Die Ständeordnung
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Die Ständeordnung
Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft Europas gliederte sich in mehrere Stände (lateinisch statūs, Singular status), auch Geburtsstände genannt. Stände sind gesellschaftliche Gruppen, die durch rechtliche Bestimmungen (Vorrechte oder Benachteiligungen) klar voneinander abgetrennt sind, wie zum Beispiel die Plebejer und Patrizier im antiken Rom. Das Ständewesen entwickelte sich während der Zeit der Karolinger aus der frühmittelalterlichen Ranggesellschaft[1] nach dem Vorbild des Römischen Reiches.
Kleriker, Ritter und Bauer.
(Cleric, Knight, and Peasant). British Library, Man.-Nr. Sloane 2435 f. 85, ca. 14./15. Jh.
Das Ständesystem war ein gesellschaftliches Ordnungsmodell, so wie es für spätere Zeiten die von Marx beschriebenen sozialen Klassen und die von Ralf Dahrendorf, Karl Martin Bolte und anderen in die Gesellschaftslehre eingeführten sozialen Schichten wurden. Die soziale Mobilität war in der Ständeordnung jedoch noch gering. Standesgrenzen bestanden vor allem durch unterschiedliche Herkunft.
Die Stände der Gesellschaft
Einteilungen des ständischen Systems
Die einfachste Vorstellung unterschied nur Obrigkeit und Untertanen. Dabei konnte dieselbe Person in ihren Beziehungen zu verschiedenen Mitgliedern der ständischen Gesellschaft gleichzeitig Obrigkeit und Untertan sein. Der Adlige war zum Beispiel Herr über die Bauern seiner Grundherrschaft und ebenso Untertan des Königs.
Mittelalterliches Ständebild, entworfen im Auftrag der Kirche im 15. Jahrhundert (erste Hälfte)
Verbreitet war die Drei-Stände-Ordnung, wie sie insbesondere für Frankreich charakteristisch war:
Der 1. Stand umfasste die Gruppe aller Geistlichen, das heißt Angehörige der hohen Geistlichkeit wie auch des niederen Klerus (Lehrstand).
Der 2. Stand bestand aus Mitgliedern des Adels, sei es aus dem Hochadel, dem niederen Adel oder auch aus dem oft verarmten Landadel (Wehrstand).
Der 3. Stand umfasste nominell alle freien Bürger, manchenorts auch freie Bauern (Nährstand).
Eine weitergehende Untergliederung der drei Hauptstände war in fast allen europäischen Ländern üblich. Die Position des Einzelnen hing dabei von verschiedenen Faktoren ab:
der Art des Broterwerbs – Berufsstand, Bauernstand,
der Position in einem Familienverband – Ehestand, Hausvater, Knecht, Hausgenosse
den Rechten, die der Einzelne in der städtischen Kommune (ratsfähige Bürger, Bürger, Einwohner) oder in der ländlichen Gemeinde hatte (Erbrichter, bäuerliches Gemeindemitglied, Häusler).
An der Spitze der Ständepyramide standen die Fürsten und der König oder Kaiser beziehungsweise bei den Geistlichen die Bischöfe und der Papst. Im dritten Stand dagegen war die große Mehrheit der Bevölkerung versammelt, die keine oder nur sehr begrenzte Herrschaftsrechte (zum Beispiel gegenüber dem Gesinde) besaß.
Die Ständeordnung in der 1488 erschienenen Pronostacio des Astrologen Johannes Lichtenberger: Jesus Christus weist den drei Ständen ihre Aufgaben zu: Tu supplex ora („du bete demütig!“) zum Klerus, Tu protege („du beschütze!“) zu Kaiser und Fürsten, Tuque labora („und du arbeite!“) zu den Bauern.
