Die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei
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Die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei
Die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei (tschechisch Odsun, wörtlich ‚Abschiebung‘ oder ‚Abtransport‘[1], besonders auch Abschub) betraf bis zu drei Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei in den Jahren 1945 und 1946.
Deutsche Siedlungsgebiete in den böhmischen Ländern
Vertriebene Sudetendeutsche (1945)
Die Sudetendeutschen, auch Deutschböhmen und Deutschmährer sowie die Sudetenschlesier genannt, wurden 1945/1946 unter Androhung und Anwendung von Gewalt zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Nach dem Beneš-Dekret 108 vom 25. Oktober 1945 wurde das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen (Immobilien und Vermögensrechte) der deutschen Einwohner konfisziert und unter staatliche Verwaltung gestellt.[2]
Politischer Sprachgebrauch
Die Kommunistische und postkommunistische Geschichtsschreibung wie auch die gegenwärtigen Staatsorgane und die Mehrheit der Tschechen benutzen für diese Vorgänge überwiegend die Ausdrücke „Abschiebung“ oder „Aussiedlung“ (tschech. odsun, vysídlení), nicht „Vertreibung“ (tschech. vyhnáni).
Peter Glotz hat in seinem Buch Die Vertreibung die menschenrechtliche Problematik aus deutscher Sicht thematisiert. Unter diesem Aspekt erscheinen die Begriffe „Abschiebung“ und „Aussiedlung“ als Euphemismen.
Tschechen und Deutsche konnten sich bis heute nicht auf eine gemeinsame Bezeichnung für die Deportationen einigen: Wer über Abschiebung oder Aussiedlung spricht, wird von Deutschen meist als Verharmloser des Vorgangs angesehen; in ihren Augen erscheint ausschließlich der Begriff „Vertreibung“ angemessen. Tschechen beziehen sich hingegen auf die Vorgeschichte des Vorgangs, die vielen von ihnen die Entfernung der Deutschen aus der Tschechoslowakei als angemessen erscheinen ließ. Sie wählen daher andere Begriffe als den ihrer Auffassung nach ungerechtfertigten oder eine moralische Verurteilung implizierenden Begriff der Vertreibung.
Auf Englisch sowie im Potsdamer Abkommen wurde der technische, das tatsächliche Geschehen ausblendende Ausdruck transfer benutzt, der in diesem Kontext im Tschechischen kein entsprechendes Äquivalent hat – nur ungefähr nähert sich ihm der Ausdruck přesun.
Vorgeschichte der Vertreibung
19. und 20. Jahrhundert
Böhmen und Mähren hatten zum Heiligen Römischen Reich und danach bis 1866 zum Deutschen Bund gehört. Für manche Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung war es 1848 überraschend, dass tschechische Wahlkreise des Kaisertums Österreich keine Abgeordneten nach Frankfurt entsenden wollten, weil diese sich Böhmen und Mähren nicht als Teile eines geeinten Deutschlands vorstellen konnten.
Von Radikalen beider Seiten gab es bereits damals erste Vorstellungen bzw. Pläne dazu, die nationale Frage in den beiden österreichischen Kronländern menschenrechtswidrig zu lösen: durch die Vertreibung der Deutschen oder der Tschechen aus Böhmen und Mähren. Diese Haltung wurde aber nur von einer sehr kleinen Minderheit beider Nationalitäten vertreten.
Im Zuge des wachsenden Nationalismus seit den 1870er Jahren gewannen solche Überlegungen in radikalen Kreisen von Deutschen und Tschechen deutlich an Raum. Viele altösterreichische Deutsche wollten den Tschechen nicht völlige sprachliche und politische Gleichberechtigung einräumen (siehe: Badeni-Krawalle). Jüngere tschechische Politiker hingegen wollten Böhmen und Mähren nicht mehr von Wien aus regieren lassen, sondern die Innenpolitik der Länder der böhmischen Krone ebenso autonom gestalten wie es die Magyaren ihrerseits seit 1867 mit der eigenen in den Ländern der ungarischen Krone taten.
1871 beschloss der böhmische Landtag die Schaffung einer autonomen Verfassung (Fundamentalartikel), was jedoch von der Deutschliberalen Partei abgelehnt wurde.
Unter dem österreichischen Ministerpräsidenten Eduard Taaffe wurde 1880 Tschechisch neben Deutsch wieder Amtssprache in Böhmen. Jedoch wurden nur Gemeinden mit bedeutendem tschechischem Bevölkerungsanteil zweisprachig verwaltet. 1897 erließ der österreichische Ministerpräsident Graf Badeni eine Nationalitätenverordnung für Böhmen und Mähren, nach der dort alle politischen Gemeinden zweisprachig zu verwalten waren. Damit avancierte Tschechisch in beiden Kronländern von einer Minderheitensprache zu einer Nationalsprache. Daraufhin legten deutsche[3] Abgeordnete den österreichischen Reichsrat lahm. Aufgrund der Boykotte im Parlament und vor Ort musste die Regierung schließlich zurücktreten, und 1899 wurde die Nationalitätenverordnung wieder aufgehoben.
Das erboste wiederum die Tschechen. So hielt die aus der Ablehnung einer völligen Gleichberechtigung beider Nationen in Böhmen und Mähren durch die Deutschböhmen entstandene politische Blockade bis in den ersten Weltkrieg an.[4][5] Als Österreich-Ungarn beim Kriegsende 1918 zerfiel, wollten die Deutschen Cisleithaniens Deutschösterreich unter Einschluss der Landsleute in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien gründen; dies wurde aber von den Siegern des Krieges verhindert.
1938–1945
Die gravierenden und völkerrechtlich kritischen Ereignisse ab 1938 mit dem Münchner Abkommen, der im März 1939 erfolgten Besetzung der sogenannten „Rest-Tschechei“ und der Bildung des Protektorats Böhmen und Mähren durch das nationalsozialistische Deutsche Reich änderten das Bild grundlegend. Nach übereinstimmenden Quellen erreichte Exilpräsident Edvard Beneš bereits während des Krieges die Zustimmung der Alliierten zu einem großen „Bevölkerungstransfer“; dies geschah 1943 in Moskau in einem persönlichen Gespräch mit Josef Stalin.[6] Die Zustimmung wurde jedoch geheim gehalten.
Großbritannien gab Beneš den Rat, auf das Schuldprinzip zu verzichten. Außenminister Anthony Eden warnte bereits im Herbst 1942 davor, die Anwendung des Schuldprinzips könne „das eventuell wünschenswerte Ausmaß von Bevölkerungsverschiebungen begrenzen“.[7] Die USA hatten ebenfalls keinen Einwand gegen „die Eliminierung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei“.[8]
Im Oktober 1943 äußerte Edvard Beneš in London in kleinem Kreis:
Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben.
Im November 1944, als das Land noch bis auf die Ostslowakei von deutschen Truppen besetzt war, rief Militärbefehlshaber Sergej Ingr in der BBC auf:
Schlagt sie, tötet sie, lasst niemanden am Leben.[9]
Die antideutsche Stimmung wuchs nach tschechischen Quellen, zusammen mit der Meinung über die Unerlässlichkeit der massiven Zwangsabschiebung, im Inlands- und Auslandswiderstand sowie in der Mehrheit der tschechischen Gesellschaft schrittweise während der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei. Sie kulminierte im Mai 1945, so dass vielen Tschechen weiteres deutsch-tschechisches Zusammenleben als unmöglich erschien.
Auslöser für die sofort nach Kriegsende beginnende Realisierung der Pläne zur Massendeportation war wiederum Beneš, der nun auch für die formaljuristische Basis des Vorgangs sorgte, vorerst durch Präsidialdekrete, bald durch parlamentarisch beschlossene Gesetze.
Bei einer Rede am 12. Mai 1945 in Brünn sagte Beneš, dass „wir das deutsche Problem in der Republik definitiv ausräumen müssen“ (tschech. Original: německý problém v republice musíme definitivně vylikvidovat), und vier Tage darauf auf dem Altstädter Ring in Prag, dass „es nötig sein wird, vor allem kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei zu eliminieren“ (tschech. Original: bude třeba vylikvidovat zejména nekompromisně Němce v českých zemích a Maďary na Slovensku). Solche Äußerungen verstanden vor allem junge Aktivisten als Einladung zu sofortigem Handeln.
