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    Die Radgenossenschaft der Landstrasse

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    Die Radgenossenschaft der Landstrasse Empty Die Radgenossenschaft der Landstrasse

    Beitrag  checker Mo Feb 09, 2015 9:09 am

    Die Radgenossenschaft der Landstrasse wurde 1975 als Selbstorganisation der Schweizer soziokulturellen Minderheit der „Fahrenden“ gegründet. Sie ist als Dachorganisation der „Fahrenden“, womit im Schweizer Recht sowohl Jenische als auch Manusch (Sinti) mit Schweizer Staatsbürgerschaft gemeint sind, staatlich anerkannt. Am schweizerischen öffentlichen und rechtlichen Diskurs zu „Fahrenden“ nimmt sie mit gewichtigen und anerkannten Beiträgen teil. Als Teilnehmerin staatlich getragener Beratungen wie auch als Verteilerstelle von Entschädigungszahlungen für Jenische und Sinti spielt sie eine anerkannte Rolle.

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    Gründungsversammlung der Radgenossenschaft in Bern, 1975

    Inzwischen hat sich ihr Selbstverständnis wesentlich gewandelt. Sie hat die ursprünglich enge Bindung an die Roma-Gemeinschaft gelöst und versteht sich heute in strikter Abgrenzung als Selbstorganisation zur „Wahrung der Interessen des jenischen Volkes in der Schweiz“.


    Geschichte
    Ausgangspunkt

    1972 deckten Schweizer Medien auf, dass zwischen 1926 und dem Beginn der 1970er Jahre um die 600 Kinder aus fahrenden Familien vom Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse zwangsweise ihren Familien fortgenommen und in Heim- und Anstaltserziehung sowie in mehrheitsgesellschaftliche Fremdfamilien umgesetzt worden waren. Im Zuge der gesellschaftlichen und politischen Diskussion des von weiten Teilen der Öffentlichkeit als massive Verletzung grundlegender Menschenrechte aufgenommenen sozialhygienisch motivierten Umerziehungsprogramms entstanden mehrere Selbstorganisationen von Betroffenen. 1973 wurden das Komitee „Pro Tzigania Svizzera“ und der „Jenische Schutzbund“ gegründet, denen 1975 die „Radgenossenschaft der Landstrasse“ folgte.[1] Die Gründung war getragen von Jenischen, Manusch, Roma und mehrheitsgesellschaftlichen Unterstützern. Eine wichtige Rolle spielten die jenische Journalistin und Schriftstellerin Mariella Mehr,[2] der Maler Walter Wegmüller, „Rom-Kind aus dem Stamm der Kalderasch“, wie Mehr Opfer der behördlichen Kindswegnahmen,[3] der der Minderheit der „Zigeuner“ nicht angehörende Schriftsteller Sergius Golowin, der Rom Dr. med. Jan Cibula, später erster Präsident der International Romani Union und zugleich Verwaltungsrat der Radgenossenschaft.
    Jenische und Roma als Gemeinschaft

    Die Radgenossenschaft verstand sich zum Zeitpunkt ihrer Gründung als Gesamtvertretung der schweizerischen „Zigeuner“ bzw. „Fahrenden“, womit sämtliche Gruppen mit soziokulturell oder ethnisch ähnlicher Geschichte gemeinsam gemeint waren. Sie erhob den Anspruch, alle Schweizer „Fahrenden“ zusammenzuführen.[4] Sie definierte sich in diesem Sinne als „Interessengemeinschaft des Fahrenden Volkes in der Schweiz“. Dazu betonte sie ihre Mitgliedschaft in der International Romani Union, zu deren Gründern die Schweizer Delegierten auf dem 2. Welt-Roma-Kongress in Genf 1978 gehörten, deren Sekretariat entsprechend ihrem Wunsch nach Bern, an den Wohnort des Gründungsaktivisten und Rom Jan Cibula kam, und der sie bis heute angehört. Die Radgenossenschaft hatte ein ausgeprägt internationalistisches Selbstverständnis. Die der Zahl nach dort dominierenden Schweizer Jenischen verstanden sich als Teil einer weltweiten Roma-Gemeinschaft.[5]

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    Selbstbeschreibung, 1991