Das ständische System galt den Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit als feste, von Gott gegebene Ordnung, in der jeder seinen unveränderlichen Platz hatte. Für den Adel und den dritten Stand galt, dass jeder zunächst den Stand seines Vaters übernahm. Ein Wechsel zwischen Ständen war nicht unmöglich, in der Praxis jedoch selten. Verdienst oder Reichtum hatten kaum Einfluss auf die Ständezugehörigkeit. So konnte etwa ein Bürger, der als Kaufmann an viel Geld gekommen war, wesentlich vermögender sein als ein armer Adliger. Das ständische System ist ein statisches Gesellschaftsmodell. In der mittelalterlichen Theorie waren den drei Hauptständen bestimmte Aufgaben zugewiesen. Der erste Stand hatte für das Seelenheil zu sorgen, der zweite Stand sollte Klerus und Volk gegen Feinde verteidigen, Aufgabe des dritten Standes war die Arbeit. Entsprechend der Stellung in der Gesellschaft hatte man sich einer standesgemäßen Lebensweise zu befleißigen. Dazu gehörte zum Beispiel auch, dass jeder Stand bestimmten mittelalterlichen Kleidungsvorschriften unterworfen war.
Die beschränkte soziale Mobilität der vormodernen Ständegesellschaft bedeutete jedoch nicht, dass eine Person in einen Stand hineingeboren wurde und in ihm zu verbleiben hatte: prinzipiell war es selbst beim Adelsstatus möglich, diesen zu erwerben oder zu verlieren. Auch konnte eine Person mehreren Ständen gleichzeitig angehören beziehungsweise in unterschiedlichen Situationen als Vertreter unterschiedlicher Stände auftreten.[2] Beides trifft insbesondere auf den Gelehrtenstand zu, in den man nicht hineingeboren werden konnte, sondern in den man erst durch Ausbildung und die Tätigkeit als Autor eintrat.[3] In diesen Punkten unterscheidet sich die europäische Ständegesellschaft deutlich zum Beispiel vom indischen Kastensystem, mit dem sie gelegentlich gleichgesetzt wird.
Entwicklung seit dem Spätmittelalter
Symbolische Darstellung des Kaisers als Spitze der ständischen Ordnung: Die weltlichen und geistlichen Stände (einschließlich des Papstes) huldigen Kaiser Maximilian I. Aus: Liber missarum der Magarethe von Österreich, von Petrus Almaire (um 1515).
In der Praxis war das ständische System daher – vor allem seit dem ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit – nicht ganz so undurchlässig wie als theoretisches Konstrukt. Schon vorher war der Weg in den geistlichen Stand eine wichtige Ausnahme. Auch Bauern- und Handwerkersöhne konnten gelegentlich bis zum Bischof aufsteigen. Später, vor allem seit dem 14. Jahrhundert, wurde es nach und nach Praxis, dass die Fürsten die Bildung des Amtsadels förderten, also Angehörige des dritten Standes mit einem speziellen Amt beauftragten und sie mit einem Adelstitel belohnten. Auch innerhalb der drei Hauptstände war ein Aufstieg in der frühen Neuzeit keine Seltenheit, indem man zum Beispiel das Bürgerrecht einer Stadt erwarb. Bildung konnte ebenfalls den Weg über die Standesschranken öffnen. Ein studierter Jurist, der von einer Kommune als Stadtschreiber angestellt wurde, fand nicht selten Eingang in die Gruppe der ratsfähigen Bürger. Ebenso konnte der geistliche Stand in einem begrenzten Maße einen Aufstiegskanal darstellen. Der Abstieg aus dem Geburtsstand konnte erfolgen, wenn man zum Beispiel als Adliger aus finanziellen Gründen nicht mehr zu einer standesgemäßen Lebensweise in der Lage war.
«Die Drei Stände» in der handschriftlichen Chronik der Herrschaft Grüningen von 1610. Der «Gelehrte» betet für alle, der «Kaiser» streitet für alle, der «Bauer» ernährt alle.
Die Auffächerung des ständischen Systems und die zunehmende Durchlässigkeit der Standesschranken waren der fortschreitenden Differenzierung der Gesellschaft geschuldet. Für viele neue Funktionen und Ämter hatte die ursprüngliche mittelalterliche Ständeordnung keinen rechten Platz. Trotzdem wurde das ständische Gesellschaftsmodell bis ins 18. Jahrhundert hinein nie grundsätzlich in Frage gestellt. Auch die Kirche hielt daran fest. Als Martin Luther über die Freiheit des Christenmenschen schrieb, schränkte er diese ausschließlich auf die Beziehung des Individuums zu Gott ein. Im irdischen Leben habe dagegen jedermann ohne aufzubegehren an seinem Platz in der ständischen Ordnung zu verharren.
