über „Fana“ (arab. für Auflösung) und „Baqa“ (arab. für Bestehen) entwickelte, eine Lehre über die Vernichtung bzw. Auflösung des Selbst (nafs). Außerdem formulierte er die Theorie von Ma'rifa (intuitive Gotteserkenntnis). Durch seine poetischen Gebete führte er einen neuen Stil in die ernste und asketische Frömmigkeit der damaligen Sufis ein. Er vernahm – dem koranischen Wort getreu – aus allem Geschaffenen den Lobpreis Gottes und beeinflusste so die späteren Naturschilderungen persischer und türkischer Sufis.
Bayazid Bistami (803–875), aus Bistam im heutigen Iran, hielt vor allem die Liebe für das Wichtigste, um die Einheit mit Gott zu erreichen. Darüber hinaus erlangte er den Zustand von absolutem Einssein mit dem Schöpfer durch strenge Selbstkasteiung und Entbehrungen. Andererseits war ihm jedoch bewusst, dass er paradoxerweise alle seine Bemühungen aufgeben musste, denn er sagte, er erreiche Gott nur allein mit Gottes Hilfe. Er legte seinen Schülern nahe, ihre Angelegenheiten in die Hände Gottes zu geben, und er ermutigte sie, die reine Lehre der Einheit Gottes zu akzeptieren. Diese Lehre bestand aus fünf Merkmalen: die Verpflichtungen entsprechend dem Koran und der Sunna einzuhalten, immer die Wahrheit zu sprechen, das Herz frei von Hass zu halten und verbotene Nahrung und Erneuerungen zu meiden.
Einen eher nüchternen Weg des Sufismus vertrat Dschunaid (gest. 910) aus Bagdad, welches zur damaligen Zeit als ein religiöses und spirituelles Zentrum galt. Er hatte durch seine Lehre einen großen Einfluss auf spätere Sufis, er betonte die Liebe, die Vereinigung und die Übergabe des individuellen Willens an den Willen Gottes. Zur damaligen Zeit betrachtete die islamische Orthodoxie bereits die Aktivitäten der Sufis mit wachsendem Misstrauen, aus diesem Grund lehnte Dschunaid seinen Schüler Mansur al-Halladsch (858–922), ebenfalls ein Perser, ab, der die Geheimnisse des Sufipfades in aller Öffentlichkeit aussprach. Von diesem stammt einer der bekanntesten Aussprüche eines Sufis: „ana al-Haqq“. Dieser Ausspruch lautet übersetzt „Ich bin die Wahrheit“, wobei Haqq nicht nur Wahrheit bedeutet, sondern auch einer der Namen Gottes ist. Somit kann man auch übersetzen: „Ich bin Gott“. Dies und sein provokantes Auftreten waren einige der Gründe, warum al-Halladsch schließlich als erster Sufi-Märtyrer hingerichtet worden ist. Neben anderen Sufis hat wohl Rumi am besten zum Ausdruck gebracht, dass „ana al-Haqq“ die konsequenteste Auslegung von der Einheit Gottes ist. Hätte al-Halladsch gesagt „Er ist Gott“, dann hätte dies zwangsläufig zu einer Dualität geführt, da es dann nicht nur Gott, sondern auch einen zweiten gegeben hätte, nämlich al-Halladsch, der dies äußert.
Al-Ghazali (1058–1111)
Ein wichtiger Vertreter des Sufismus ist al-Ghazali (* um 1058, gest. 1111), auch er ein Perser, der einer der ersten war, der seine Ideen zu einem mystischen System ordnete. Dieser größte sunnitische Theologe gliederte das System der gemäßigten Mystik des Sufismus in den orthodoxen Islam ein. Der ursprüngliche Rechtsgelehrte erkannte eines Tages, dass er nur durch eine der Welt entsagende Lebensweise wirklich zu Gott finden könne. Er gab deshalb seinen Lehrstuhl an der Universität in Bagdad auf, um als wandernder Derwisch viele Jahre in der Abgeschiedenheit zu verbringen. Er hinterließ der Welt zahlreiche religiöse und spirituelle Schriften und schaffte es sogar, für eine Zeit lang die Orthodoxie mit dem Sufismus ein wenig zu versöhnen und beide Systeme aneinander anzunähern. Durch Abmilderung des radikalen Asketismus der frühen Sufis und Systematisierung des sufistischen Gedankenguts trug al-Ghazali maßgeblich zur allgemeinen Anerkennung des Sufismus im Islam bei. Er lehnte eine starre Dogmatik ab und lehrte den Weg zu einem Gottesbewusstsein, das aus dem Herzen entspringt. Ein zentraler Punkt bei al-Ghazali ist die Arbeit am „feinstofflichen Herzen“. Der Lehre al-Ghazalis gemäß besitzen die Menschen in ihrer Brust ein „feinstoffliches Herz“, das in der Welt der Engel beheimatet ist. Dieses Organ ist in der grobstofflichen Welt im Asyl und weist den Menschen den Weg ins Paradies zurück.
Sheikh Adi (1075–1162)
Ein bedeutender Sufi war Sheikh Adi (Şexadi, voller Name Adî Ibn-Musafîr, vermutlich 1075–1162), der den Sufismus über die Grenzen des Islams hinaus verbreitete. Wohl um konservativen Widersachern zu entfliehen gelangte er in die irakisch-kurdischen Berge und siedelte in Lalisch, einem alten Sonnentempel, der mehrfach zwischen Yeziden, Christen und Muslimen wechselte. Dort erfuhr er vom yezidischen Glauben und brachte sufistische Elemente in diesen ein. So gilt er heute als Reformer des Yezidentums und wird, obwohl eigentlich ein Moslem, heute von Yeziden als Heiliger verehrt. Lalish, der Ort an dem nach yezidischer Vorstellung die Erde fest wurde, ist heute yezidisches Heiligtum und Grabstätte des Şexadi. Da es aus der Zeit vor Şexadi praktisch keine schriftlichen Überlieferungen aus dem Yezidentum gibt, ist heute nur bekannt, dass der yezidische Glauben selbst viele mystische Elemente enthält und enthielt. Şexadis Vorstellungen ergänzten die ältere yezidische Religion und haben heute noch Bestand.
Ibn al-Arabi (1165–1240)
Ebenso bedeutend wie al-Ghazali ist Ibn Arabi (1165–1240), der etwa ein halbes Jahrhundert nach al-Ghazalis Tod in der spanischen Stadt Murcia geboren wurde. Ibn Arabi ist Autor etwa 500 wichtiger sufistischer Schriften; man sagt, er habe keinen spirituellen Lehrer gehabt, sondern sei von dem verborgenen Meister Khidr direkt in den mystischen Islam initiiert worden. Ibn Arabi wird auch als der „Sheikh al-akbar“ („der größte Sheikh“) bezeichnet, wobei seine Ideen über „wahdat al-wudschud“, der Einheit des Seins, schon vor ihm Teil der Sufi-Metaphysik war. Doch er formulierte diese Ideen als erster in schriftlicher Form, wodurch sie der Nachwelt und späteren Sufis gut erhalten blieben. Demnach hat Gott die ganze Welt als eine einzige zusammenhängende Einheit geschaffen, damit sie den höchsten Schöpfer preise und erkenne. In seinem Werk „Fusus Al-Hikam“ zeichnet Ibn-Arabi eine metaphysische Genealogie, in der die 28 namhaft im Koran erwähnten Propheten dazu beitragen, das mystische Bewusstsein der Menschen zu wecken. Dieser Gedanke wurde im 19. und 20. Jahrhundert von westlichen esoterischen Autoren wie Madame Blavatsky und Rudolf Steiner wieder aufgegriffen. Danach sind die bedeutenden Religionsgestalten der Menschen auch Lichtgestalten, die das Bewusstsein der Menschen formen.
Farid ad-Din Attar (1145/46–1221)
Das Mausoleum Farid ad-Din Attars in Nischapur, Iran
Die poetischen Werke Farid ad-Din Attars (Farīd ad-Dīn ʿAṭṭār) sind im Westen nicht sehr bekannt, doch nahmen sie über Jahrhunderte hinweg Einfluss auf Mystiker sowohl östlicher als auch westlicher Herkunft. Außerdem gilt Attar als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Sufismus. Er warf ein neues Licht auf die Lehre, indem er wie niemand vor ihm den Pfad mit der Kunst eines Geschichtenerzählers beschreibt.