    In den Leitungsorganen der Radgenossenschaft waren als „Fahrende“ Jenische und Roma vertreten. In den ausgehenden 1970er Jahren war ihr Vorsitzender („Präsident“) der genannte Walter Wegmüller. Ein Restbestand des ursprünglichen Selbstverständnisses hat sich entgegen allen grundlegenden Veränderungen bis in die jüngere Zeit in der öffentlichen Meinung erhalten: Noch 2003 wurde die Radgenossenschaft als „der einzige jenische Verband in Europa“, beschrieben, der auch die Interessen der Sinti und Roma vertreten wolle.[6]

    Während Roma, Sinti, Manusch und Jenische unter dem Dach der Radgenossenschaft zusammenkamen, grenzte man sich von anderen „Fahrenden“ ab, vertrat also nie alle Gruppen dieses Bevölkerungsteils: „Die Zigeuner bilden ein gemischte Gemeinschaft von Sinti, Romani und Jenischen, zusammengeschweisst durch ihr Schicksal, durch Verfolgung und Misstrauen der sesshaften Umwelt.“ Davon zu unterscheiden seien „die übrigen Fahrenden in der Schweiz, Schausteller, Jahrmarkthändler, Chilbi- und Zirkusleute“, weil sie aus „nichtzigeunerischen Familien“ kämen.[7]

    Die Radgenossenschaft war eingebettet in eine Bürgerrechtsbewegung gegen die soziale und rechtliche Diskriminierung von „Zigeunern“. In öffentlichen Aktionen machte sie auf die soziale und rechtliche Lage der Minderheit aufmerksam. Zu den bekanntesten von ihr initiierten Ereignissen gehört die Besetzung des Luzerner Lido durch 67 Wohnwagen im Jahre 1985, die zur Bereitstellung von Wohnwagenplätzen führte.[8]
    Neuorientierung

    1985 setzten sich in der Radgenossenschaft mehrheitlich ein neues Selbstverständnis und eine neue Aufgabenbestimmung durch, die in einen grundlegenden minderheits- und entschädigungspolitischen Strategiewechsel mündeten. Ein Teil der Funktionsträger und Mitglieder verliess daraufhin die Radgenossenschaft. Präsident wurde der Jenische Robert Huber, ein Vertreter des neuen Kurses. 2010 folgte ihm sein Sohn Daniel Huber in diese Funktion.

    Seit 1985 beschränkte die Radgenossenschaft sich auf die Vertretung der Schweizer Jenischen, mit Fokus auf die „fahrenden Jenischen“, und beendete die bis dahin enge Kooperation mit Organisationen der Roma-Gemeinschaft.[9] In der weiteren Folge erhob die Radgenossenschaft den Anspruch, es handle sich bei der Gruppe der Jenischen, die ein Volk bilden würden, um eine fünfte Ethnie der Schweiz. Sie grenzt sich seither ethnisch ab gegen die Gruppen der Schweizer Roma, wiewohl sie nach wie vor gehalten ist, diese z. B. in Entschädigungsfragen mitzuvertreten. So war im 18-köpfigen Beirat des Schweizer Fonds für bedürftige Opfer des Holocaust als Repräsentant der Opfergruppe der „Fahrenden“ neben dem Präsidenten der International Roma Union auch der jenische Präsident der Radgenossenschaft vertreten.[10]

    Die Radgenossenschaft verwirft heute ihre früheren Aussagen zu einer indischen Herkunft der Jenischen und betont deren Zugehörigkeit zum alteuropäischen Kulturkreis. Sie sieht sich als „Dachorganisation der Jenischen der Schweiz“. Ihre seit 1975 regelmässig erscheinende Zeitschrift Scharotl (i. e. „Wohnwagen“) formuliert das veränderte Selbstverständnis mit der Unterzeile „Zeitung des jenischen Volkes“, nachdem sie sich bis dahin als „offizielles Genossenschaftsorgan des Fahrenden Volkes der Schweiz“ beschrieb. Der Kurswechsel bringt die Radgenossenschaft in Übereinstimmung mit jenischen Interessenvereinigungen, die im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gegründet wurden, die sich nie anders verstanden und Jenische stets als Gruppe separater Ethnizität von Roma abgrenzten.[11]
    Reichweite