Als Rechtfertigungsgrundlage für den Vorgang wird zumeist Artikel XIII des Protokolls der Potsdamer Konferenz herangezogen, in dem es u. a. heißt:
„Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“
Als die Potsdamer Konferenz am 17. Juli 1945 eröffnet wurde, hatte in der Tschechoslowakei die Vertreibung allerdings längst begonnen: Bis dahin war bereits eine Dreiviertelmillion Sudetendeutscher vertrieben worden.[10] Da die Tschechoslowaken zu den Verbündeten der Alliierten gehörten, wurde das Fait accompli „abgesegnet“.
Die „wilden“ Vertreibungen 1945
Gedenktafel an der Linzer Nibelungenbrücke; der Text nimmt indirekt darauf Bezug, dass Oberösterreich nördlich der Donau von der Roten Armee besetzt war.
Die ersten Aussiedlungen Sudetendeutscher waren noch kriegsbedingt: Die deutschen Behörden begannen, da sich die Rote Armee unaufhaltsam näherte, mit der Evakuierung der Deutschen. Zum Teil flüchteten Deutsche in den Kriegswirren aber auch unorganisiert, da man sich nach dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion vor Racheaktionen fürchtete.
Mit Beginn des Maiaufstandes des tschechischen Volkes am 5. Mai 1945, noch vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai und somit noch vor der Befreiung durch alliierte Truppen, gelang es der tschechischen Bevölkerung, in Teilen des Landes die Kontrolle zu erringen. Dort kam es dann bereits zu ersten als „spontane Vertreibungen“ bezeichneten gewaltsamen Maßnahmen der tschechischen Bevölkerung gegen noch anwesende Volksdeutsche.
Die öffentlichen Ansprachen Beneš’ am 12. und 16. Mai, in denen er die Entfernung der Deutschen als absolute Notwendigkeit erklärte, bildeten sodann den entscheidenden Impuls zur Intensivierung der „wilden Vertreibungen“ (tschech. divoký odsun), bei der es zu brutalen Exzessen und mörderischen Angriffen gegen Deutsche kam. Zwischen Kriegsende und der praktischen Umsetzung des Potsdamer Kommuniqués (Protokoll) wurden durch diese sogenannten wilden Vertreibungen bereits an die 800.000 Deutsche – viele mussten nach Österreich – ihrer Heimat beraubt. Aufgrund des Beneš-Dekretes 108 wurde das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der deutschen Einwohner konfisziert und unter staatliche Verwaltung gestellt.[11][12][13]
Um die Täter nicht vor Gericht stellen zu müssen, wurde in der Provisorischen Nationalversammlung am 8. Mai 1946 ein Straffreiheitsgesetz für im „Freiheitskampf“ zwischen 30. September 1938 und 28. Oktober 1945 begangene Straftaten beschlossen.[14]
Ereignisse im Sommer 1945
Landskron/Lanškroun, 17.–21. Mai 1945: „Strafgericht“ an den deutschen Einwohnern der Stadt mit am ersten Tag 24 Ermordeten und insgesamt um die 100 Todesopfern.
Todesmarsch aus Brünn/Brno, 30.–31. Mai 1945: Vertreibung von etwa 27.000 Deutschen. Wahrscheinlich etwa 5200 Tote, davon 459 im Lager Pohořelice/Pohrlitz, etwa 250 Tote auf dem Marsch bis zur österreichischen Grenze und weitere 1062 Tote auf dem Weg weiter nach Wien. Die meisten kamen infolge schlechter Versorgung und Krankheiten um.
Postelberg/Postoloprty und Saaz/Žatec, 31. Mai – 15. Juni 1945: 1947 von einer Untersuchungskommission des tschechoslowakischen Parlaments behandelt, wobei an Ort und Stelle große Zustimmung der Bevölkerung zum Massaker (als „verdiente Vergeltung“ für die Rohheiten der Deutschen) erhoben wurde; 763 Leichen im August 1947 aus Massengräbern exhumiert und verbrannt, davon 5 Frauen und 1 Kind; insgesamt rund 2000 Tote, ermordet von der 1. tschechoslowakischen Division unter General Spaniel (Je weniger von ihnen übrig bleiben, umso weniger Feinde werden wir haben).[15][16][17]
Totzau/Tocov, 5. Juni 1945: 32 Ermordete.[18] Der Ort Tocov ist nicht mehr existent.
Podersam/Podbořany, 7. Juni 1945: 68 Ermordete.
Gedenkstein für die Opfer des Todesmarsches von Komotau nach Mahlteuern am 9. Juni 1945 in Deutschneudorf
Komotau/Chomutov, 9. Juni 1945: 12 Menschen wurden im Ort getötet. Beim Todesmarsch starben weitere 70 Menschen. Im Lager Sklárna wurden 40 Menschen ermordet. Außerdem wurden einige Menschen von Soldaten aus dem Lager geholt und an einem anderen Ort ermordet. Insgesamt etwa 140 Todesopfer.
Duppau/Doupov, Juni 1945: 24 Ermordete[19].
Prerau/ Mähren : In der Nacht vom 18. zum 19. Juni 1945 erfolgte das Massaker von Prerau an geflüchteten Zipsern auf der Rückfahrt in ihre Heimat: 265 Ermordete, davon 71 Männer, 120 Frauen und 74 Kinder. Der älteste Ermordete war 80 Jahre alt, das jüngste Opfer war ein 8 Monate altes Kind. Sieben Menschen konnten flüchten.
Jägerndorf/Krnov; erste wilde Vertreibung am 22. Juni 1945. Fußmarsch vom Lager am Burgberg über Würbenthal, Gabel, Gabel-Kreuz, Thomasdorf, Freiwaldau, Weigelsdorf, Mährisch-Altstadt bis Grulich. Dann im offenen Eisenbahnwaggon bis Teplitz-Schönau. Anschließend wieder Fußmarsch bis zur Grenze nach Sachsen bei Geising im Erzgebirge.[20]
Weckelsdorf, 30. Juni 1945: Ermordung von 23 Menschen, davon 22 Deutschen
Aussig an der Elbe/Ústí nad Labem, 31. Juli 1945: etwa 80–100 Ermordete; Quellen nennen 30–700, selten sogar über 2000 Ermordete.[21]
Taus/Domažlice: etwa 200 Ermordete
Ostrau: Im „Hanke-Lager“ wurden 1945 231 Deutsche ermordet.[22]
Beneš’ Versprechen
Edvard Beneš versprach daraufhin am 14. Oktober 1945 in einer Rede in Mělník, deren Inhalt vermutlich auch im Ausland registriert werden sollte, humanes, moralisches Vorgehen:
„In der letzten Zeit werden wir jedoch in der internationalen Presse kritisiert, dass der Transfer der Deutschen in einer unwürdigen, unzulässigen Weise durchgeführt wird. Wir tun angeblich dasselbe, was die Deutschen uns taten; wir beschädigen angeblich unsere eigene Nationaltradition und unseren bisher untadeligen Ruf. Wir machen angeblich einfach die Nazisten in ihren grausamen, unzivilisierten Methoden nach.