Eines der berühmtesten seiner 114 Werke sind die „Vogelgespräche“ (Manṭiq aṭ-ṭair). Dieses Epos berichtet von dreißig Vögeln, die eine Reise durch sieben Täler zum Vogelkönig, dem Simurgh, unternehmen und schließlich in diesem ihre eigene Identität erkennen. Attar benutzt hier ein Wortspiel, da Simurgh nicht nur der Name eines dem Phönix ähnelnden Fabelwesens ist, sondern si murgh gelesen auch „dreißig Vögel“ bedeutet.[3]
Sufi-Ordensgemeinschaften
Es wird heutzutage von den meisten Historikern angenommen, dass die erste Sufi-Ordensgemeinschaft (Tariqa) im 12. Jahrhundert von Abd al-Qadir al-Dschilani (1088 oder 1077–1166) gegründet wurde, die deshalb auch den Namen Qadiri-Tariqa trägt. Kurz darauf entstanden die Yesevi- und die Rifai-Tariqa. Später entwickelten sich weitere Tariqas, von denen viele größtenteils noch heute existieren, einige jedoch nicht mehr im Blickpunkt des öffentlichen Lebens, wie die Schaʿrānī-Tariqa. Die Zentren bzw. Versammlungsorte der Orden nennt man Khanqah (persisch خانگاه chānegāh und خَانَقَاه chāneghāh), Dergah (persisch دَرْگَاه dargāh „Türschwelle“, „Palast“; osmanisch dergâh auch Derwischkonvent), Tekke (osmanisch تَكَّيَّه tekke, tekye) oder Zawiya (arabisch زَاوِيَة zāwiya pl. زَوَايَا zawāyā). Manchmal ist auch von Konventen oder Klöstern die Rede, man kann aber eine Tekke nicht mit der christlichen Vorstellung eines Klosters vergleichen.
Eine der bekanntesten Tariqas ist die der Mevlevis, die auf den Sufipoeten Dschalal ad-Din Rumi zurückgeht. Die meisten seiner Werke sind in persischer, manche aber auch in arabischer Sprache verfasst. Die Derwische dieses Ordens praktizieren den Dhikr mit religiöser Musik und drehen sich dabei um die eigene Achse. Dieses Ritual ist im Westen als „Derwischtanz“ (semā) oder „Tanz der drehenden Derwische“ bekannt.
Weitere überregionale Sufi-Orden neben den bereits genannten sind Naqschbandi, Bektaschi, Kubrawi, Suhrawardi, Chishti oder Halveti. Diese Orden sind darüber hinaus in zahlreiche Unterverzweigungen gegliedert und haben manchmal auch Überschneidungen untereinander (siehe auch: Liste der Sufi-Orden).
Der Sufismus ist in den Augen der Sufis immer lebendig geblieben und hat seine Dynamik bewahrt, weil er sich stets den Zeiten anpasst und sich dementsprechend wandelt. Gleichzeitig bleibt er aber der Essenz der Tradition treu, die die innere Ausrichtung des Herzens auf Gott sowie das Aufgeben des Ego ist. Da Gesellschaften und Kulturen sich ständig weiterentwickeln und verändern, antwortet auch der Sufismus äußerlich gesehen auf diese Veränderungen. Hierzu ein Zitat:
„Sufismus ist die alte Weisheit des Herzens. Er ist nicht durch Form, Zeit oder Raum begrenzt. Er war immer und wird immer sein.“
– Llewellyn Vaughan-Lee (* 1953)
Etymologie
Der Begriff Sufismus ist der Name einer alten Lehre, die sich in der heutigen Zeit hauptsächlich durch den Islam manifestiert. Das Wort Sufismus kam in einer Zeit auf, in der diese Lehre mit dieser Weltreligion verbunden war, die essentielle Lehre des Sufismus kann aber durch alle Religionen und Weltanschauungen über viele Jahrtausende zurückverfolgt werden.
Etymologisch ist unklar, ob das Wort Sufi von arabisch ṣūf صُوف – „Schurwolle“, das auf die wollenen Gewänder der Sufis hinweist, oder von ṣafā صفا – „rein sein“ stammt. „Rein“ meint in diesem Zusammenhang gereinigt von Unkenntnis bzw. Unwissenheit, Aberglauben, Dogmatismus, Egoismus und Fanatismus sowie frei von Beschränkungen durch die soziale Schicht, politische Überzeugung, Rasse oder Nation. Historisch wahrscheinlicher ist jedoch erstere Auslegung, da die Herleitung von „rein“ auch eine gewollte Interpretation darstellen könnte. Andere, vor allem westliche Vertreter eines „universellen Sufismus“, brachten das Wort Sufi mit dem griechischen Wort sophia („Weisheit“) oder mit dem hebräischen Wort aus der Kabbala En Sof („es hat kein Ende“) in Verbindung. Die Jüdische Enzyklopädie (Bd. XI, S. 579 ff.) betrachtet die Kabbala und die Chassidim, die jüdischen Mystiker, als aus dem Sufismus entstanden, bzw. als mit ihm identische Tradition. Der bedeutendste im Westen lebende Vertreter des Sufismus, Idries Shah, verweist hingegen auf die Schrift des Hujwiri die Offenbarung aus dem 11. Jahrhundert hin. In dieser frühesten verfügbaren Abhandlung über die Sufi-Tradition in persischer Sprache und gleichzeitig eine der maßgeblichen Sufi-Schriften wird erklärt, "dass das Wort Sufi keine Etymologie besitzt".[4]
Eine andere Erklärung bietet auch der Begriff ahl aṣ-ṣuffa, was „Leute der Veranda“ bedeutet, oder „ǧāma-i ṣūf“, was „wollenes Gewand“ heißt.[5] Dies bezieht sich auf die Gruppe von Personen, die sich zu Lebzeiten Mohammeds um den Propheten scharten und wahrscheinlich in Armut lebten. Es wird außerdem behauptet, dass das Wort Sufismus auf die Leute der ersten (Gebets-)Reihe (ṣaff-i avval) hindeuten kann.
Ergänzend zur Wortherkunft sei erwähnt, dass der Begriff Sufismus nicht von Anhängern dieser Lehre eingeführt wurde. Das Wort selbst ist ein aus Deutschland stammender Neologismus, der 1821 geprägt wurde.[6]. Vielmehr wurde er von Personen außerhalb dieser mystischen Strömung geprägt. Ein Sufi bezeichnet sich selbst in der Regel nicht als solcher, vielmehr verwenden Sufis für sich Bezeichnungen wie "Menschen der Wahrheit", "Meister", die "Nahen", „Suchende“, „Schüler“, „Reisende“ etc.
Lehre
Es gibt Sufi-Orden, die als sunnitisch oder schiitisch klassifiziert werden können, aber auch solche, die beiden, und andere, die keiner der beiden islamischen Richtungen zuzuordnen sind. Diese stellen einen separaten Bereich des muslimischen Glaubens dar und lehren meist einen „universellen Sufismus“. Die meisten Sufis bewegen sich aber innerhalb des orthodoxen Islams von Sunna und Schia und sind somit entweder Sunniten oder Schiiten, wobei die meisten Tariqas mit dem sunnitischen Islam in Verbindung gebracht werden (z. B. Naqshbandi, Qadiri) und nur wenige mit dem schiitischen.