    Für die Schweiz wurden 1978/1983 zwischen 25.000 und 35.000 Menschen mit „(zumindest teilweise) jenischer Abstammung“ angenommen.[12] Die Zahl der regelmässig aktiv Fahrenden betrug 1999 nach einer Bestandsaufnahme der Nutzungszahlen der Schweizer Stand- und Durchgangsplätze etwa 2.500.[13] Die Nutzungsstatistik unterscheidet nicht nach Staatsbürgerschaft und Ethnizität. Die Angabe summiert mithin schweizerische und nichtschweizerische Fahrende, soweit sie die statistisch erfassten Plätze benutzten und nicht (z. B. wegen der für die oft grösseren, sogenannten „durchreisenden“ Gruppen zu klein dimensionierten offiziellen Durchgangsplätze) auf anderen Plätzen ihre Wohnwagen aufstellten. Eine Aussage über den Anteil der Jenischen ist demnach nicht möglich. Die Statistik unterscheidet nicht nach der Dauer des „Reisens“ im Jahresverlauf. Eine Aussage über den Anteil der dauerhaft vom Frühjahr bis zum Herbst nicht sesshaft Lebenden ist also ebenfalls nicht möglich. Gesichert ist jedoch, dass die übergrosse Mehrheit in der Schweiz nicht anders als im übrigen Europa seit langem ortsfest lebt und die traditionelle Erwerbsmigration eine untergeordnete Rolle spielt.

    Im Jahre 2008 hatte die Radgenossenschaft 114 Mitglieder, die Verbandszeitschrift 91 Abonnenten.[14]

    Die Radgenossenschaft ist vom Bund als der „Dachverband der Schweizer Fahrenden“ anerkannt. Seit 1986 wird sie aus Bundesmitteln subventioniert. Einen kleineren Teil dieser Mittel leitet die Radgenossenschaft an andere Fahrendenorganisationen weiter.[15] Unter „Fahrenden“ versteht der Bund, der den Wandel im Selbstverständnis der Radgenossenschaft wie insgesamt die Selbstethnisierung Jenischer nicht mitvollzog, nach wie vor sowohl fahrende Roma als auch Nichtroma: „Die Jenischen bilden die Hauptgruppe der Fahrenden schweizerischer Nationalität. Der Rest der Schweizer Fahrenden gehört zumeist der Gruppe der Sinti (Manusch) an.“ (Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, 2006).[16]
    Programmatik
    Tagespolitische Ziele

    Die tagespraktischen Zielsetzungen der Radgenossenschaft haben sich seit ihrer Gründung wenig verändert, in Teilen konnten sie erreicht werden. Sie bezogen und beziehen sich auf die Verbesserung der Erwerbs- und Lebensbedingungen der noch reisenden Marktbeschicker und Kleinhandwerker mit jenischem Selbstverständnis.

    Sozial-, bildungs- und beschäftigungspolitische Forderungen zur Verbesserung der Lage der häufig in sozialen Brennpunkten lebenden ortsfest gewordenen Jenischen (Massnahmen zur Verbesserung des Schul- und Ausbildungserfolgs und der Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der Wohnbedingungen, der Situation von kinderreichen und unvollständigen Familien etc.) erhebt die Radgenossenschaft nicht, wie sie insgesamt die Lebenslage dieses Teils der Minderheit öffentlich nicht thematisiert.

    Primäre Ziele sind:

    die Einrichtung einer hinreichenden Zahl gut ausgestatteter Standplätze als Winterquartiere,
    die Einrichtung einer hinreichenden Zahl gut ausgestatteter Durchgangsplätze für die Monate der „Reise“,
    die Vereinheitlichung der von Kanton zu Kanton unterschiedlichen Bedingungen (Auflagen und Gebühren) der Gewerbegenehmigung („Patente“),
    die Regelung des Schulbesuchs in einer Weise, dass Reise, Familienerwerb und Schulbesuch miteinander vereinbar würden.

    Die Zahl der Stand- und Durchgangsplätze wurde erhöht, die Patentbedingungen wurden vereinheitlicht.
    Minderheitspolitische Grundforderungen

    Neben den genannten alltagspraktischen Forderungen zur Verbesserung der Reisebedingungen und der wirtschaftlichen Konkurrenzsituation standen und stehen kultur- und allgemeinpolitische Forderungen. Von zentraler Bedeutung sind

    die staatliche Anerkennung der jenischen Sprache als zu schützendes Kulturgut. Inzwischen hat die Schweiz dem Jenischen mit der Ratifizierung der europäischen Sprachencharta 1997 den Status einer „territorial nicht gebundenen Sprache“ gegeben.[17]
    die Anerkennung der „Zigeuner“ als nationale Minderheit (1983).[18] Mit „Zigeunern“ waren zu diesem Zeitpunkt alle Fahrenden in der Schweiz unbeachtlich ihrer Ethnizität und unter Einschluss der Jenischen gemeint. Mit der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten wurde 1998 die multikulturelle Minderheit der Fahrenden mit Schweizer Staatsbürgerschaft als nationale Minderheit anerkannt.[19]