Mögen diese Vorwürfe in Einzelheiten wahr sein oder nicht, ich erkläre ganz kategorisch: Unsere Deutschen müssen ins Reich weggehen und sie werden in jedem Fall weggehen. Sie werden wegen ihrer eigenen großen moralischen Schuld, ihrer Vorkriegswirkung bei uns und ihrer ganzen Kriegspolitik gegen unseren Staat und unser Volk weggehen. Die, die als unserer Republik treu gebliebene Antifaschisten anerkannt werden, können bei uns bleiben. Aber unser ganzes Vorgehen in der Sache ihrer Abschiebung ins Reich muss human, taktvoll, richtig, moralbegründet sein. […] Alle untergeordneten Organe, die sich dagegen versündigen, werden sehr entschieden zur Ordnung gerufen werden. Die Regierung wird in keinem Fall erlauben, dass der gute Ruf der Republik durch unverantwortliche Elemente beschädigt wird.“
Die „Aussiedlung“ ab 1946
Die offizielle Abschiebung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei begann im Januar 1946. Während dieses Jahres wurden rund 2.256.000 Menschen ausgesiedelt, großteils nach Deutschland, zu einem kleinen Teil auch nach Österreich. Ausgenommen von der Abschiebung waren lediglich Personen, die unter Zugrundelegung der als „Beneš-Dekrete“ bezeichneten Präsidialdekrete unentbehrliche Facharbeiter oder nachweislich Gegner und Verfolgte des Nationalsozialismus gewesen waren, wie z. B. sozialdemokratische oder kommunistische Widerstandskämpfer.
Auswirkungen
Die 1945/46 erfolgte Vertreibung von etwa drei Millionen Deutschböhmen und Deutschmährern war nach den Auswirkungen der „Westverschiebung Polens“, die fünf Millionen Deutsche betraf, der größte Bevölkerungstransfer der Nachkriegszeit in Europa. Rund 250.000 Deutsche durften mit begrenzten Bürgerrechten bleiben. 1947 und 1948 wurden aber viele von ihnen zwangsweise in das Landesinnere umgesiedelt. Die offizielle Begründung lautete: „Umsiedlung im Rahmen der Zerstreuung der Bürger deutscher Nationalität” (im Original: Přesun v rámci rozptylu občanů německé národnosti).
Die Vertreibung hatte folgende unmittelbaren Auswirkungen:
Die tschechischen Grenzgebiete waren nunmehr wesentlich dünner besiedelt als zuvor, insbesondere die ländlichen Gebiete. Weil nicht genug tschechische und slowakische Siedler aus anderen Landesteilen nachrücken konnten, sank in den ehemaligen Sudetengebieten nicht nur die Bevölkerungszahl, sondern auch die Produktivität der dort angesiedelten traditionellen Industriezweige.
Das Fehlen von Millionen Deutscher, die größtenteils antikommunistisch eingestellt waren, erleichterte die Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 und die Eingliederung der Tschechoslowakei in den Ostblock. Die Kommunisten konnten durch ihre aktive Rolle bei der Verteilung des konfiszierten deutschen Eigentums zusätzliche Wähler gewinnen und zugleich ein Feindbild schaffen: die ausgesiedelten Deutschen, gegen deren Revanchismus und Geschichtsrevisionismus der Tschechoslowakei nur ein enges Bündnis mit der Sowjetunion helfen könne.[23]
In Deutschland, in geringerem Ausmaß auch in Österreich, wurden heimatvertriebene Sudetendeutsche für lange Zeit ein politischer Faktor: Ein Teil der Vertriebenen bzw. ihrer Nachkommen bildet die Sudetendeutsche Landsmannschaft, einen Interessenverband, der sich selbst als „überparteiliche und überkonfessionelle Volkstumsorganisation der Sudetendeutschen in der Vertreibung“ (Vertreibung: tschech. vyhnání) bezeichnet. Wie andere Landsmannschaften vertriebener Deutscher hatte auch diese lange Zeit Probleme, die Verbrechen der eigenen Seite konkret zu benennen.
Juristische und ethische Bewertung
In den 1950er, 1960er und weiten Teilen der 1970er waren die Vertreibungen aus Sicht der Tschechoslowakei ein generelles Tabuthema. Auch in der DDR und in Österreich gab es kein Interesse an einer Thematisierung. Lediglich in der Bundesrepublik Deutschland artikulierten sich die „Vertriebenenverbände“ auf verschiedene Weise, wobei eine Tabuisierung häufig durch Stigmatisierung ersetzt wurde: Eine juristische Aufarbeitung unterblieb auch hier.
Erst 1978 vertraten Exponenten der Charta 77 die Meinung, die Entrechtung der Deutschen sei die erste Stufe einer allgemeinen Entrechtung der gesamten tschechoslowakischen Bevölkerung gewesen. Im gleichen Jahr publizierte der slowakische Historiker Jan Mlynarik unter dem Pseudonym Danubius seine in der Tschechoslowakei heftigst kritisierten „Thesen zur Vertreibung“, in denen er diese als „Frucht der totalitären Diktaturen“ und als „unser offenes, umgangenes und häufig peinlich interpretiertes Problem“ bezeichnete.[24]
Als sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Aufnahme der Tschechoslowakei bzw. dann tatsächlich Tschechiens und der Slowakei in die Europäische Union anbahnte, kam eine Diskussion über die völkerrechtlichen Aspekte der Vertreibung und der Beneš-Dekrete in Gang, von der die Organisationen der Sudetendeutschen in Deutschland und Österreich auch erhofften, damit die Beitrittskandidaten unter Druck setzen zu können.[25]
In einem Rechtsgutachten, das im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung 1991 erstellt wurde, urteilte der UN-Völkerrechtsberater Felix Ermacora: „Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der angestammten Heimat von 1945 bis 1947 und die fremdbestimmte Aussiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg widersprach nicht nur der in der Atlantik-Charta und dann in der Charta der UN verheißenen Selbstbestimmung, sondern die Vertreibung der Sudetendeutschen ist Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht verjährbar sind.“[26] Neben Ermacora vertraten auch Alfred de Zayas und Dieter Blumenwitz in der Beurteilung der Vertreibung als Völkermord diese Minderheitsposition, die insbesondere bei Vertriebenenverbänden und in nationalen Kreisen Unterstützung findet.
Die Mehrheit der Völkerrechtler wertet die Vertreibung der Sudetendeutschen dagegen nicht als Völkermord, weil, wie etwa Christian Tomuschat urteilt, „[…] trotz der Schwere der Taten von einer gezielten Gesamtaktion des Völkermordes nicht die Rede sein kann.“[27] Die Begriffe „Genozid“ und „Völkermord“ wurden von Vertriebenenfunktionären „als moralische Waffen (statt als juristisch-politische Werkzeuge)“ verwendet, um „die qualitativen Unterschiede zwischen alliierter/tschechischer und nationalsozialistischer Politik einzuebnen“.[28]
Die Untersuchung der von der EU beauftragten Gutachter Jochen Frowein, Ulf Bernitz und Christopher Lord Kingsland, veröffentlicht am 2. Oktober 2002, befand, dass die (die deutsche Minderheit betreffenden) Beneš-Dekrete kein Hinderungsgrund gegen den EU-Beitritt Tschechiens bildeten.[29]
Die 1968 geborene Autorin Radka Denemarková veröffentlichte 2006 den Roman Peníze od Hitlera (wörtlich: Geld von Hitler). Er wurde 2007 mit dem tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera[30] ausgezeichnet und daraufhin in mehrere Sprachen übersetzt, Deutsch 2009 unter dem Titel Ein herrlicher Flecken Erde.[31] Alena Wagnerová rezensierte das Werk in der Neuen Zürcher Zeitung: „Die kollektive Vertreibung der Sudetendeutschen ist ein in Tschechien nach wie vor tabuisiertes Thema der Weltkriegsgeschichte. Nun wagt sich mit Radka Denemarková eine jüngere Autorin in bewegender Weise an das Tabuthema.“[32]
Der frühere tschechoslowakische und tschechische Staatspräsident Václav Havel sagte 2009 in einem Interview zur ethischen Komponente der Vertreibung:
„Die Wahrheit ist, dass ich die Vertreibung kritisiert habe. Ich war damit nicht einverstanden, mein ganzes Leben lang nicht. Aber mit einer Entschuldigung ist das eine komplizierte Sache. […] So, als ob wir uns mit einem ‚Tut leid‘ plötzlich aus der historischen Verantwortung davon stehlen könnten. Letztendlich haben wir mit der Vertreibung draufgezahlt.“[33]
Opferzahlen
Die 1990 von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Föderativen Republik, Hans-Dietrich Genscher und Jiří Dienstbier, begründete „Deutsch-Tschechoslowakische Historiker-Kommission“ kam 1997 zu folgendem Ergebnis:
„Die Angaben über die Vertreibungsopfer, das heißt über die Menschenverluste, die die sudetendeutsche Bevölkerung während und im Zusammenhang mit der Vertreibung und zwangsweisen Aussiedlung aus der Tschechoslowakei erlitten hat, divergieren in extremem Maße und sind deshalb höchst umstritten. Die in deutschen statistischen Erhebungen angegebenen Werte streuen zwischen 220.000 und 270.000 ungeklärten Fällen, die vielfach als Todesfälle interpretiert werden, die in bisher vorliegenden Detailuntersuchungen genannte Größe liegt zwischen 15.000 und – maximal – 30.000 Todesfällen.