Der Weg der Sufis folgt vier Stufen, deren Ausprägung auf den indischen Raum verweist; bis heute ist jedoch offen, wie und in welche Richtung diese Beeinflussung historisch verlief:
Auslöschen der sinnlichen Wahrnehmung
Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften
Sterben des Ego
Auflösung in das göttliche Prinzip
Das oberste Ziel der Sufis ist, Gott so nahe zu kommen wie möglich und dabei die eigenen Wünsche zurückzulassen. Dabei wird Gott bzw. die Wahrheit als „der Geliebte“ erfahren. Der Kern des Sufismus ist demnach die innere Beziehung zwischen dem „Liebenden“ (Sufi) und dem „Geliebten“ (Gott). Durch die Liebe wird der Sufi zu Gott geführt, wobei der Suchende danach strebt, die Wahrheit schon in diesem Leben zu erfahren und nicht erst auf das Jenseits zu warten. Dies spiegelt sich in dem Prinzip zu sterben, bevor man stirbt wider, das überall im Sufismus verfolgt wird. Hierzu versuchen die Sufis, die Triebe der niederen Seele bzw. des tyrannischen Ego (an-nafs al-ammara) so zu bekämpfen, dass sie in positive Eigenschaften umgeformt werden. Auf diese Weise kann man einzelne Stationen durchlaufen, deren höchste die reine Seele (an-nafs al-safiya) ist. Diese letzte Stufe bleibt jedoch ausschließlich den Propheten und den vollkommensten Heiligen vorbehalten.
Die mystische Gotteserfahrung ist der Zustand des Einsseins (tauhid) mit Gott, die sogenannte „unio mystica“.
Dazu ein Zitat von Abu Nasr as-Sarradsch, einem Zeitgenossen des islamischen Mystikers Dschunaid:
„Sufismus bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu werden.“
Oder eine etwas ausführlichere Beschreibung von Abu Sa’id:
„Sufismus ist Ruhm im Elend, Reichtum in der Armut, Herrschaft in Dienstbarkeit, Sättigung im Hunger, Leben im Tode und Süße in der Bitterkeit … Der Sufi ist der, der mit allem zufrieden ist, was Gott tut, so dass Gott mit allem zufrieden ist, was er tut.“
Ein wichtiger Aspekt der sufistischen Lehre ist außerdem, dass man die Wahrheit erfährt und nicht nur intellektuell erfasst. Gemäß dem Grundsatz „Den Glauben sieht man in den Taten“ ist es für die Sufis entscheidend, oft eher mit gutem Beispiel in der Welt aufzutreten als über den Glauben zu reden. Darüber hinaus ist „Aufrichtigkeit“ unentbehrlich, und man sollte versuchen, nach außen hin so rein zu werden, wie man es auch nach innen hin anstrebt.
Viele Sufis, so sie nicht Anhänger einer strengen Scharia sind, glauben, dass in allen Religionen eine grundlegende Wahrheit zu finden sei, und dass die großen Religionen von ihrem Wesen/Geist her dasselbe seien. Manche Sufis gehen deswegen sogar so weit, dass sie den Sufismus nicht innerhalb des Islams (also einer Religion) angesiedelt sehen, sondern meinen, dass die Mystik über der Religion stehe, ja diese sogar bedinge.
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Teil 2
Der Weg des Derwisch
Ein türkischer Derwisch um 1860
Der Begriff Derwisch leitet sich her vom persischen Wort dar („Tor“, „Tür“), ein Sinnbild dafür, dass der Bettler von Tür(schwelle) zu Tür(schwelle) wandert. In der sufistischen Symbolik bedeutet dies auch die Schwelle zwischen dem Erkennen der diesseitigen irdischen (materiellen, siehe auch dunya) und der jenseitigen göttlichen Welt.
Die volle persische Übersetzung für Derwisch (persisch دَرْوِیش darwīsch) ist „Bettler“. Dabei ist es aber nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, dass jeder Sufi ein Bettler sei; sondern dieser Begriff dient auch als Symbol dafür, dass derjenige, der sich auf dem Weg des Sufismus befindet, seine eigene „Armut gegenüber Gottes Reichtum“ erkennt.
Auf dem Weg eines Derwisch gibt es folgende Stationen, die er zu meistern versucht:
Schari'a („islamisches Gesetz“)
Tariqa („der mystische Weg“)
Haqiqa („Wahrheit“)
Ma'rifa („Erkenntnis“)
(In der Alevi-Bektaschi-Glaubenslehre kommt Ma'rifa vor Haqiqa.)
Die Sufis sehen diese Stationen auch als „Türen“ auf dem Weg zu Gott, die sich aber nicht neben-, sondern hinter-, oder besser noch „ineinander“ befinden. Man muss also erst eine Tür durchschritten haben, bevor man daran arbeiten kann, die nächste in Angriff zu nehmen.
Ibn Arabi beschreibt die vier Stationen folgendermaßen[7]: Auf dem Niveau von Schari'a gibt es „dein und mein“. Das heißt, dass das religiöse Gesetz individuelle Rechte und ethische Beziehungen zwischen den Menschen regelt. Auf dem Niveau von Tariqa „ist meins deins und deins ist meins“. Von den Derwischen wird erwartet, dass sie sich gegenseitig als Brüder und Schwestern behandeln, den jeweils anderen an seinen Freuden, seiner Liebe und seinem Eigentum teilhaben lassen. Auf dem Niveau der Wahrheit (Haqiqa) gibt es „weder meins noch deins“. Fortgeschrittene Sufis erkennen, dass alle Dinge von Gott kommen, dass sie selbst nur die Verwalter sind und in Wirklichkeit nichts besitzen. Diejenigen, die die Wahrheit erkennen, interessieren sich nicht für Besitz und Äußerlichkeiten im Allgemeinen, Bekanntheit und gesellschaftlichen Stand inbegriffen. Auf dem Niveau der Erkenntnis (Ma'rifa) gibt es „kein ich und kein du“. Der einzelne erkennt, dass nichts und niemand von Gott getrennt ist. Dies ist das oberste Ziel des Sufismus.
Der Scheich
In der sufistischen Tradition ist es wichtig, dass das Wissen durch eine „lebendige Linie“ übertragen wird. Deswegen ist es für einen Derwisch unerlässlich, sich der geistigen Führung eines Scheich bzw. Murschid (Lehrer) anzuvertrauen, der durch eine Überlieferungskette (Silsila) bis über den Propheten Muhammad mit der göttlichen Wissensquelle verbunden ist. Die Funktion des Scheich ist nicht zuletzt deshalb unerlässlich, weil die Sufis selber um die Gefahren egoistischer Täuschungen wissen. Hierzu ein Zitat:
„Es ist leichter, einen Berg an einem Haar herumzuschleppen, als sich mit eigener Kraft aus sich selbst zu befreien.[8]“
– Abu Sa'id
Der Scheich leitet in gemeinsamen Zusammenkünften mit seinen Derwischen nicht nur den Dhikr, sondern er gibt jedem seiner Schüler meist auch individuelle spirituelle Übungen, die dem Stand des einzelnen Derwischs entsprechen.
Entgegen der Meinung von Sufismus-Kritikern wird ein authentischer Scheich nie die Personenverehrung fördern. Er zieht zwar als Lehrer die Aufmerksamkeit auf sich, aber dann wird er von sich weg, hin zum Ewigen (= Allah) weisen. Es ist deshalb die Aufgabe des Scheichs zu verhindern, dass der Schüler sich dem eigenen Selbst (vgl. nafs) oder der Persönlichkeit des Lehrers hingibt.
Der Weg
Im Sufismus wird oft das Symbol der Rose gebraucht. Diese stellt die oben genannten Stufen auf dem Weg eines Derwischs folgenderweise dar: Die Dornen stehen für die Schari'a, das islamische Gesetz, der Stängel ist Tariqa, der Weg. Die Blüte gilt als Symbol für Haqiqa, der Wahrheit, die schließlich den Duft, Ma'rifa, die Erkenntnis, in sich trägt.