Dennoch kann man in der Dreiständelehre Luthers gewisse Modifikationen innerhalb des überlieferten Ständeschemas erkennen. Durch Luthers strikte Trennung des geistlichen vom weltlichen Reich (Zwei-Reiche-Lehre) war die alte Frage, wem die Oberherrschaft im weltlichen Bereich (Kaiser oder Papst) zukam, klar für Kaiser und Fürsten entschieden. Der dritte Stand wurde zudem nun vornehmlich als Hausstand definiert, innerhalb dessen der Hausvater über die anderen Hausangehörigen (Ehefrau, Kinder, Gesinde) herrschte. Die Unterordnungsverhältnisse fassten Luther und seine Nachfolger innerhalb des Schemas nicht mehr zwischen den drei Ständen, sondern verlegten sie in die drei Hauptstände hinein: In der ecclesia (Kirche) standen die Prediger der Gemeinde gegenüber, in der politia (weltlicher Regierstand) die Obrigkeit den Untertanen und in der oeconomia (Hausstand) das Elternpaar den Kindern und dem Gesinde. Da auch protestantische Geistliche verheiratet sein sollten, befanden auch sie sich nun im Hausstand. Auf diese Weise wurden alle Menschen zugleich in allen drei Ständen verortet, die deshalb auch als genera vitae (Lebensbereiche) bezeichnet wurden. Theoretisch waren damit die drei Stände nebeneinander und nicht mehr untereinander angeordnet. In der Wirklichkeit wurden die Herrschaftsverhältnisse dadurch jedoch nicht angetastet. Der dritte Stand blieb weiterhin (im Widerspruch zu dem theoretischen Modell) zugleich auch der Untertanenstand.
Politische Stände
In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständeordnung hatten die privilegierten Stände im Gegensatz zu den später aufkommenden absolutistischen Systemen politische Mitspracherechte und Befugnisse.
Charakter
Im Unterschied zum demokratischen Staat waren im ständischen Gemeinwesen nicht alle Landesbewohner zur politischen Mitwirkung berechtigt, sondern nur jene, die gewisse Leistungen erbrachten oder bestimmte Privilegien besaßen. Die Repräsentanten des Landes wurden nicht gewählt, sondern sie saßen aufgrund ihrer Geburt (der Adel) oder durch ein Amt (zum Beispiel Äbte) im Landtag. Diese Landstände vertraten dort nicht ihre Untertanen, sondern sie sprachen für sich selbst. Wer die Landstandschaft besaß, hatte das Recht, in eigener Person auf dem Landtag zu erscheinen. Grundsätzlich handelte es sich um ein dualistisches System, bei dem sich die Gesamtheit der Stände – auch Landschaft genannt – und der Landesfürst gegenüberstanden. Den Anspruch auf Autonomie als Stand beziehungsweise Standesperson, welcher sich aus dem Bewusstsein eines Standes speiste, seine Rechte von Geburt her (also aus eigenem Recht) zu besitzen, formulierte man mit Beginn der Neuzeit zunehmend mit dem Pochen auf die ständische Libertät.
Struktur
Die Struktur dieser ständischen Vertretungen und ihre Befugnisse waren historisch bedingt von Land zu Land verschieden, und sie änderten sich im Laufe der Zeit. Je nachdem waren unterschiedliche Stände politisch berechtigt und im Landtag vertreten. Fast immer war der Adel dabei, der sich häufig noch in Herren und Ritter gliederte (Herren- und Ritterstand). Die hohe Geistlichkeit galt auch unter den politischen Ständen meist als der erste, allerdings wurde ihr dieser Platz gelegentlich von den Herren streitig gemacht. Einen eigenen Stand formierten häufig die Städte. Selten waren auch Landgemeinden als politisch berechtigter Stand in den Landtagen vertreten (zum Beispiel die Täler und Gerichte in Tirol). Die verschiedenen Ständegruppen bildeten auf den Landtagen eigene Kurien. Der Erwerb der Landstandschaft war stark reglementiert. Meist legten die Stände selbst die Bedingungen für die Aufnahme neuer Mitglieder fest; mancherorts redete dabei auch der Fürst mit. Der Landesherr gehörte in politischer Hinsicht nicht zu den Ständen.