Die Differenz ist das Ergebnis unterschiedlicher Auffassungen über den Begriff der Vertreibungsopfer. Die Detailforschung neigt dazu, nur die Opfer von direkter Gewaltanwendung und abnormen Bedingungen zu berücksichtigen; dagegen zählt man in Statistiken vielfach alle ungeklärten Fälle zu den Vertreibungsopfern hinzu.
Die voneinander abweichenden Angaben ergeben sich zudem auch aus der Tatsache, dass verschiedene Erhebungs- bzw. Auswertungsmethoden verwendet werden.“[34]
Vor allem durch das Wechseln von Nationalitäten verschiedener Gruppen wie Individuen können diese Statistiken nicht mit einander verglichen werden.
Von 18.816 belegten Opfern der Vertreibungen und der Abschiebung waren 5.596 ermordet worden, 3.411 verübten Suizid, 6.615 kamen in Lagern um, 1.481 bei Transporten, 705 unmittelbar nach dem Transport, 629 bei einer Flucht und bei 379 Toten konnte man keine eindeutige Todesursache zuordnen.
Auf der Grundlage einer Volkszählung, von Rechnungen sowie Schätzungen und mit Rücksicht auf Kriegsverluste, Emigration und Massaker gab das Statistische Bundesamt im Jahre 1958 eine Erklärung heraus, der zufolge „es eine Gegensätzlichkeit in der Anzahl 225.600 Deutsche“ gebe, „deren Schicksal nicht aufgeklärt worden ist“. (Diese Zahl ist mehrmals korrigiert worden und bewegt sich auch in verschiedenen Quellen zwischen etwa 220.000 und 270.000, davon sollen ungefähr 250.000 Sudetendeutsche und 23.000 Karpatendeutsche sein.)
Gegner der von dieser Angabe abgeleiteten These, dass es rund 250.000 in der Vertreibung umgekommene Deutsche gegeben habe, behaupten, es sei falsch, diese Personen zur Gänze als Vertreibungsopfer zu klassifizieren. Die Anzahl der „unaufgeklärte Fälle“ sei viel höher als die Anzahl derer, die bei der Vertreibung und unmittelbar nach der Vertreibung nachweislich ums Leben gekommen sind. Anhänger dieser Version gehen von einer tatsächlichen Opferzahl zwischen 19.000 (gemäß der deutschen Gesamterhebung habe es etwa 5.000 Suizide und über 6.000 Opfer von Gewalttaten gegeben) und 30.000 aus.
Eine selbstständige deutsch-tschechische Historikerkommission hat sich im Jahre 1996 darauf geeinigt, dass bei dem odsun zwischen 20.000 und 30.000 Deutsche ums Leben kamen. Das sei eine von beiden Seiten bestätigte und beglaubigte Zahl. Diese Zahl wird jedoch weiterhin in Zweifel gezogen und in der Literatur findet man immer noch Schätzungen von 20.000 bis zu 270.000 Vertreibungstoten, u.a. weil die natürliche Sterbequote teilweise nicht berücksichtigt wird.
Weiter geht es in Teil 2
Deutsche Siedlungsgebiete in den böhmischen Ländern
Vertriebene Sudetendeutsche (1945)
Die Sudetendeutschen, auch Deutschböhmen und Deutschmährer sowie die Sudetenschlesier genannt, wurden 1945/1946 unter Androhung und Anwendung von Gewalt zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Nach dem Beneš-Dekret 108 vom 25. Oktober 1945 wurde das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen (Immobilien und Vermögensrechte) der deutschen Einwohner konfisziert und unter staatliche Verwaltung gestellt.[2]
Politischer Sprachgebrauch
Die Kommunistische und postkommunistische Geschichtsschreibung wie auch die gegenwärtigen Staatsorgane und die Mehrheit der Tschechen benutzen für diese Vorgänge überwiegend die Ausdrücke „Abschiebung“ oder „Aussiedlung“ (tschech. odsun, vysídlení), nicht „Vertreibung“ (tschech. vyhnáni).
Peter Glotz hat in seinem Buch Die Vertreibung die menschenrechtliche Problematik aus deutscher Sicht thematisiert. Unter diesem Aspekt erscheinen die Begriffe „Abschiebung“ und „Aussiedlung“ als Euphemismen.
Tschechen und Deutsche konnten sich bis heute nicht auf eine gemeinsame Bezeichnung für die Deportationen einigen: Wer über Abschiebung oder Aussiedlung spricht, wird von Deutschen meist als Verharmloser des Vorgangs angesehen; in ihren Augen erscheint ausschließlich der Begriff „Vertreibung“ angemessen. Tschechen beziehen sich hingegen auf die Vorgeschichte des Vorgangs, die vielen von ihnen die Entfernung der Deutschen aus der Tschechoslowakei als angemessen erscheinen ließ. Sie wählen daher andere Begriffe als den ihrer Auffassung nach ungerechtfertigten oder eine moralische Verurteilung implizierenden Begriff der Vertreibung.
Auf Englisch sowie im Potsdamer Abkommen wurde der technische, das tatsächliche Geschehen ausblendende Ausdruck transfer benutzt, der in diesem Kontext im Tschechischen kein entsprechendes Äquivalent hat – nur ungefähr nähert sich ihm der Ausdruck přesun.
Vorgeschichte der Vertreibung
19. und 20. Jahrhundert
Böhmen und Mähren hatten zum Heiligen Römischen Reich und danach bis 1866 zum Deutschen Bund gehört. Für manche Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung war es 1848 überraschend, dass tschechische Wahlkreise des Kaisertums Österreich keine Abgeordneten nach Frankfurt entsenden wollten, weil diese sich Böhmen und Mähren nicht als Teile eines geeinten Deutschlands vorstellen konnten.
Von Radikalen beider Seiten gab es bereits damals erste Vorstellungen bzw. Pläne dazu, die nationale Frage in den beiden österreichischen Kronländern menschenrechtswidrig zu lösen: durch die Vertreibung der Deutschen oder der Tschechen aus Böhmen und Mähren. Diese Haltung wurde aber nur von einer sehr kleinen Minderheit beider Nationalitäten vertreten.
Im Zuge des wachsenden Nationalismus seit den 1870er Jahren gewannen solche Überlegungen in radikalen Kreisen von Deutschen und Tschechen deutlich an Raum. Viele altösterreichische Deutsche wollten den Tschechen nicht völlige sprachliche und politische Gleichberechtigung einräumen (siehe: Badeni-Krawalle). Jüngere tschechische Politiker hingegen wollten Böhmen und Mähren nicht mehr von Wien aus regieren lassen, sondern die Innenpolitik der Länder der böhmischen Krone ebenso autonom gestalten wie es die Magyaren ihrerseits seit 1867 mit der eigenen in den Ländern der ungarischen Krone taten.
1871 beschloss der böhmische Landtag die Schaffung einer autonomen Verfassung (Fundamentalartikel), was jedoch von der Deutschliberalen Partei abgelehnt wurde.