Hierbei lässt sich folgende Sichtweise der Sufis erkennen: Die Dornen schützen den Stängel, ohne sie könnte die Rose leicht von Tieren angegriffen werden. Ohne den Stängel haben die Dornen alleine aber auch keinerlei Bedeutung; man sieht hier also deutlich, dass die Sufis Schari'a und Tariqa unbedingt als zusammengehörig betrachten. Der Stängel ohne Blüte wäre nutzlos, und auch eine Blüte ohne Duft hätte keinen Zweck. Der Duft alleine ohne die Rose hätte aber ebenfalls keine Möglichkeit zu existieren.[9]
Die Liebe
Der Mittelpunkt der sufistischen Lehre ist die Liebe (arabisch hubb, 'ischq, mahabba), die immer im Sinne von „Hinwendung (zu Gott)“ zu verstehen ist. Die Sufis glauben, dass sich die Liebe in der Projektion der göttlichen Essenz auf das Universum ausdrückt. Dies lässt sich oftmals in den „berauschten“ Gedichten vieler islamischer Mystiker erkennen, die die Einheit mit Gott und die Gottesliebe besingen. Da diese poetischen Werke meist mit Metaphern durchsetzt sind, wurden sie in der Geschichte oft von islamischen Rechtsgelehrten argwöhnisch betrachtet. In ihren Augen haben sie ketzerische Aussagen, wenn beispielsweise der Suchende vom „Wein“ berauscht ist; in der Symbolik des Sufismus steht der Wein für die Liebe Gottes, der Sheikh für den Mundschenk und der Derwisch für das Glas, das mit der Liebe gefüllt wird, um zu den Menschen getragen zu werden.
Al-Ghazali bezeichnet die Liebe zu Gott als die höchste der Stationen und sogar als das eigentliche Endziel der Stationen auf dem Weg zu Gott. Er sagt, dass nur Gott allein der Liebe würdig ist; die Liebe zu Muhammad nennt er jedoch als lobenswert, weil sie nichts anderes ist, als die Liebe zu Gott. Die Liebe zu den Gottesgelehrten und Frommen erwähnt er ebenfalls als lobenswert, denn „man liebt diejenigen, die den Geliebten lieben“.
Isa bin Maryam (Jesus von Nazaret) wird im Islam als der „Prophet der Liebe“ gesehen.
Dhikr
Mevlevi-Derwische bei der Sema-Zeremonie in Istanbul, Türkei
Die Sufis suchen durch tägliche regelmäßige Meditation (Dhikr, das bedeutet „Gedenken“, also „Gedenken an Gott“, bzw. Dhikrullah) Gott nahe zu kommen oder mit Gott schon im irdischen Leben eins zu werden. Letzteres wird vom orthodoxen Islam und der ihr eigenen islamischen Rechtsprechung (Fiqh) zumindest kritisch betrachtet, wenn nicht gar als Gotteslästerung verdammt. Die Sufis sind aber auch andererseits oft dieser konservativen, manchmal verknöcherten, islamischen Rechtswissenschaft gegenüber kritisch eingestellt. Mansur al-Halladsch, der mit Gott so eins geworden zu sein glaubte, dass er sagte: Ana al-Haqq („Ich bin die Wahrheit“ bzw. „Ich bin Gott“, s.o.), wurde von der Orthodoxie als Ketzer verdammt und öffentlich hingerichtet.
Kommen Sufis einem solchen Zustand nahe, geraten sie oft in Trance, wobei dies lediglich ein Nebeneffekt ist und nicht wie manchmal angenommen das Ziel des Dhikr. Einige wenige Sufigemeinschaften vollziehen in Trance verletzende Handlungen, wie etwa das Durchstechen der Wangen bei den Rifai-Derwischen, womit das vollkommene Vertrauen in Gott demonstriert werden soll. Ein weiteres Beispiel für Trancezustände bei Sufis sind die so genannten drehenden Derwische der Mevlevi-Tariqa aus Konya in der heutigen Türkei, die sich während ihres Dhikr (Sema) um ihre eigene Achse drehen und dadurch in Trance geraten.
Dhikr in Omdurman, Sudan. Choreografierte Tanzaufführung für Publikum, die jeden Freitag am Grabmal von Hamed al-Nil stattfindet. Er war im 19. Jahrhundert ein Sheikh der Qadiriyya.
Der Sufismus bietet also dem Suchenden nicht zuletzt durch den Dhikr eine Möglichkeit, das Göttliche in sich zu finden bzw. wiederzuentdecken. Die Sufis glauben, dass Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Gleichzeitig wird dieser Funke auch durch die Liebe zu allem, was nicht Gott ist, verschleiert, genauso wie durch die Aufmerksamkeit gegenüber den Banalitäten der (materiellen) Welt, sowie durch Achtlosigkeit und Vergesslichkeit. Laut dem Propheten Muhammad sagt Gott zu den Menschen: „Es gibt siebzigtausend Schleier zwischen euch und Mir, aber keinen zwischen Mir und euch.“
Die „Vervollkommnung des Dhikr“ ist seit je her ein hohes Ziel bei den Sufis gewesen und es wird angestrebt, den Dhikr immerwährend zu wiederholen, sodass er selbst inmitten aller anderen (weltlichen) Aktivitäten weiter im Herzen fortfährt. Dies entspricht einem „ununterbrochenen Bewusstsein der Gegenwart Gottes“. Letzteres wird „Dhikr des Herzens“ genannt, während die nach außen hörbare Form als „Dhikr der Zunge“ bezeichnet wird.
Während des Dhikr rezitieren die Sufis bestimmte Stellen aus dem Koran und wiederholen eine bestimmte Anzahl der göttlichen Attribute (im Islam neunundneunzig). Ein Dhikr, das bei allen Sufis angewandt wird, ist das Wiederholen des ersten Teils der Schahada („Glaubensbekenntnis“) lā ilāha illā-llāh, zu Deutsch „Es gibt keinen Gott außer Gott“ oder „Es existiert keine Macht, die es wert ist, angebetet zu werden, außer Gott“. Darüber hinaus kennen die meisten Orden ein wöchentliches Zusammentreffen, bei dem neben der Pflege der Gemeinschaft und dem gemeinsamen Gebet ebenfalls ein Dhikr ausgeführt wird. Je nach Orden kann dieser Dhikr auch Musik, bestimmte Körperbewegungen und Atmungsübungen beinhalten.
Sufi-Geschichten
Ein wichtiger Bestandteil des Sufismus sind die Lehrgeschichten, die die Sheikhs immer und immer wieder ihren Derwischen erzählen. Dabei kann man sie in drei verschiedene Kategorien unterscheiden:
Geschichten, die sich mit dem Verhältnis des einzelnen zu sich selbst und seiner individuellen Entwicklung befassen.
Geschichten, die das Verhältnis zur Gesellschaft und zu anderen Menschen behandeln.
Geschichten, die sich mit der Beziehung zu Gott befassen.
Es handelt sich hier oft um scheinbar einfache Geschichten, deren tiefere Bedeutung aber für den Derwisch sehr fein und tiefgründig sein kann. Dabei ist es nicht unbedingt von großer Bedeutung, ob der Schüler die Essenz der Geschichte bis in das letzte Detail versteht, denn das Lernen findet nicht nur auf der Verstandesebene statt. Analog hierzu wird die Wirkungsweise oft mit der von Medikamenten verglichen, wobei der Patient auch nicht die chemische Zusammensetzung der Medizin kennen oder verstehen muss, um durch diese geheilt werden zu können.
Die im Westen bekanntesten Lehrgeschichten sind beispielsweise die von Nasruddin Hodscha (auch Mullah Nasruddin), die meistens als Anekdoten oder einfache Witze missverstanden werden.
Ein Beispiel zu 2.:
Nasruddin setzt einen Gelehrten über ein stürmisches Wasser. Als er etwas sagt, das grammatikalisch nicht ganz richtig ist, fragt ihn der Gelehrte: „Haben Sie denn nie Grammatik studiert?“
„Nein.“
„Dann war ja die Hälfte Ihres Lebens verschwendet!“
Kurz darauf dreht sich Nasruddin zu seinem Passagier um: „Haben Sie jemals schwimmen gelernt?“
„Nein. Warum?“
„Dann war Ihr ganzes Leben verschwendet – wir sinken nämlich!“
Anhand dieser Geschichte wollen Sufis verdeutlichen, dass der Sufismus kein theoretisches Studium sei, sondern ausschließlich durch praktisches Handeln gelebt werden könne. Analog dazu sagen sie, dass es zwar viele Bücher über den Sufismus gibt; den Sufismus in den Büchern zu finden sei aber unmöglich. Analog dazu betrachten die Sufis einen Religionsgelehrten, der sein Wissen nicht praktiziert, als einen Esel, der eine schwere Last an Büchern trägt, die ihm aber nichts nützen, weil er schließlich nichts damit anfangen kann.