Die Abstimmungen im Landtag fanden fast überall nach Kurien statt. Das heißt, zuerst einigte man sich innerhalb des eigenen Standes – dabei kam in der Regel das Mehrheitsprinzip zur Anwendung –, dann verglich man die Voten der einzelnen Stände. Ein Landtagsbeschluss kam zustande, wenn Einstimmigkeit der Kurien erzielt wurde. Nur wenige Länder ließen hier ebenfalls das Mehrheitsprinzip gelten. Zu entscheiden hatten die Stände vor allem über Steuerbewilligungen, vielerorts auch über interne Angelegenheiten.
Neben der Teilnahme an den Landtagen gelang es den Ständen auch, wichtige Ämter ausschließlich für ihre Mitglieder zu reservieren. Vor allem die Finanzverwaltung des Landes war lange in ständischer Hand, ehe sie von den nach absoluter Macht strebenden Fürsten übernommen werden konnte.
Der Höhepunkt ständischer Macht lag in den meisten europäischen Ländern in der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. In manchen evangelisch gewordenen Territorien verschwanden die Klöster und Stifte im Laufe des 16. Jahrhunderts aus dem ständischen System, in anderen (zum Beispiel in Württemberg und im Königreich Hannover) nahmen evangelische Prälaten die Rechte ihrer katholischen Vorgänger wahr.
Regionale Besonderheiten
In den Niederlanden gelang es den Ständen, die politische Macht ganz in die eigenen Hände zu nehmen und die Herrschaft sowohl des Landesfürsten als auch des Kaisers zu beseitigen. Die Bezeichnung Generalstaaten (Generalversammlung der Stände) für die Niederlande im 17. Jahrhundert weist darauf hin. In der Schweiz wurden die Kantone als Stände bezeichnet (ihre parlamentarische Vertretung nennt sich noch heute Ständerat), in den Niederlanden die Provinzen. Adel und Klerus waren als politische Stände verschwunden. In Niedersachsen existieren Landschaften mit ständischer Verfassung bis heute fort.
In den Ländern der iberischen Halbinsel wurden die Versammlungen der politischen Stände Cortes genannt.
Die Zusammensetzung der politischen Stände in verschiedenen Ländern (im 16. Jahrhundert)
Land
Stände
Bemerkungen
Bayern Prälaten, Adel, Städte und Märkte –[4]
Böhmen Herren, Ritter, Städte Seit der hussitischen Revolution gab es keinen geistlichen Stand mehr.
Mähren Herren, Ritter, Städte dazu noch der Bischof von Olmütz
Niederlausitz Herren, Ritter, Städte Die Äbte von Neuzelle gehörten seit der Reformation zum Herrenstand.
Oberlausitz „Land“ und Städte Der Landstand besteht aus Prälaten und Adel mit einer gemeinsamen Stimme.
Niederösterreich Prälaten, Herren, Ritter, Städte –
Oberösterreich Prälaten, Herren, Ritter, Städte –
Tirol Prälaten, Adel, Städte, Bauern Die Bauern waren über die ländlichen Gerichtsgemeinden vertreten.
Kurfürstentum Sachsen Adel und Städte Der Adel war unterteilt in Amtssassen und Schriftsassen.
Mecklenburg Grundherren (Ritterschaft), Prälaten und Städte (Landschaft) Die Prälaten entfallen 1549 mit der Reformation.
Land Hadeln Hochland, Sietland und das Weichbild Otterndorf Die drei Hadler Stände wurden fast ausschließlich von Großbauern gebildet.
Ständestaat
Einen ideologischen Rückgriff auf die Ständeordnung bilden Ideen des Ständestaates, wie sie vor allem von katholischen Politikern und Sozialreformern seit dem späteren 19. Jahrhundert vertreten wurden und die auch in der Enzyklika Quadragesimo Anno von Papst Pius XI. auftauchen. Begrifflich handelt es sich um einen Bastard, da die Ständeordnung moderner Staatlichkeit vorausgeht und durch diese abgelöst wurde. Die Idee, die Gesellschaft nach Berufsgruppen oder Ständen zu gliedern, entstand als Protest gegen den liberalen Kapitalismus und der ihm inhärenten Gefahr sozialen Abstiegs. Mit dieser antiliberalen Stoßrichtung verwandelte sich diese Idee nach und nach zu einem Deckmantel für antidemokratische Tendenzen, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Ständestaat nannte sich vor allem das zumindest teilweise an den Faschismus angelehnte autoritäre Regierungssystem im Ständestaat Österreich von 1934 bis 1938 (Austrofaschismus).