Unter dem österreichischen Ministerpräsidenten Eduard Taaffe wurde 1880 Tschechisch neben Deutsch wieder Amtssprache in Böhmen. Jedoch wurden nur Gemeinden mit bedeutendem tschechischem Bevölkerungsanteil zweisprachig verwaltet. 1897 erließ der österreichische Ministerpräsident Graf Badeni eine Nationalitätenverordnung für Böhmen und Mähren, nach der dort alle politischen Gemeinden zweisprachig zu verwalten waren. Damit avancierte Tschechisch in beiden Kronländern von einer Minderheitensprache zu einer Nationalsprache. Daraufhin legten deutsche[3] Abgeordnete den österreichischen Reichsrat lahm. Aufgrund der Boykotte im Parlament und vor Ort musste die Regierung schließlich zurücktreten, und 1899 wurde die Nationalitätenverordnung wieder aufgehoben.
Das erboste wiederum die Tschechen. So hielt die aus der Ablehnung einer völligen Gleichberechtigung beider Nationen in Böhmen und Mähren durch die Deutschböhmen entstandene politische Blockade bis in den ersten Weltkrieg an.[4][5] Als Österreich-Ungarn beim Kriegsende 1918 zerfiel, wollten die Deutschen Cisleithaniens Deutschösterreich unter Einschluss der Landsleute in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien gründen; dies wurde aber von den Siegern des Krieges verhindert.
1938–1945
Die gravierenden und völkerrechtlich kritischen Ereignisse ab 1938 mit dem Münchner Abkommen, der im März 1939 erfolgten Besetzung der sogenannten „Rest-Tschechei“ und der Bildung des Protektorats Böhmen und Mähren durch das nationalsozialistische Deutsche Reich änderten das Bild grundlegend. Nach übereinstimmenden Quellen erreichte Exilpräsident Edvard Beneš bereits während des Krieges die Zustimmung der Alliierten zu einem großen „Bevölkerungstransfer“; dies geschah 1943 in Moskau in einem persönlichen Gespräch mit Josef Stalin.[6] Die Zustimmung wurde jedoch geheim gehalten.
Großbritannien gab Beneš den Rat, auf das Schuldprinzip zu verzichten. Außenminister Anthony Eden warnte bereits im Herbst 1942 davor, die Anwendung des Schuldprinzips könne „das eventuell wünschenswerte Ausmaß von Bevölkerungsverschiebungen begrenzen“.[7] Die USA hatten ebenfalls keinen Einwand gegen „die Eliminierung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei“.[8]
Im Oktober 1943 äußerte Edvard Beneš in London in kleinem Kreis:
Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben.
Im November 1944, als das Land noch bis auf die Ostslowakei von deutschen Truppen besetzt war, rief Militärbefehlshaber Sergej Ingr in der BBC auf:
Schlagt sie, tötet sie, lasst niemanden am Leben.[9]
Die antideutsche Stimmung wuchs nach tschechischen Quellen, zusammen mit der Meinung über die Unerlässlichkeit der massiven Zwangsabschiebung, im Inlands- und Auslandswiderstand sowie in der Mehrheit der tschechischen Gesellschaft schrittweise während der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei. Sie kulminierte im Mai 1945, so dass vielen Tschechen weiteres deutsch-tschechisches Zusammenleben als unmöglich erschien.
Auslöser für die sofort nach Kriegsende beginnende Realisierung der Pläne zur Massendeportation war wiederum Beneš, der nun auch für die formaljuristische Basis des Vorgangs sorgte, vorerst durch Präsidialdekrete, bald durch parlamentarisch beschlossene Gesetze.
Bei einer Rede am 12. Mai 1945 in Brünn sagte Beneš, dass „wir das deutsche Problem in der Republik definitiv ausräumen müssen“ (tschech. Original: německý problém v republice musíme definitivně vylikvidovat), und vier Tage darauf auf dem Altstädter Ring in Prag, dass „es nötig sein wird, vor allem kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei zu eliminieren“ (tschech. Original: bude třeba vylikvidovat zejména nekompromisně Němce v českých zemích a Maďary na Slovensku). Solche Äußerungen verstanden vor allem junge Aktivisten als Einladung zu sofortigem Handeln.
Als Rechtfertigungsgrundlage für den Vorgang wird zumeist Artikel XIII des Protokolls der Potsdamer Konferenz herangezogen, in dem es u. a. heißt:
„Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“
Als die Potsdamer Konferenz am 17. Juli 1945 eröffnet wurde, hatte in der Tschechoslowakei die Vertreibung allerdings längst begonnen: Bis dahin war bereits eine Dreiviertelmillion Sudetendeutscher vertrieben worden.[10] Da die Tschechoslowaken zu den Verbündeten der Alliierten gehörten, wurde das Fait accompli „abgesegnet“.
Die „wilden“ Vertreibungen 1945
Gedenktafel an der Linzer Nibelungenbrücke; der Text nimmt indirekt darauf Bezug, dass Oberösterreich nördlich der Donau von der Roten Armee besetzt war.
Die ersten Aussiedlungen Sudetendeutscher waren noch kriegsbedingt: Die deutschen Behörden begannen, da sich die Rote Armee unaufhaltsam näherte, mit der Evakuierung der Deutschen. Zum Teil flüchteten Deutsche in den Kriegswirren aber auch unorganisiert, da man sich nach dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion vor Racheaktionen fürchtete.
Mit Beginn des Maiaufstandes des tschechischen Volkes am 5. Mai 1945, noch vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai und somit noch vor der Befreiung durch alliierte Truppen, gelang es der tschechischen Bevölkerung, in Teilen des Landes die Kontrolle zu erringen. Dort kam es dann bereits zu ersten als „spontane Vertreibungen“ bezeichneten gewaltsamen Maßnahmen der tschechischen Bevölkerung gegen noch anwesende Volksdeutsche.
Die öffentlichen Ansprachen Beneš’ am 12. und 16. Mai, in denen er die Entfernung der Deutschen als absolute Notwendigkeit erklärte, bildeten sodann den entscheidenden Impuls zur Intensivierung der „wilden Vertreibungen“ (tschech. divoký odsun), bei der es zu brutalen Exzessen und mörderischen Angriffen gegen Deutsche kam. Zwischen Kriegsende und der praktischen Umsetzung des Potsdamer Kommuniqués (Protokoll) wurden durch diese sogenannten wilden Vertreibungen bereits an die 800.000 Deutsche – viele mussten nach Österreich – ihrer Heimat beraubt. Aufgrund des Beneš-Dekretes 108 wurde das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der deutschen Einwohner konfisziert und unter staatliche Verwaltung gestellt.[11][12][13]
Um die Täter nicht vor Gericht stellen zu müssen, wurde in der Provisorischen Nationalversammlung am 8. Mai 1946 ein Straffreiheitsgesetz für im „Freiheitskampf“ zwischen 30. September 1938 und 28. Oktober 1945 begangene Straftaten beschlossen.[14]
Ereignisse im Sommer 1945
Landskron/Lanškroun, 17.–21. Mai 1945: „Strafgericht“ an den deutschen Einwohnern der Stadt mit am ersten Tag 24 Ermordeten und insgesamt um die 100 Todesopfern.
Todesmarsch aus Brünn/Brno, 30.–31. Mai 1945: Vertreibung von etwa 27.000 Deutschen. Wahrscheinlich etwa 5200 Tote, davon 459 im Lager Pohořelice/Pohrlitz, etwa 250 Tote auf dem Marsch bis zur österreichischen Grenze und weitere 1062 Tote auf dem Weg weiter nach Wien. Die meisten kamen infolge schlechter Versorgung und Krankheiten um.
Postelberg/Postoloprty und Saaz/Žatec, 31. Mai – 15. Juni 1945: 1947 von einer Untersuchungskommission des tschechoslowakischen Parlaments behandelt, wobei an Ort und Stelle große Zustimmung der Bevölkerung zum Massaker (als „verdiente Vergeltung“ für die Rohheiten der Deutschen) erhoben wurde; 763 Leichen im August 1947 aus Massengräbern exhumiert und verbrannt, davon 5 Frauen und 1 Kind; insgesamt rund 2000 Tote, ermordet von der 1. tschechoslowakischen Division unter General Spaniel (Je weniger von ihnen übrig bleiben, umso weniger Feinde werden wir haben).[15][16][17]
Totzau/Tocov, 5. Juni 1945: 32 Ermordete.[18] Der Ort Tocov ist nicht mehr existent.