Ein Beispiel zu 3.:
Man sah Rabi'a in den Straßen von Basra, mit einem Eimer in der einen Hand und einer Fackel in der anderen. Gefragt, was das bedeute, antwortete sie: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern einzig und allein aus Liebe zu Ihm.“
Sufi-Musik
In vielen Tariqas ist auch die Praxis der Musik üblich, die oft nur aus Gesängen besteht, in anderen Tariqas aber auch instrumental begleitet wird. Die Musik ist ein Bestandteil des Dhikr, denn in den Liedern werden entweder die Namen Gottes rezitiert, oder die Liebe zu Gott beziehungsweise zum Propheten Mohammed besungen.
Einfluss auf den Westen
Die Auswirkungen des Sufismus blieben nicht nur auf die muslimische Welt beschränkt. Einflüsse hatte er unter anderem auf die Weltliteratur, die Musik und auf viele Kulturen Süd- und Osteuropas. So wurden beispielsweise Konzepte wie das der romantischen Liebe und der Ritterlichkeit vom Westen übernommen, als Europa mit den Sufis in Kontakt kam. Auch der spanische Arabist Miguel Asín Palacios erkannte während seiner Forschungen den enormen Einfluss des Gedankenguts der islamischen Mystiker auf die westliche Kultur.[10]
Viele Werke der westlichen Literatur zeigen einen Einfluss von Sufi-Geschichten. So bestätigte Cervantes selbst, dass sein Don Quijote sufistische Wurzeln hat.
Die Entwicklung der europäischen Theosophie war teilweise auch durch den Kontakt mit dem Sufismus geprägt. Das arabische Wort tasawwuf wird von den Theosophen auch als eine arabisierte Form des griechischen „Theosophie“ erklärt.
Für die Beliebtheit sufistischen Gedankengutes, das für die Bedürfnisse der westlichen Suchenden umgedeutet und angepasst wurde, lässt sich die Arbeit des indischen Musikers und Mystikers Hazrat Inayat Khan nennen, der den Internationalen Sufi-Orden mit rechtlichem Statut 1917 in London gründete.[11]
Auch bildeten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Westen Orden nach sufistischem Vorbild oder Ableger traditioneller Sufiorden, die teilweise auch nicht-muslimische Mitglieder akzeptieren. Manche vertreten sogar einen Sufismus ohne jeglichen Bezug zum Islam, was man am ehesten als einen „universellen Sufismus“ bezeichnen kann. Dies führte dazu, dass sich immer mehr westliche Suchende der islamischen Mystik öffnen konnten, ohne zum Islam konvertieren zu müssen, obwohl nach den schon weiter oben erwähnten Grundsätzen aller traditioneller Orden und deren Sheikhs die Tariqa unbedingt auf den Grundlagen der Schari’a fußt, während in der frühislamischen Zeit einige Sufis die Schari’a als Einengung des wahren Glaubens ablehnten. Nach Meinung der Anhänger des universellen Sufismus existiert diese Form der Mystik aber schon seit Bestehen der Menschheit, also auch schon länger als der geschichtliche Islam, weswegen sie den Sufismus nicht unbedingt allzu eng verknüpft mit dieser Religion sehen und ihn als eine weltumspannende Bewegung mit einer alle Religionen integrierenden Heilsbotschaft betrachten.
Ein prominenter Vertreter des universellen Sufismus ist beispielsweise Reshad Feild, der durch seine Erlebnisberichte viele westliche Leser mit dem Sufismus bekanntmachte.
Vor allem Osho übernahm in seinen auf den westlichen Menschen zugeschnittenen Meditationen und Therapien zahlreiche Elemente aus dem Sufismus. So ist seine für Sannyasins (Neo-Sannyas) empfohlene Dynamische Meditation eine Kombination sufistischer Techniken. Bei der Dynamischen Meditation praktizieren die Sannyasins sufistische Techniken wie kathartisches Atmen, stoßweise Intonierung der Silbe „Hu“ („HU“ gilt den Sufis als besonders mächtiger Name Gottes) sowie der anschließenden Stopp-Technik, bei der die Initianten für einen längeren Zeitraum regungslos verharren müssen. Auch beim „Sufi-Whirling“ übernehmen die Sannyasins die sufistische Technik des Kreistanzes, um ihr Bewusstsein zu klären.
Siehe auch:
Georges I. Gurdjieff
Lex Hixon
Mercan Dede Ensemble
Pete Townshend
Peter Gabriel
Peter Murphy
Klaus Wiese
Reshad Feild
Hazrat Inayat Khan
Muhammad Nazim Adil al-Qubrusi al-Haqqani
Verfolgung im Iran, in Saudi-Arabien und Pakistan
Die iranischen Basiji-Milizen werden von der iranischen Regierung gegen die schiitischen Derwische in Stellung gebracht. Im April 2006 setzte die Miliz Gebets- und Wohnhäuser von rund 1.200 Derwischen in der Stadt Qom in Brand.[12] Die Derwische sehen im Dschihad allein einen Kampf eines jeden Einzelnen um sein eigenes Seelenheil und keine Aufforderung zum Krieg.[12] Am 10. und 11. November 2007 räumte die Basiji Sufi-Gotteshäuser in der südwestiranischen Stadt Borudscherd. Dabei wurden 80 Personen verletzt. Bei der Räumung kamen Molotowcocktails und Bulldozer zum Einsatz. Nach Meinung des Sufi-Meisters Seyed Mostafa Azmayesh gehe es darum, die Derwisch-Bewegung auszulöschen.[12] Seit Monaten sei eine Kampagne in Zeitungen und von Predigern in Moscheen im Gange. Azmayesh befürchtet eine Wiederholung der Borudscherd-Vorfälle in der Stadt Karadsch. Obwohl der Nematollah-Derwisch-Orden zur Schia zählt, wird die Tariqa im Iran als unislamisch verfolgt.[12] Kommentatoren sehen als Grund die Furcht des iranischen Ajatollah-Regimes um seinen Anspruch auf Meinungsführerschaft in der Umma. Die weltoffene Auslegung des Korans durch die Derwische, verbunden mit Tanz und Musik, lässt die Bewegung unter jungen Leuten im Iran zunehmend Anhänger finden.[12]
Auch in Pakistan sind die Mystiker zunehmend ins Visier von Fundamentalisten, die den Taliban bzw. Al Qaida nahestehen, geraten. In den Jahren 2005 bis 2009 gab es neun Anschläge auf sufistische Schreine mit insgesamt 81 Toten.[13] Im Jahre 2010 gab es fünf Anschläge auf Schreine der Sufis, darunter einen Selbstmordanschlag auf das größte Heiligtum Pakistans, den Schrein des Data Gandsch Bakhsch im Zentrum Lahores, bei dem 45 Menschen starben, sowie zwei weitere Selbstmordanschläge auf den Schrein des Abdullah Shah Ghazis in Karachi, bei denen neun Personen getötet und 75 verletzt wurden.[14] Die ablehnende Haltung gegenüber dem Sufismus in Pakistan geht vor allem von den Deobandi und den Ahl-i Hadîth aus.[15]
In wahhabitisch beherrschten Saudi-Arabien wurde die Lehre von Sufismus als „Schirk“ (Götzendienst, Polytheismus) deklariert. Niederlassungen von Sufi-Bruderschaften sind in Saudi Arabien verboten. Insbesondere der Besuch von Schreinen sowie der Tanz und die Musik stoßen auf Ablehnung der wahhabitischen Fundamentalisten.[16] Die Wahhabiten zerstörten bereits vor Jahrzehnten konsequent alle Schreine, sogar die Schreine von Gefährten und Verwandten des Propheten, um die mystischen Kulte zu unterbinden.[17]
Siehe auch:
Ibn Taimiya
Imam Birgivi
Kritik
Kritik am Sufismus wird größtenteils von muslimisch-orthodoxer Seite geübt.