Siehe auch
Feudalismus
Kaste
Klassengesellschaft
Landstände
Landschaft (Landstände)
Lehnswesen
Ständegesellschaft
Ständeliteratur
Ständische Libertät
Zunft
Quelle - literatur & Einzelnachweise
Kleriker, Ritter und Bauer.
(Cleric, Knight, and Peasant). British Library, Man.-Nr. Sloane 2435 f. 85, ca. 14./15. Jh.
Das Ständesystem war ein gesellschaftliches Ordnungsmodell, so wie es für spätere Zeiten die von Marx beschriebenen sozialen Klassen und die von Ralf Dahrendorf, Karl Martin Bolte und anderen in die Gesellschaftslehre eingeführten sozialen Schichten wurden. Die soziale Mobilität war in der Ständeordnung jedoch noch gering. Standesgrenzen bestanden vor allem durch unterschiedliche Herkunft.
Die Stände der Gesellschaft
Einteilungen des ständischen Systems
Die einfachste Vorstellung unterschied nur Obrigkeit und Untertanen. Dabei konnte dieselbe Person in ihren Beziehungen zu verschiedenen Mitgliedern der ständischen Gesellschaft gleichzeitig Obrigkeit und Untertan sein. Der Adlige war zum Beispiel Herr über die Bauern seiner Grundherrschaft und ebenso Untertan des Königs.
Mittelalterliches Ständebild, entworfen im Auftrag der Kirche im 15. Jahrhundert (erste Hälfte)
Verbreitet war die Drei-Stände-Ordnung, wie sie insbesondere für Frankreich charakteristisch war:
Der 1. Stand umfasste die Gruppe aller Geistlichen, das heißt Angehörige der hohen Geistlichkeit wie auch des niederen Klerus (Lehrstand).
Der 2. Stand bestand aus Mitgliedern des Adels, sei es aus dem Hochadel, dem niederen Adel oder auch aus dem oft verarmten Landadel (Wehrstand).
Der 3. Stand umfasste nominell alle freien Bürger, manchenorts auch freie Bauern (Nährstand).
Eine weitergehende Untergliederung der drei Hauptstände war in fast allen europäischen Ländern üblich. Die Position des Einzelnen hing dabei von verschiedenen Faktoren ab:
der Art des Broterwerbs – Berufsstand, Bauernstand,
der Position in einem Familienverband – Ehestand, Hausvater, Knecht, Hausgenosse
den Rechten, die der Einzelne in der städtischen Kommune (ratsfähige Bürger, Bürger, Einwohner) oder in der ländlichen Gemeinde hatte (Erbrichter, bäuerliches Gemeindemitglied, Häusler).
An der Spitze der Ständepyramide standen die Fürsten und der König oder Kaiser beziehungsweise bei den Geistlichen die Bischöfe und der Papst. Im dritten Stand dagegen war die große Mehrheit der Bevölkerung versammelt, die keine oder nur sehr begrenzte Herrschaftsrechte (zum Beispiel gegenüber dem Gesinde) besaß.
Die Ständeordnung in der 1488 erschienenen Pronostacio des Astrologen Johannes Lichtenberger: Jesus Christus weist den drei Ständen ihre Aufgaben zu: Tu supplex ora („du bete demütig!“) zum Klerus, Tu protege („du beschütze!“) zu Kaiser und Fürsten, Tuque labora („und du arbeite!“) zu den Bauern.
Das ständische System galt den Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit als feste, von Gott gegebene Ordnung, in der jeder seinen unveränderlichen Platz hatte. Für den Adel und den dritten Stand galt, dass jeder zunächst den Stand seines Vaters übernahm. Ein Wechsel zwischen Ständen war nicht unmöglich, in der Praxis jedoch selten. Verdienst oder Reichtum hatten kaum Einfluss auf die Ständezugehörigkeit. So konnte etwa ein Bürger, der als Kaufmann an viel Geld gekommen war, wesentlich vermögender sein als ein armer Adliger. Das ständische System ist ein statisches Gesellschaftsmodell. In der mittelalterlichen Theorie waren den drei Hauptständen bestimmte Aufgaben zugewiesen. Der erste Stand hatte für das Seelenheil zu sorgen, der zweite Stand sollte Klerus und Volk gegen Feinde verteidigen, Aufgabe des dritten Standes war die Arbeit. Entsprechend der Stellung in der Gesellschaft hatte man sich einer standesgemäßen Lebensweise zu befleißigen. Dazu gehörte zum Beispiel auch, dass jeder Stand bestimmten mittelalterlichen Kleidungsvorschriften unterworfen war.