Podersam/Podbořany, 7. Juni 1945: 68 Ermordete.
Gedenkstein für die Opfer des Todesmarsches von Komotau nach Mahlteuern am 9. Juni 1945 in Deutschneudorf
Komotau/Chomutov, 9. Juni 1945: 12 Menschen wurden im Ort getötet. Beim Todesmarsch starben weitere 70 Menschen. Im Lager Sklárna wurden 40 Menschen ermordet. Außerdem wurden einige Menschen von Soldaten aus dem Lager geholt und an einem anderen Ort ermordet. Insgesamt etwa 140 Todesopfer.
Duppau/Doupov, Juni 1945: 24 Ermordete[19].
Prerau/ Mähren : In der Nacht vom 18. zum 19. Juni 1945 erfolgte das Massaker von Prerau an geflüchteten Zipsern auf der Rückfahrt in ihre Heimat: 265 Ermordete, davon 71 Männer, 120 Frauen und 74 Kinder. Der älteste Ermordete war 80 Jahre alt, das jüngste Opfer war ein 8 Monate altes Kind. Sieben Menschen konnten flüchten.
Jägerndorf/Krnov; erste wilde Vertreibung am 22. Juni 1945. Fußmarsch vom Lager am Burgberg über Würbenthal, Gabel, Gabel-Kreuz, Thomasdorf, Freiwaldau, Weigelsdorf, Mährisch-Altstadt bis Grulich. Dann im offenen Eisenbahnwaggon bis Teplitz-Schönau. Anschließend wieder Fußmarsch bis zur Grenze nach Sachsen bei Geising im Erzgebirge.[20]
Weckelsdorf, 30. Juni 1945: Ermordung von 23 Menschen, davon 22 Deutschen
Aussig an der Elbe/Ústí nad Labem, 31. Juli 1945: etwa 80–100 Ermordete; Quellen nennen 30–700, selten sogar über 2000 Ermordete.[21]
Taus/Domažlice: etwa 200 Ermordete
Ostrau: Im „Hanke-Lager“ wurden 1945 231 Deutsche ermordet.[22]
Beneš’ Versprechen
Edvard Beneš versprach daraufhin am 14. Oktober 1945 in einer Rede in Mělník, deren Inhalt vermutlich auch im Ausland registriert werden sollte, humanes, moralisches Vorgehen:
„In der letzten Zeit werden wir jedoch in der internationalen Presse kritisiert, dass der Transfer der Deutschen in einer unwürdigen, unzulässigen Weise durchgeführt wird. Wir tun angeblich dasselbe, was die Deutschen uns taten; wir beschädigen angeblich unsere eigene Nationaltradition und unseren bisher untadeligen Ruf. Wir machen angeblich einfach die Nazisten in ihren grausamen, unzivilisierten Methoden nach.
Mögen diese Vorwürfe in Einzelheiten wahr sein oder nicht, ich erkläre ganz kategorisch: Unsere Deutschen müssen ins Reich weggehen und sie werden in jedem Fall weggehen. Sie werden wegen ihrer eigenen großen moralischen Schuld, ihrer Vorkriegswirkung bei uns und ihrer ganzen Kriegspolitik gegen unseren Staat und unser Volk weggehen. Die, die als unserer Republik treu gebliebene Antifaschisten anerkannt werden, können bei uns bleiben. Aber unser ganzes Vorgehen in der Sache ihrer Abschiebung ins Reich muss human, taktvoll, richtig, moralbegründet sein. […] Alle untergeordneten Organe, die sich dagegen versündigen, werden sehr entschieden zur Ordnung gerufen werden. Die Regierung wird in keinem Fall erlauben, dass der gute Ruf der Republik durch unverantwortliche Elemente beschädigt wird.“
Die „Aussiedlung“ ab 1946
Die offizielle Abschiebung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei begann im Januar 1946. Während dieses Jahres wurden rund 2.256.000 Menschen ausgesiedelt, großteils nach Deutschland, zu einem kleinen Teil auch nach Österreich. Ausgenommen von der Abschiebung waren lediglich Personen, die unter Zugrundelegung der als „Beneš-Dekrete“ bezeichneten Präsidialdekrete unentbehrliche Facharbeiter oder nachweislich Gegner und Verfolgte des Nationalsozialismus gewesen waren, wie z. B. sozialdemokratische oder kommunistische Widerstandskämpfer.
Auswirkungen
Die 1945/46 erfolgte Vertreibung von etwa drei Millionen Deutschböhmen und Deutschmährern war nach den Auswirkungen der „Westverschiebung Polens“, die fünf Millionen Deutsche betraf, der größte Bevölkerungstransfer der Nachkriegszeit in Europa. Rund 250.000 Deutsche durften mit begrenzten Bürgerrechten bleiben. 1947 und 1948 wurden aber viele von ihnen zwangsweise in das Landesinnere umgesiedelt. Die offizielle Begründung lautete: „Umsiedlung im Rahmen der Zerstreuung der Bürger deutscher Nationalität” (im Original: Přesun v rámci rozptylu občanů německé národnosti).
Die Vertreibung hatte folgende unmittelbaren Auswirkungen:
Die tschechischen Grenzgebiete waren nunmehr wesentlich dünner besiedelt als zuvor, insbesondere die ländlichen Gebiete. Weil nicht genug tschechische und slowakische Siedler aus anderen Landesteilen nachrücken konnten, sank in den ehemaligen Sudetengebieten nicht nur die Bevölkerungszahl, sondern auch die Produktivität der dort angesiedelten traditionellen Industriezweige.
Das Fehlen von Millionen Deutscher, die größtenteils antikommunistisch eingestellt waren, erleichterte die Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 und die Eingliederung der Tschechoslowakei in den Ostblock. Die Kommunisten konnten durch ihre aktive Rolle bei der Verteilung des konfiszierten deutschen Eigentums zusätzliche Wähler gewinnen und zugleich ein Feindbild schaffen: die ausgesiedelten Deutschen, gegen deren Revanchismus und Geschichtsrevisionismus der Tschechoslowakei nur ein enges Bündnis mit der Sowjetunion helfen könne.[23]
In Deutschland, in geringerem Ausmaß auch in Österreich, wurden heimatvertriebene Sudetendeutsche für lange Zeit ein politischer Faktor: Ein Teil der Vertriebenen bzw. ihrer Nachkommen bildet die Sudetendeutsche Landsmannschaft, einen Interessenverband, der sich selbst als „überparteiliche und überkonfessionelle Volkstumsorganisation der Sudetendeutschen in der Vertreibung“ (Vertreibung: tschech. vyhnání) bezeichnet. Wie andere Landsmannschaften vertriebener Deutscher hatte auch diese lange Zeit Probleme, die Verbrechen der eigenen Seite konkret zu benennen.
Juristische und ethische Bewertung
In den 1950er, 1960er und weiten Teilen der 1970er waren die Vertreibungen aus Sicht der Tschechoslowakei ein generelles Tabuthema. Auch in der DDR und in Österreich gab es kein Interesse an einer Thematisierung. Lediglich in der Bundesrepublik Deutschland artikulierten sich die „Vertriebenenverbände“ auf verschiedene Weise, wobei eine Tabuisierung häufig durch Stigmatisierung ersetzt wurde: Eine juristische Aufarbeitung unterblieb auch hier.