Die Musik war und ist oftmals ein Kritikpunkt der orthodoxen Gelehrten gegenüber der Sufis, weil sie nicht mit der koranischen Offenbarung vereinbar sei. Sie vertreten die Meinung, Musik, vor allem auch Tanz – und dadurch auch dem Tanz ähnliche Formen des Dhikr – sei heidnischen Ursprungs und daher unislamisch. Aus sufistischer Sicht stellt sich dies jedoch anders dar, denn es heißt, dass der Prophet Mohammed bei dem Einzug in Medina mit Musik vom Volk empfangen wurde. Auf die Frage, ob die Musik beendet werden solle, antwortete der Prophet, dass die Menschen auch Zeiten der Fröhlichkeit mit Musik feiern sollen. Für die Sufis ist die Musik Ausdruck der Freude in der Gegenwart Gottes.
Kritik am Sufismus existiert auch aus westlicher Sicht, denn der Sufismus sei mancherorts keineswegs toleranter als der Islam der schiitischen oder sunnitischen Rechtsschulen. Beispielsweise schreibt der deutsche Orientalist Tilman Nagel: „Die Annahme, einem rigiden, unduldsamen ‚Gesetzesislam‘ stehe eine ‚tolerante‘ sufistische Strömung entgegen, gehört zu den Fiktionen der europäischen Islamschwärmerei und wird durch die historischen Fakten tausendfach widerlegt.“
Siehe auch
Liste der Sufi-Orden
Liste islamischer Begriffe auf Arabisch
Quelle - literatur & Einzelnachweise
Ein türkischer Derwisch um 1860
Der Begriff Derwisch leitet sich her vom persischen Wort dar („Tor“, „Tür“), ein Sinnbild dafür, dass der Bettler von Tür(schwelle) zu Tür(schwelle) wandert. In der sufistischen Symbolik bedeutet dies auch die Schwelle zwischen dem Erkennen der diesseitigen irdischen (materiellen, siehe auch dunya) und der jenseitigen göttlichen Welt.
Die volle persische Übersetzung für Derwisch (persisch دَرْوِیش darwīsch) ist „Bettler“. Dabei ist es aber nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, dass jeder Sufi ein Bettler sei; sondern dieser Begriff dient auch als Symbol dafür, dass derjenige, der sich auf dem Weg des Sufismus befindet, seine eigene „Armut gegenüber Gottes Reichtum“ erkennt.
Auf dem Weg eines Derwisch gibt es folgende Stationen, die er zu meistern versucht:
Schari'a („islamisches Gesetz“)
Tariqa („der mystische Weg“)
Haqiqa („Wahrheit“)
Ma'rifa („Erkenntnis“)
(In der Alevi-Bektaschi-Glaubenslehre kommt Ma'rifa vor Haqiqa.)
Die Sufis sehen diese Stationen auch als „Türen“ auf dem Weg zu Gott, die sich aber nicht neben-, sondern hinter-, oder besser noch „ineinander“ befinden. Man muss also erst eine Tür durchschritten haben, bevor man daran arbeiten kann, die nächste in Angriff zu nehmen.
Ibn Arabi beschreibt die vier Stationen folgendermaßen[7]: Auf dem Niveau von Schari'a gibt es „dein und mein“. Das heißt, dass das religiöse Gesetz individuelle Rechte und ethische Beziehungen zwischen den Menschen regelt. Auf dem Niveau von Tariqa „ist meins deins und deins ist meins“. Von den Derwischen wird erwartet, dass sie sich gegenseitig als Brüder und Schwestern behandeln, den jeweils anderen an seinen Freuden, seiner Liebe und seinem Eigentum teilhaben lassen. Auf dem Niveau der Wahrheit (Haqiqa) gibt es „weder meins noch deins“. Fortgeschrittene Sufis erkennen, dass alle Dinge von Gott kommen, dass sie selbst nur die Verwalter sind und in Wirklichkeit nichts besitzen. Diejenigen, die die Wahrheit erkennen, interessieren sich nicht für Besitz und Äußerlichkeiten im Allgemeinen, Bekanntheit und gesellschaftlichen Stand inbegriffen. Auf dem Niveau der Erkenntnis (Ma'rifa) gibt es „kein ich und kein du“. Der einzelne erkennt, dass nichts und niemand von Gott getrennt ist. Dies ist das oberste Ziel des Sufismus.
Der Scheich
In der sufistischen Tradition ist es wichtig, dass das Wissen durch eine „lebendige Linie“ übertragen wird. Deswegen ist es für einen Derwisch unerlässlich, sich der geistigen Führung eines Scheich bzw. Murschid (Lehrer) anzuvertrauen, der durch eine Überlieferungskette (Silsila) bis über den Propheten Muhammad mit der göttlichen Wissensquelle verbunden ist. Die Funktion des Scheich ist nicht zuletzt deshalb unerlässlich, weil die Sufis selber um die Gefahren egoistischer Täuschungen wissen. Hierzu ein Zitat:
„Es ist leichter, einen Berg an einem Haar herumzuschleppen, als sich mit eigener Kraft aus sich selbst zu befreien.[8]“
– Abu Sa'id
Der Scheich leitet in gemeinsamen Zusammenkünften mit seinen Derwischen nicht nur den Dhikr, sondern er gibt jedem seiner Schüler meist auch individuelle spirituelle Übungen, die dem Stand des einzelnen Derwischs entsprechen.
Entgegen der Meinung von Sufismus-Kritikern wird ein authentischer Scheich nie die Personenverehrung fördern. Er zieht zwar als Lehrer die Aufmerksamkeit auf sich, aber dann wird er von sich weg, hin zum Ewigen (= Allah) weisen. Es ist deshalb die Aufgabe des Scheichs zu verhindern, dass der Schüler sich dem eigenen Selbst (vgl. nafs) oder der Persönlichkeit des Lehrers hingibt.
Der Weg
Im Sufismus wird oft das Symbol der Rose gebraucht. Diese stellt die oben genannten Stufen auf dem Weg eines Derwischs folgenderweise dar: Die Dornen stehen für die Schari'a, das islamische Gesetz, der Stängel ist Tariqa, der Weg. Die Blüte gilt als Symbol für Haqiqa, der Wahrheit, die schließlich den Duft, Ma'rifa, die Erkenntnis, in sich trägt.
Hierbei lässt sich folgende Sichtweise der Sufis erkennen: Die Dornen schützen den Stängel, ohne sie könnte die Rose leicht von Tieren angegriffen werden. Ohne den Stängel haben die Dornen alleine aber auch keinerlei Bedeutung; man sieht hier also deutlich, dass die Sufis Schari'a und Tariqa unbedingt als zusammengehörig betrachten. Der Stängel ohne Blüte wäre nutzlos, und auch eine Blüte ohne Duft hätte keinen Zweck. Der Duft alleine ohne die Rose hätte aber ebenfalls keine Möglichkeit zu existieren.[9]
Die Liebe
Der Mittelpunkt der sufistischen Lehre ist die Liebe (arabisch hubb, 'ischq, mahabba), die immer im Sinne von „Hinwendung (zu Gott)“ zu verstehen ist. Die Sufis glauben, dass sich die Liebe in der Projektion der göttlichen Essenz auf das Universum ausdrückt. Dies lässt sich oftmals in den „berauschten“ Gedichten vieler islamischer Mystiker erkennen, die die Einheit mit Gott und die Gottesliebe besingen. Da diese poetischen Werke meist mit Metaphern durchsetzt sind, wurden sie in der Geschichte oft von islamischen Rechtsgelehrten argwöhnisch betrachtet. In ihren Augen haben sie ketzerische Aussagen, wenn beispielsweise der Suchende vom „Wein“ berauscht ist; in der Symbolik des Sufismus steht der Wein für die Liebe Gottes, der Sheikh für den Mundschenk und der Derwisch für das Glas, das mit der Liebe gefüllt wird, um zu den Menschen getragen zu werden.
Al-Ghazali bezeichnet die Liebe zu Gott als die höchste der Stationen und sogar als das eigentliche Endziel der Stationen auf dem Weg zu Gott. Er sagt, dass nur Gott allein der Liebe würdig ist; die Liebe zu Muhammad nennt er jedoch als lobenswert, weil sie nichts anderes ist, als die Liebe zu Gott. Die Liebe zu den Gottesgelehrten und Frommen erwähnt er ebenfalls als lobenswert, denn „man liebt diejenigen, die den Geliebten lieben“.