Die beschränkte soziale Mobilität der vormodernen Ständegesellschaft bedeutete jedoch nicht, dass eine Person in einen Stand hineingeboren wurde und in ihm zu verbleiben hatte: prinzipiell war es selbst beim Adelsstatus möglich, diesen zu erwerben oder zu verlieren. Auch konnte eine Person mehreren Ständen gleichzeitig angehören beziehungsweise in unterschiedlichen Situationen als Vertreter unterschiedlicher Stände auftreten.[2] Beides trifft insbesondere auf den Gelehrtenstand zu, in den man nicht hineingeboren werden konnte, sondern in den man erst durch Ausbildung und die Tätigkeit als Autor eintrat.[3] In diesen Punkten unterscheidet sich die europäische Ständegesellschaft deutlich zum Beispiel vom indischen Kastensystem, mit dem sie gelegentlich gleichgesetzt wird.
Entwicklung seit dem Spätmittelalter
Symbolische Darstellung des Kaisers als Spitze der ständischen Ordnung: Die weltlichen und geistlichen Stände (einschließlich des Papstes) huldigen Kaiser Maximilian I. Aus: Liber missarum der Magarethe von Österreich, von Petrus Almaire (um 1515).
In der Praxis war das ständische System daher – vor allem seit dem ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit – nicht ganz so undurchlässig wie als theoretisches Konstrukt. Schon vorher war der Weg in den geistlichen Stand eine wichtige Ausnahme. Auch Bauern- und Handwerkersöhne konnten gelegentlich bis zum Bischof aufsteigen. Später, vor allem seit dem 14. Jahrhundert, wurde es nach und nach Praxis, dass die Fürsten die Bildung des Amtsadels förderten, also Angehörige des dritten Standes mit einem speziellen Amt beauftragten und sie mit einem Adelstitel belohnten. Auch innerhalb der drei Hauptstände war ein Aufstieg in der frühen Neuzeit keine Seltenheit, indem man zum Beispiel das Bürgerrecht einer Stadt erwarb. Bildung konnte ebenfalls den Weg über die Standesschranken öffnen. Ein studierter Jurist, der von einer Kommune als Stadtschreiber angestellt wurde, fand nicht selten Eingang in die Gruppe der ratsfähigen Bürger. Ebenso konnte der geistliche Stand in einem begrenzten Maße einen Aufstiegskanal darstellen. Der Abstieg aus dem Geburtsstand konnte erfolgen, wenn man zum Beispiel als Adliger aus finanziellen Gründen nicht mehr zu einer standesgemäßen Lebensweise in der Lage war.
«Die Drei Stände» in der handschriftlichen Chronik der Herrschaft Grüningen von 1610. Der «Gelehrte» betet für alle, der «Kaiser» streitet für alle, der «Bauer» ernährt alle.
Die Auffächerung des ständischen Systems und die zunehmende Durchlässigkeit der Standesschranken waren der fortschreitenden Differenzierung der Gesellschaft geschuldet. Für viele neue Funktionen und Ämter hatte die ursprüngliche mittelalterliche Ständeordnung keinen rechten Platz. Trotzdem wurde das ständische Gesellschaftsmodell bis ins 18. Jahrhundert hinein nie grundsätzlich in Frage gestellt. Auch die Kirche hielt daran fest. Als Martin Luther über die Freiheit des Christenmenschen schrieb, schränkte er diese ausschließlich auf die Beziehung des Individuums zu Gott ein. Im irdischen Leben habe dagegen jedermann ohne aufzubegehren an seinem Platz in der ständischen Ordnung zu verharren.