Erst 1978 vertraten Exponenten der Charta 77 die Meinung, die Entrechtung der Deutschen sei die erste Stufe einer allgemeinen Entrechtung der gesamten tschechoslowakischen Bevölkerung gewesen. Im gleichen Jahr publizierte der slowakische Historiker Jan Mlynarik unter dem Pseudonym Danubius seine in der Tschechoslowakei heftigst kritisierten „Thesen zur Vertreibung“, in denen er diese als „Frucht der totalitären Diktaturen“ und als „unser offenes, umgangenes und häufig peinlich interpretiertes Problem“ bezeichnete.[24]
Als sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Aufnahme der Tschechoslowakei bzw. dann tatsächlich Tschechiens und der Slowakei in die Europäische Union anbahnte, kam eine Diskussion über die völkerrechtlichen Aspekte der Vertreibung und der Beneš-Dekrete in Gang, von der die Organisationen der Sudetendeutschen in Deutschland und Österreich auch erhofften, damit die Beitrittskandidaten unter Druck setzen zu können.[25]
In einem Rechtsgutachten, das im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung 1991 erstellt wurde, urteilte der UN-Völkerrechtsberater Felix Ermacora: „Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der angestammten Heimat von 1945 bis 1947 und die fremdbestimmte Aussiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg widersprach nicht nur der in der Atlantik-Charta und dann in der Charta der UN verheißenen Selbstbestimmung, sondern die Vertreibung der Sudetendeutschen ist Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht verjährbar sind.“[26] Neben Ermacora vertraten auch Alfred de Zayas und Dieter Blumenwitz in der Beurteilung der Vertreibung als Völkermord diese Minderheitsposition, die insbesondere bei Vertriebenenverbänden und in nationalen Kreisen Unterstützung findet.
Die Mehrheit der Völkerrechtler wertet die Vertreibung der Sudetendeutschen dagegen nicht als Völkermord, weil, wie etwa Christian Tomuschat urteilt, „[…] trotz der Schwere der Taten von einer gezielten Gesamtaktion des Völkermordes nicht die Rede sein kann.“[27] Die Begriffe „Genozid“ und „Völkermord“ wurden von Vertriebenenfunktionären „als moralische Waffen (statt als juristisch-politische Werkzeuge)“ verwendet, um „die qualitativen Unterschiede zwischen alliierter/tschechischer und nationalsozialistischer Politik einzuebnen“.[28]
Die Untersuchung der von der EU beauftragten Gutachter Jochen Frowein, Ulf Bernitz und Christopher Lord Kingsland, veröffentlicht am 2. Oktober 2002, befand, dass die (die deutsche Minderheit betreffenden) Beneš-Dekrete kein Hinderungsgrund gegen den EU-Beitritt Tschechiens bildeten.[29]
Die 1968 geborene Autorin Radka Denemarková veröffentlichte 2006 den Roman Peníze od Hitlera (wörtlich: Geld von Hitler). Er wurde 2007 mit dem tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera[30] ausgezeichnet und daraufhin in mehrere Sprachen übersetzt, Deutsch 2009 unter dem Titel Ein herrlicher Flecken Erde.[31] Alena Wagnerová rezensierte das Werk in der Neuen Zürcher Zeitung: „Die kollektive Vertreibung der Sudetendeutschen ist ein in Tschechien nach wie vor tabuisiertes Thema der Weltkriegsgeschichte. Nun wagt sich mit Radka Denemarková eine jüngere Autorin in bewegender Weise an das Tabuthema.“[32]
Der frühere tschechoslowakische und tschechische Staatspräsident Václav Havel sagte 2009 in einem Interview zur ethischen Komponente der Vertreibung:
„Die Wahrheit ist, dass ich die Vertreibung kritisiert habe. Ich war damit nicht einverstanden, mein ganzes Leben lang nicht. Aber mit einer Entschuldigung ist das eine komplizierte Sache. […] So, als ob wir uns mit einem ‚Tut leid‘ plötzlich aus der historischen Verantwortung davon stehlen könnten. Letztendlich haben wir mit der Vertreibung draufgezahlt.“[33]
Opferzahlen
Die 1990 von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Föderativen Republik, Hans-Dietrich Genscher und Jiří Dienstbier, begründete „Deutsch-Tschechoslowakische Historiker-Kommission“ kam 1997 zu folgendem Ergebnis:
„Die Angaben über die Vertreibungsopfer, das heißt über die Menschenverluste, die die sudetendeutsche Bevölkerung während und im Zusammenhang mit der Vertreibung und zwangsweisen Aussiedlung aus der Tschechoslowakei erlitten hat, divergieren in extremem Maße und sind deshalb höchst umstritten. Die in deutschen statistischen Erhebungen angegebenen Werte streuen zwischen 220.000 und 270.000 ungeklärten Fällen, die vielfach als Todesfälle interpretiert werden, die in bisher vorliegenden Detailuntersuchungen genannte Größe liegt zwischen 15.000 und – maximal – 30.000 Todesfällen.
Die Differenz ist das Ergebnis unterschiedlicher Auffassungen über den Begriff der Vertreibungsopfer. Die Detailforschung neigt dazu, nur die Opfer von direkter Gewaltanwendung und abnormen Bedingungen zu berücksichtigen; dagegen zählt man in Statistiken vielfach alle ungeklärten Fälle zu den Vertreibungsopfern hinzu.
Die voneinander abweichenden Angaben ergeben sich zudem auch aus der Tatsache, dass verschiedene Erhebungs- bzw. Auswertungsmethoden verwendet werden.“[34]
Vor allem durch das Wechseln von Nationalitäten verschiedener Gruppen wie Individuen können diese Statistiken nicht mit einander verglichen werden.
Von 18.816 belegten Opfern der Vertreibungen und der Abschiebung waren 5.596 ermordet worden, 3.411 verübten Suizid, 6.615 kamen in Lagern um, 1.481 bei Transporten, 705 unmittelbar nach dem Transport, 629 bei einer Flucht und bei 379 Toten konnte man keine eindeutige Todesursache zuordnen.
Auf der Grundlage einer Volkszählung, von Rechnungen sowie Schätzungen und mit Rücksicht auf Kriegsverluste, Emigration und Massaker gab das Statistische Bundesamt im Jahre 1958 eine Erklärung heraus, der zufolge „es eine Gegensätzlichkeit in der Anzahl 225.600 Deutsche“ gebe, „deren Schicksal nicht aufgeklärt worden ist“. (Diese Zahl ist mehrmals korrigiert worden und bewegt sich auch in verschiedenen Quellen zwischen etwa 220.000 und 270.000, davon sollen ungefähr 250.000 Sudetendeutsche und 23.000 Karpatendeutsche sein.)
Gegner der von dieser Angabe abgeleiteten These, dass es rund 250.000 in der Vertreibung umgekommene Deutsche gegeben habe, behaupten, es sei falsch, diese Personen zur Gänze als Vertreibungsopfer zu klassifizieren. Die Anzahl der „unaufgeklärte Fälle“ sei viel höher als die Anzahl derer, die bei der Vertreibung und unmittelbar nach der Vertreibung nachweislich ums Leben gekommen sind. Anhänger dieser Version gehen von einer tatsächlichen Opferzahl zwischen 19.000 (gemäß der deutschen Gesamterhebung habe es etwa 5.000 Suizide und über 6.000 Opfer von Gewalttaten gegeben) und 30.000 aus.
Eine selbstständige deutsch-tschechische Historikerkommission hat sich im Jahre 1996 darauf geeinigt, dass bei dem odsun zwischen 20.000 und 30.000 Deutsche ums Leben kamen. Das sei eine von beiden Seiten bestätigte und beglaubigte Zahl. Diese Zahl wird jedoch weiterhin in Zweifel gezogen und in der Literatur findet man immer noch Schätzungen von 20.000 bis zu 270.000 Vertreibungstoten, u.a. weil die natürliche Sterbequote teilweise nicht berücksichtigt wird.
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Teil 2
Bevölkerungsstatistik
Im Jahre 1930 gab es auf dem Gebiet des heutigen Tschechien 3.149.820 Deutsche. Nach der tschechoslowakischen Volkszählung 1950 lebten 159.938 Deutsche auf dem Gebiet des heutigen Tschechien (und einige Tausend in der Slowakei), 1961 waren es 134.143 (1,4 % der Bevölkerung von Tschechien), im Jahr 1991 48.556; in der jüngsten Volkszählung, 2001, haben sich 39.106 Personen zur deutschen Nationalität bekannt. Die Abnahme zwischen 1961 und 1991 wurde wahrscheinlich durch die Emigration Deutscher nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 verursacht.