Isa bin Maryam (Jesus von Nazaret) wird im Islam als der „Prophet der Liebe“ gesehen.
Dhikr
Mevlevi-Derwische bei der Sema-Zeremonie in Istanbul, Türkei
Die Sufis suchen durch tägliche regelmäßige Meditation (Dhikr, das bedeutet „Gedenken“, also „Gedenken an Gott“, bzw. Dhikrullah) Gott nahe zu kommen oder mit Gott schon im irdischen Leben eins zu werden. Letzteres wird vom orthodoxen Islam und der ihr eigenen islamischen Rechtsprechung (Fiqh) zumindest kritisch betrachtet, wenn nicht gar als Gotteslästerung verdammt. Die Sufis sind aber auch andererseits oft dieser konservativen, manchmal verknöcherten, islamischen Rechtswissenschaft gegenüber kritisch eingestellt. Mansur al-Halladsch, der mit Gott so eins geworden zu sein glaubte, dass er sagte: Ana al-Haqq („Ich bin die Wahrheit“ bzw. „Ich bin Gott“, s.o.), wurde von der Orthodoxie als Ketzer verdammt und öffentlich hingerichtet.
Kommen Sufis einem solchen Zustand nahe, geraten sie oft in Trance, wobei dies lediglich ein Nebeneffekt ist und nicht wie manchmal angenommen das Ziel des Dhikr. Einige wenige Sufigemeinschaften vollziehen in Trance verletzende Handlungen, wie etwa das Durchstechen der Wangen bei den Rifai-Derwischen, womit das vollkommene Vertrauen in Gott demonstriert werden soll. Ein weiteres Beispiel für Trancezustände bei Sufis sind die so genannten drehenden Derwische der Mevlevi-Tariqa aus Konya in der heutigen Türkei, die sich während ihres Dhikr (Sema) um ihre eigene Achse drehen und dadurch in Trance geraten.
Dhikr in Omdurman, Sudan. Choreografierte Tanzaufführung für Publikum, die jeden Freitag am Grabmal von Hamed al-Nil stattfindet. Er war im 19. Jahrhundert ein Sheikh der Qadiriyya.
Der Sufismus bietet also dem Suchenden nicht zuletzt durch den Dhikr eine Möglichkeit, das Göttliche in sich zu finden bzw. wiederzuentdecken. Die Sufis glauben, dass Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Gleichzeitig wird dieser Funke auch durch die Liebe zu allem, was nicht Gott ist, verschleiert, genauso wie durch die Aufmerksamkeit gegenüber den Banalitäten der (materiellen) Welt, sowie durch Achtlosigkeit und Vergesslichkeit. Laut dem Propheten Muhammad sagt Gott zu den Menschen: „Es gibt siebzigtausend Schleier zwischen euch und Mir, aber keinen zwischen Mir und euch.“
Die „Vervollkommnung des Dhikr“ ist seit je her ein hohes Ziel bei den Sufis gewesen und es wird angestrebt, den Dhikr immerwährend zu wiederholen, sodass er selbst inmitten aller anderen (weltlichen) Aktivitäten weiter im Herzen fortfährt. Dies entspricht einem „ununterbrochenen Bewusstsein der Gegenwart Gottes“. Letzteres wird „Dhikr des Herzens“ genannt, während die nach außen hörbare Form als „Dhikr der Zunge“ bezeichnet wird.
Während des Dhikr rezitieren die Sufis bestimmte Stellen aus dem Koran und wiederholen eine bestimmte Anzahl der göttlichen Attribute (im Islam neunundneunzig). Ein Dhikr, das bei allen Sufis angewandt wird, ist das Wiederholen des ersten Teils der Schahada („Glaubensbekenntnis“) lā ilāha illā-llāh, zu Deutsch „Es gibt keinen Gott außer Gott“ oder „Es existiert keine Macht, die es wert ist, angebetet zu werden, außer Gott“. Darüber hinaus kennen die meisten Orden ein wöchentliches Zusammentreffen, bei dem neben der Pflege der Gemeinschaft und dem gemeinsamen Gebet ebenfalls ein Dhikr ausgeführt wird. Je nach Orden kann dieser Dhikr auch Musik, bestimmte Körperbewegungen und Atmungsübungen beinhalten.
Sufi-Geschichten
Ein wichtiger Bestandteil des Sufismus sind die Lehrgeschichten, die die Sheikhs immer und immer wieder ihren Derwischen erzählen. Dabei kann man sie in drei verschiedene Kategorien unterscheiden:
Geschichten, die sich mit dem Verhältnis des einzelnen zu sich selbst und seiner individuellen Entwicklung befassen.
Geschichten, die das Verhältnis zur Gesellschaft und zu anderen Menschen behandeln.
Geschichten, die sich mit der Beziehung zu Gott befassen.
Es handelt sich hier oft um scheinbar einfache Geschichten, deren tiefere Bedeutung aber für den Derwisch sehr fein und tiefgründig sein kann. Dabei ist es nicht unbedingt von großer Bedeutung, ob der Schüler die Essenz der Geschichte bis in das letzte Detail versteht, denn das Lernen findet nicht nur auf der Verstandesebene statt. Analog hierzu wird die Wirkungsweise oft mit der von Medikamenten verglichen, wobei der Patient auch nicht die chemische Zusammensetzung der Medizin kennen oder verstehen muss, um durch diese geheilt werden zu können.
Die im Westen bekanntesten Lehrgeschichten sind beispielsweise die von Nasruddin Hodscha (auch Mullah Nasruddin), die meistens als Anekdoten oder einfache Witze missverstanden werden.
Ein Beispiel zu 2.:
Nasruddin setzt einen Gelehrten über ein stürmisches Wasser. Als er etwas sagt, das grammatikalisch nicht ganz richtig ist, fragt ihn der Gelehrte: „Haben Sie denn nie Grammatik studiert?“
„Nein.“
„Dann war ja die Hälfte Ihres Lebens verschwendet!“
Kurz darauf dreht sich Nasruddin zu seinem Passagier um: „Haben Sie jemals schwimmen gelernt?“
„Nein. Warum?“
„Dann war Ihr ganzes Leben verschwendet – wir sinken nämlich!“
Anhand dieser Geschichte wollen Sufis verdeutlichen, dass der Sufismus kein theoretisches Studium sei, sondern ausschließlich durch praktisches Handeln gelebt werden könne. Analog dazu sagen sie, dass es zwar viele Bücher über den Sufismus gibt; den Sufismus in den Büchern zu finden sei aber unmöglich. Analog dazu betrachten die Sufis einen Religionsgelehrten, der sein Wissen nicht praktiziert, als einen Esel, der eine schwere Last an Büchern trägt, die ihm aber nichts nützen, weil er schließlich nichts damit anfangen kann.
Ein Beispiel zu 3.:
Man sah Rabi'a in den Straßen von Basra, mit einem Eimer in der einen Hand und einer Fackel in der anderen. Gefragt, was das bedeute, antwortete sie: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern einzig und allein aus Liebe zu Ihm.“
Sufi-Musik
In vielen Tariqas ist auch die Praxis der Musik üblich, die oft nur aus Gesängen besteht, in anderen Tariqas aber auch instrumental begleitet wird. Die Musik ist ein Bestandteil des Dhikr, denn in den Liedern werden entweder die Namen Gottes rezitiert, oder die Liebe zu Gott beziehungsweise zum Propheten Mohammed besungen.
Einfluss auf den Westen
Die Auswirkungen des Sufismus blieben nicht nur auf die muslimische Welt beschränkt. Einflüsse hatte er unter anderem auf die Weltliteratur, die Musik und auf viele Kulturen Süd- und Osteuropas. So wurden beispielsweise Konzepte wie das der romantischen Liebe und der Ritterlichkeit vom Westen übernommen, als Europa mit den Sufis in Kontakt kam. Auch der spanische Arabist Miguel Asín Palacios erkannte während seiner Forschungen den enormen Einfluss des Gedankenguts der islamischen Mystiker auf die westliche Kultur.[10]
Viele Werke der westlichen Literatur zeigen einen Einfluss von Sufi-Geschichten. So bestätigte Cervantes selbst, dass sein Don Quijote sufistische Wurzeln hat.