Dennoch kann man in der Dreiständelehre Luthers gewisse Modifikationen innerhalb des überlieferten Ständeschemas erkennen. Durch Luthers strikte Trennung des geistlichen vom weltlichen Reich (Zwei-Reiche-Lehre) war die alte Frage, wem die Oberherrschaft im weltlichen Bereich (Kaiser oder Papst) zukam, klar für Kaiser und Fürsten entschieden. Der dritte Stand wurde zudem nun vornehmlich als Hausstand definiert, innerhalb dessen der Hausvater über die anderen Hausangehörigen (Ehefrau, Kinder, Gesinde) herrschte. Die Unterordnungsverhältnisse fassten Luther und seine Nachfolger innerhalb des Schemas nicht mehr zwischen den drei Ständen, sondern verlegten sie in die drei Hauptstände hinein: In der ecclesia (Kirche) standen die Prediger der Gemeinde gegenüber, in der politia (weltlicher Regierstand) die Obrigkeit den Untertanen und in der oeconomia (Hausstand) das Elternpaar den Kindern und dem Gesinde. Da auch protestantische Geistliche verheiratet sein sollten, befanden auch sie sich nun im Hausstand. Auf diese Weise wurden alle Menschen zugleich in allen drei Ständen verortet, die deshalb auch als genera vitae (Lebensbereiche) bezeichnet wurden. Theoretisch waren damit die drei Stände nebeneinander und nicht mehr untereinander angeordnet. In der Wirklichkeit wurden die Herrschaftsverhältnisse dadurch jedoch nicht angetastet. Der dritte Stand blieb weiterhin (im Widerspruch zu dem theoretischen Modell) zugleich auch der Untertanenstand.
Politische Stände
In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständeordnung hatten die privilegierten Stände im Gegensatz zu den später aufkommenden absolutistischen Systemen politische Mitspracherechte und Befugnisse.
Charakter
Im Unterschied zum demokratischen Staat waren im ständischen Gemeinwesen nicht alle Landesbewohner zur politischen Mitwirkung berechtigt, sondern nur jene, die gewisse Leistungen erbrachten oder bestimmte Privilegien besaßen. Die Repräsentanten des Landes wurden nicht gewählt, sondern sie saßen aufgrund ihrer Geburt (der Adel) oder durch ein Amt (zum Beispiel Äbte) im Landtag. Diese Landstände vertraten dort nicht ihre Untertanen, sondern sie sprachen für sich selbst. Wer die Landstandschaft besaß, hatte das Recht, in eigener Person auf dem Landtag zu erscheinen. Grundsätzlich handelte es sich um ein dualistisches System, bei dem sich die Gesamtheit der Stände – auch Landschaft genannt – und der Landesfürst gegenüberstanden. Den Anspruch auf Autonomie als Stand beziehungsweise Standesperson, welcher sich aus dem Bewusstsein eines Standes speiste, seine Rechte von Geburt her (also aus eigenem Recht) zu besitzen, formulierte man mit Beginn der Neuzeit zunehmend mit dem Pochen auf die ständische Libertät.
Struktur
Die Struktur dieser ständischen Vertretungen und ihre Befugnisse waren historisch bedingt von Land zu Land verschieden, und sie änderten sich im Laufe der Zeit. Je nachdem waren unterschiedliche Stände politisch berechtigt und im Landtag vertreten. Fast immer war der Adel dabei, der sich häufig noch in Herren und Ritter gliederte (Herren- und Ritterstand). Die hohe Geistlichkeit galt auch unter den politischen Ständen meist als der erste, allerdings wurde ihr dieser Platz gelegentlich von den Herren streitig gemacht. Einen eigenen Stand formierten häufig die Städte. Selten waren auch Landgemeinden als politisch berechtigter Stand in den Landtagen vertreten (zum Beispiel die Täler und Gerichte in Tirol). Die verschiedenen Ständegruppen bildeten auf den Landtagen eigene Kurien. Der Erwerb der Landstandschaft war stark reglementiert. Meist legten die Stände selbst die Bedingungen für die Aufnahme neuer Mitglieder fest; mancherorts redete dabei auch der Fürst mit. Der Landesherr gehörte in politischer Hinsicht nicht zu den Ständen.
Die Abstimmungen im Landtag fanden fast überall nach Kurien statt. Das heißt, zuerst einigte man sich innerhalb des eigenen Standes – dabei kam in der Regel das Mehrheitsprinzip zur Anwendung –, dann verglich man die Voten der einzelnen Stände. Ein Landtagsbeschluss kam zustande, wenn Einstimmigkeit der Kurien erzielt wurde. Nur wenige Länder ließen hier ebenfalls das Mehrheitsprinzip gelten. Zu entscheiden hatten die Stände vor allem über Steuerbewilligungen, vielerorts auch über interne Angelegenheiten.