    Nichtschweizer Fahrende

    Seit den 1990er Jahren wurde zunehmend die Frage des Umgangs mit nichtschweizerischen fahrenden Roma ein Thema für die Radgenossenschaft. Sie sieht sich einer Flut ausländischer Roma gegenüber. Die Schweizer Jenischen würden inzwischen zur Minderheit auf den Schweizer Plätzen werden. Sie betont, „wie wichtig die Trennung dieser beiden verschiedenen Kulturen“ sei.[20]

    Kulturelle Unterschiede machen jenische Sprecher fest an

    einer für Jenische der Schweiz behaupteten typischen Kultur der Hygiene und des Umweltschutzes
    und an einer für Jenische der Schweiz behaupteten typischen freiheitlichen Christlichkeit.

    Die Erklärung für Konflikte zwischen den Gruppen, so 2009 der Vizepräsident und Geschäftsführer der Radgenossenschaft, ihr heutiger Präsident Daniel Huber, liege

    im unterschiedlichen Umgang mit der Umwelt, in der Körperpflege, in sozialen Belangen.
    Die fahrenden Roma „seien weniger freizügig und lebten eher wie in traditionellen islamischen Gesellschaften“.[21]

    Die Platzsituation, so die Radgenossenschaft, müsse den unterschiedlichen kulturellen Bedürfnissen der verschiedenen fahrenden Gruppen gerecht werden. Der vom Bund eingeforderte „Lebensraum“ in Gestalt der Stand- und Durchgangsplätze solle ausschliesslich Schweizer Fahrenden zur Verfügung stehen[22] bzw. es seien getrennte Plätze als „Auffangplätze“ für Roma einzurichten.
    Vorstand
    Präsidenten
    Jahre Präsident
    1975 - 1976 René Götschi
    1976 - 1978 Robert Waser
    1978 - 1981 Walter Wegmüller
    1981 - 1984 Paul Bertschi
    1984 - 1985 Genoveva Graff
    1985 - 2012 Robert Huber
    seit 2012 Daniel Huber
    weitere Mitglieder

    Die Schriftstellerin Mariella Mehr war Gründungsmitglied und von 1975 bis 1978 Sekretär. Weitere Vorstandsmitglieder waren: der Fotograf Rob Gnant 1977 - 1981, der Sprachwissenschafter Robert Schläpfer 1975 - 1981, der Schriftsteller Sergius Golowin 1975 - 2004, der Musiker Alfred "Baschi" Bangerter 1977 - 1983, Arzt und Roma-Politiker Jan Cibula 1977 - 1990 [23]
    Nachbarorganisationen

    Neben der Radgenossenschaft bestehen u. a. in der Schweiz die folgenden Zusammenschlüsse:

    das Fahrende Zigeuner-Kulturzentrum,[24]
    die Association Yenisch Suisse. Sie organisiert Jenische im französisch- und italienischsprachigen Teil der Schweiz;[25]
    die Evangelische Zigeunermission Schweiz – Leben und Licht, deren Präsident der Sinto May Bittel ist;
    die Stiftung Naschet Jenische, hervorgegangen aus der Aufgabe, Entschädigungsgelder an Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse zu verteilen, leistet inzwischen nur mehr Hilfe bei sozialen und persönlichen Problemen und informiert über jenische Kultur. Besondere Bedeutung haben Beratung und Betreuung von Hilfswerk-Opfern. [26]

    Die Vereine Jenischer Kulturverband Österreich e.V. und Jenischer Bund in Deutschland e.V. stehen insofern in Opposition zur Radgenossenschaft, als sie deren – inzwischen nurmehr historische – Definition Jenischer als „Stamm“ der Roma und die Mitgliedschaft der Radgenossenschaft in der IRU entschieden ablehnen.[27] Als „transnationaler Verein für jenische Zusammenarbeit und Kulturaustausch“ versteht sich Schäft qwant in Basel. Der Verein ist assoziiertes Mitglied der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen. Auch er grenzt Jenische und Roma voneinander ab.

    Siehe auch

    Jenische
    Jenische Sprache
    Sinti

    Quelle - Literatur & Einzelnachweise
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