Die Entwicklung der europäischen Theosophie war teilweise auch durch den Kontakt mit dem Sufismus geprägt. Das arabische Wort tasawwuf wird von den Theosophen auch als eine arabisierte Form des griechischen „Theosophie“ erklärt.
Für die Beliebtheit sufistischen Gedankengutes, das für die Bedürfnisse der westlichen Suchenden umgedeutet und angepasst wurde, lässt sich die Arbeit des indischen Musikers und Mystikers Hazrat Inayat Khan nennen, der den Internationalen Sufi-Orden mit rechtlichem Statut 1917 in London gründete.[11]
Auch bildeten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Westen Orden nach sufistischem Vorbild oder Ableger traditioneller Sufiorden, die teilweise auch nicht-muslimische Mitglieder akzeptieren. Manche vertreten sogar einen Sufismus ohne jeglichen Bezug zum Islam, was man am ehesten als einen „universellen Sufismus“ bezeichnen kann. Dies führte dazu, dass sich immer mehr westliche Suchende der islamischen Mystik öffnen konnten, ohne zum Islam konvertieren zu müssen, obwohl nach den schon weiter oben erwähnten Grundsätzen aller traditioneller Orden und deren Sheikhs die Tariqa unbedingt auf den Grundlagen der Schari’a fußt, während in der frühislamischen Zeit einige Sufis die Schari’a als Einengung des wahren Glaubens ablehnten. Nach Meinung der Anhänger des universellen Sufismus existiert diese Form der Mystik aber schon seit Bestehen der Menschheit, also auch schon länger als der geschichtliche Islam, weswegen sie den Sufismus nicht unbedingt allzu eng verknüpft mit dieser Religion sehen und ihn als eine weltumspannende Bewegung mit einer alle Religionen integrierenden Heilsbotschaft betrachten.
Ein prominenter Vertreter des universellen Sufismus ist beispielsweise Reshad Feild, der durch seine Erlebnisberichte viele westliche Leser mit dem Sufismus bekanntmachte.
Vor allem Osho übernahm in seinen auf den westlichen Menschen zugeschnittenen Meditationen und Therapien zahlreiche Elemente aus dem Sufismus. So ist seine für Sannyasins (Neo-Sannyas) empfohlene Dynamische Meditation eine Kombination sufistischer Techniken. Bei der Dynamischen Meditation praktizieren die Sannyasins sufistische Techniken wie kathartisches Atmen, stoßweise Intonierung der Silbe „Hu“ („HU“ gilt den Sufis als besonders mächtiger Name Gottes) sowie der anschließenden Stopp-Technik, bei der die Initianten für einen längeren Zeitraum regungslos verharren müssen. Auch beim „Sufi-Whirling“ übernehmen die Sannyasins die sufistische Technik des Kreistanzes, um ihr Bewusstsein zu klären.
Siehe auch:
Georges I. Gurdjieff
Lex Hixon
Mercan Dede Ensemble
Pete Townshend
Peter Gabriel
Peter Murphy
Klaus Wiese
Reshad Feild
Hazrat Inayat Khan
Muhammad Nazim Adil al-Qubrusi al-Haqqani
Verfolgung im Iran, in Saudi-Arabien und Pakistan
Die iranischen Basiji-Milizen werden von der iranischen Regierung gegen die schiitischen Derwische in Stellung gebracht. Im April 2006 setzte die Miliz Gebets- und Wohnhäuser von rund 1.200 Derwischen in der Stadt Qom in Brand.[12] Die Derwische sehen im Dschihad allein einen Kampf eines jeden Einzelnen um sein eigenes Seelenheil und keine Aufforderung zum Krieg.[12] Am 10. und 11. November 2007 räumte die Basiji Sufi-Gotteshäuser in der südwestiranischen Stadt Borudscherd. Dabei wurden 80 Personen verletzt. Bei der Räumung kamen Molotowcocktails und Bulldozer zum Einsatz. Nach Meinung des Sufi-Meisters Seyed Mostafa Azmayesh gehe es darum, die Derwisch-Bewegung auszulöschen.[12] Seit Monaten sei eine Kampagne in Zeitungen und von Predigern in Moscheen im Gange. Azmayesh befürchtet eine Wiederholung der Borudscherd-Vorfälle in der Stadt Karadsch. Obwohl der Nematollah-Derwisch-Orden zur Schia zählt, wird die Tariqa im Iran als unislamisch verfolgt.[12] Kommentatoren sehen als Grund die Furcht des iranischen Ajatollah-Regimes um seinen Anspruch auf Meinungsführerschaft in der Umma. Die weltoffene Auslegung des Korans durch die Derwische, verbunden mit Tanz und Musik, lässt die Bewegung unter jungen Leuten im Iran zunehmend Anhänger finden.[12]
Auch in Pakistan sind die Mystiker zunehmend ins Visier von Fundamentalisten, die den Taliban bzw. Al Qaida nahestehen, geraten. In den Jahren 2005 bis 2009 gab es neun Anschläge auf sufistische Schreine mit insgesamt 81 Toten.[13] Im Jahre 2010 gab es fünf Anschläge auf Schreine der Sufis, darunter einen Selbstmordanschlag auf das größte Heiligtum Pakistans, den Schrein des Data Gandsch Bakhsch im Zentrum Lahores, bei dem 45 Menschen starben, sowie zwei weitere Selbstmordanschläge auf den Schrein des Abdullah Shah Ghazis in Karachi, bei denen neun Personen getötet und 75 verletzt wurden.[14] Die ablehnende Haltung gegenüber dem Sufismus in Pakistan geht vor allem von den Deobandi und den Ahl-i Hadîth aus.[15]
In wahhabitisch beherrschten Saudi-Arabien wurde die Lehre von Sufismus als „Schirk“ (Götzendienst, Polytheismus) deklariert. Niederlassungen von Sufi-Bruderschaften sind in Saudi Arabien verboten. Insbesondere der Besuch von Schreinen sowie der Tanz und die Musik stoßen auf Ablehnung der wahhabitischen Fundamentalisten.[16] Die Wahhabiten zerstörten bereits vor Jahrzehnten konsequent alle Schreine, sogar die Schreine von Gefährten und Verwandten des Propheten, um die mystischen Kulte zu unterbinden.[17]
Siehe auch:
Ibn Taimiya
Imam Birgivi
Kritik
Kritik am Sufismus wird größtenteils von muslimisch-orthodoxer Seite geübt.
Die Musik war und ist oftmals ein Kritikpunkt der orthodoxen Gelehrten gegenüber der Sufis, weil sie nicht mit der koranischen Offenbarung vereinbar sei. Sie vertreten die Meinung, Musik, vor allem auch Tanz – und dadurch auch dem Tanz ähnliche Formen des Dhikr – sei heidnischen Ursprungs und daher unislamisch. Aus sufistischer Sicht stellt sich dies jedoch anders dar, denn es heißt, dass der Prophet Mohammed bei dem Einzug in Medina mit Musik vom Volk empfangen wurde. Auf die Frage, ob die Musik beendet werden solle, antwortete der Prophet, dass die Menschen auch Zeiten der Fröhlichkeit mit Musik feiern sollen. Für die Sufis ist die Musik Ausdruck der Freude in der Gegenwart Gottes.
Kritik am Sufismus existiert auch aus westlicher Sicht, denn der Sufismus sei mancherorts keineswegs toleranter als der Islam der schiitischen oder sunnitischen Rechtsschulen. Beispielsweise schreibt der deutsche Orientalist Tilman Nagel: „Die Annahme, einem rigiden, unduldsamen ‚Gesetzesislam‘ stehe eine ‚tolerante‘ sufistische Strömung entgegen, gehört zu den Fiktionen der europäischen Islamschwärmerei und wird durch die historischen Fakten tausendfach widerlegt.“
Siehe auch
Liste der Sufi-Orden
Liste islamischer Begriffe auf Arabisch
Quelle - literatur & Einzelnachweise
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