Neben der Teilnahme an den Landtagen gelang es den Ständen auch, wichtige Ämter ausschließlich für ihre Mitglieder zu reservieren. Vor allem die Finanzverwaltung des Landes war lange in ständischer Hand, ehe sie von den nach absoluter Macht strebenden Fürsten übernommen werden konnte.
Der Höhepunkt ständischer Macht lag in den meisten europäischen Ländern in der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. In manchen evangelisch gewordenen Territorien verschwanden die Klöster und Stifte im Laufe des 16. Jahrhunderts aus dem ständischen System, in anderen (zum Beispiel in Württemberg und im Königreich Hannover) nahmen evangelische Prälaten die Rechte ihrer katholischen Vorgänger wahr.
Regionale Besonderheiten
In den Niederlanden gelang es den Ständen, die politische Macht ganz in die eigenen Hände zu nehmen und die Herrschaft sowohl des Landesfürsten als auch des Kaisers zu beseitigen. Die Bezeichnung Generalstaaten (Generalversammlung der Stände) für die Niederlande im 17. Jahrhundert weist darauf hin. In der Schweiz wurden die Kantone als Stände bezeichnet (ihre parlamentarische Vertretung nennt sich noch heute Ständerat), in den Niederlanden die Provinzen. Adel und Klerus waren als politische Stände verschwunden. In Niedersachsen existieren Landschaften mit ständischer Verfassung bis heute fort.
In den Ländern der iberischen Halbinsel wurden die Versammlungen der politischen Stände Cortes genannt.
Die Zusammensetzung der politischen Stände in verschiedenen Ländern (im 16. Jahrhundert)
Land
Stände
Bemerkungen
Bayern Prälaten, Adel, Städte und Märkte –[4]
Böhmen Herren, Ritter, Städte Seit der hussitischen Revolution gab es keinen geistlichen Stand mehr.
Mähren Herren, Ritter, Städte dazu noch der Bischof von Olmütz
Niederlausitz Herren, Ritter, Städte Die Äbte von Neuzelle gehörten seit der Reformation zum Herrenstand.
Oberlausitz „Land“ und Städte Der Landstand besteht aus Prälaten und Adel mit einer gemeinsamen Stimme.
Niederösterreich Prälaten, Herren, Ritter, Städte –
Oberösterreich Prälaten, Herren, Ritter, Städte –
Tirol Prälaten, Adel, Städte, Bauern Die Bauern waren über die ländlichen Gerichtsgemeinden vertreten.
Kurfürstentum Sachsen Adel und Städte Der Adel war unterteilt in Amtssassen und Schriftsassen.
Mecklenburg Grundherren (Ritterschaft), Prälaten und Städte (Landschaft) Die Prälaten entfallen 1549 mit der Reformation.
Land Hadeln Hochland, Sietland und das Weichbild Otterndorf Die drei Hadler Stände wurden fast ausschließlich von Großbauern gebildet.
Ständestaat
Einen ideologischen Rückgriff auf die Ständeordnung bilden Ideen des Ständestaates, wie sie vor allem von katholischen Politikern und Sozialreformern seit dem späteren 19. Jahrhundert vertreten wurden und die auch in der Enzyklika Quadragesimo Anno von Papst Pius XI. auftauchen. Begrifflich handelt es sich um einen Bastard, da die Ständeordnung moderner Staatlichkeit vorausgeht und durch diese abgelöst wurde. Die Idee, die Gesellschaft nach Berufsgruppen oder Ständen zu gliedern, entstand als Protest gegen den liberalen Kapitalismus und der ihm inhärenten Gefahr sozialen Abstiegs. Mit dieser antiliberalen Stoßrichtung verwandelte sich diese Idee nach und nach zu einem Deckmantel für antidemokratische Tendenzen, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Ständestaat nannte sich vor allem das zumindest teilweise an den Faschismus angelehnte autoritäre Regierungssystem im Ständestaat Österreich von 1934 bis 1938 (Austrofaschismus).
Siehe auch
Feudalismus
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