Tschechische Argumente zur „Aussiedlung“
Golo Mann plädierte für ganz Europa dafür, „Ereignisse und Entscheidungen zwischen 1939 und 1947 als eine einzige Unglücksmasse, als eine Kette böser Aktionen und böser Reaktionen zu sehen“.[35] Etwa in diesem Sinn wurde in der Tschechoslowakei zumeist argumentiert, um den „Abschub“ zu erklären.
Die bis heute in Tschechien vorherrschende Auffassung zu den Gründen der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen und Mähren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nennt folgende Ursachen aus den Jahren 1938–1945:
die Illoyalität eines beträchtlichen Teils der Sudetendeutschen gegenüber der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik, kulminierend in den Forderungen der Sudetendeutschen Partei unter Konrad Henlein als Vorsitzendem;
den Nationalsozialismus und die durch ihn gegebene existenzielle Bedrohung der tschechischen Nation (die von der zeitgeschichtlichen Forschung bestätigt wird);
das Münchner Abkommen von 1938, das der Tschechoslowakei aufgezwungen wurde und von ihr daher nicht als völkerrechtlich gültiger Vertrag angesehen werden konnte;
die auf das Münchner Abkommen folgende Aussiedlung, Ermordung und Flucht der tschechischen Bevölkerung aus dem Sudetenland in die „Rest-Tschechei“ (ein Begriff Hitlers; über 150.000 Menschen, davon 115.000 Tschechen und andere etwa 70.000 bis 100.000 Emigranten in der zweiten Welle nach der Beendigung der Besetzung);
die 1939 erfolgte Besetzung des verbliebenen tschechischen Gebietes und das NS-Terrorregime im Protektorat Böhmen und Mähren, symbolisiert durch das Massaker von Lidice 1942, mit Massenhinrichtungen, Massenvertreibungen und Konzentrationslagern in den Sudetenländern;
die Tatsache, dass die Sudetendeutschen zu Reichsbürgern erklärt wurden, somit nach tschechischer Auffassung 1945 bereits Ausländerstatus hatten, und dass die Mehrheit während des Krieges meist die verbrecherischen deutschen Kriegs- und Machtziele unterstützte.
Sudetendeutsche waren oft zweisprachig, beherrschten Deutsch und Tschechisch, und leisteten ab Frühjahr 1939 auf allen Ebenen wesentliche Arbeit für das NS-Regime (Dolmetscher für NS-Machthaber, bei der Gestapo, als Richter, bei der Organisation von Arbeitsdeportationen etc.).
Durch die genannten Ereignisse und Haltungen sei, wie die tschechische Seite betont, der pauschale Hass der tschechischen Bevölkerung auf die Deutschen bis 1945 immer stärker angewachsen.
Der spontane Beginn der Vertreibung sei eine unmittelbare Reaktion auf die überaus brutale Bekämpfung des tschechischen Aufstands in Prag, Přerov (Prerau) und in anderen Orten Anfang Mai 1945 gewesen.
Deutsche Argumente zur Vertreibung
In Deutschland und Österreich werden die NS-Verbrechen in Tschechien nicht geleugnet; man wandte sich aber grundsätzlich gegen Kollektivstrafen statt Einzelfallprüfung.[36]
Klaus-Dietmar Henke betont, ab Mai 1945 habe „ein Sturm von Vergeltung, Rache und Hass durch das Land“ gefegt. „Wo die Truppen der Svoboda-Armee und die Revolutionsgarden auftauchten, fragten sie nicht nach Schuldigen oder Unschuldigen, sie suchten nach Deutschen.“[37] Somit sind nach deutscher Auffassung auch völlig schuldlose Menschen vertrieben worden. Die damit verbundene Enteignung wird als grundsätzlich rechtswidrig betrachtet.
Es wird nicht geleugnet, dass ein Teil der sudetendeutschen Politiker keine Loyalität zur Tschechoslowakischen Republik entwickelt hat, aber darauf hingewiesen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen 1918/1919, dem neuen Staat Deutschösterreich beizutreten, von den tschechoslowakischen Politikern grundsätzlich ignoriert und die Verfassung der neuen Republik ohne Einbeziehung der deutschen Volksgruppe geschaffen wurde. Der tschechoslowakische Minister Alois Rašin äußerte im November 1918: „Das Selbstbestimmungsrecht ist eine schöne Phrase. Jetzt aber, da die Entente gesiegt hat, entscheidet die Gewalt.“[38] „Das ist unser Staat lautete die apodiktische Formel des jungen tschechoslowakischen Nationalstaatsbewusstseins. […] Andererseits gab es damals in Ostmitteleuropa kaum eine zweite deutsche Minderheit, die sich wirtschaftlich so frei entfalten und politisch so uneingeschränkt hatte artikulieren können wie die Sudetendeutschen in der ČSR“.[39]
Weiters wird daran erinnert, dass sudetendeutsche Politiker von 1926 bis 1938 in Regierungen der Tschechoslowakei vertreten waren und dass die kooperationsbereiten Parteien bis 1935 ca. 80 % der sudetendeutschen Stimmen erhielten.[40] 1935 setzte sich allerdings die Sudetendeutsche Partei mit 68 % der sudetendeutschen Stimmen durch.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakei haben 1973 den so genannten Prager Vertrag (oder Normalisierungsvertrag)[41] abgeschlossen und sodann diplomatische Beziehungen aufgenommen. Von sudetendeutscher Seite wurde kritisiert, dass in diesem Vertrag Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen mit keinem Wort erwähnt sind. Allerdings wurden auch die NS-Verbrechen in der Tschechoslowakei nicht erwähnt; der Vertrag berechtigt niemanden zu Ansprüchen.
Siehe auch: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte
Siehe auch
Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950
Quelle - literatur & Einzelnachweise
Im Jahre 1930 gab es auf dem Gebiet des heutigen Tschechien 3.149.820 Deutsche. Nach der tschechoslowakischen Volkszählung 1950 lebten 159.938 Deutsche auf dem Gebiet des heutigen Tschechien (und einige Tausend in der Slowakei), 1961 waren es 134.143 (1,4 % der Bevölkerung von Tschechien), im Jahr 1991 48.556; in der jüngsten Volkszählung, 2001, haben sich 39.106 Personen zur deutschen Nationalität bekannt. Die Abnahme zwischen 1961 und 1991 wurde wahrscheinlich durch die Emigration Deutscher nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 verursacht.
Tschechische Argumente zur „Aussiedlung“
Golo Mann plädierte für ganz Europa dafür, „Ereignisse und Entscheidungen zwischen 1939 und 1947 als eine einzige Unglücksmasse, als eine Kette böser Aktionen und böser Reaktionen zu sehen“.[35] Etwa in diesem Sinn wurde in der Tschechoslowakei zumeist argumentiert, um den „Abschub“ zu erklären.
Die bis heute in Tschechien vorherrschende Auffassung zu den Gründen der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen und Mähren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nennt folgende Ursachen aus den Jahren 1938–1945:
die Illoyalität eines beträchtlichen Teils der Sudetendeutschen gegenüber der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik, kulminierend in den Forderungen der Sudetendeutschen Partei unter Konrad Henlein als Vorsitzendem;
den Nationalsozialismus und die durch ihn gegebene existenzielle Bedrohung der tschechischen Nation (die von der zeitgeschichtlichen Forschung bestätigt wird);
das Münchner Abkommen von 1938, das der Tschechoslowakei aufgezwungen wurde und von ihr daher nicht als völkerrechtlich gültiger Vertrag angesehen werden konnte;
die auf das Münchner Abkommen folgende Aussiedlung, Ermordung und Flucht der tschechischen Bevölkerung aus dem Sudetenland in die „Rest-Tschechei“ (ein Begriff Hitlers; über 150.000 Menschen, davon 115.000 Tschechen und andere etwa 70.000 bis 100.000 Emigranten in der zweiten Welle nach der Beendigung der Besetzung);
die 1939 erfolgte Besetzung des verbliebenen tschechischen Gebietes und das NS-Terrorregime im Protektorat Böhmen und Mähren, symbolisiert durch das Massaker von Lidice 1942, mit Massenhinrichtungen, Massenvertreibungen und Konzentrationslagern in den Sudetenländern;
die Tatsache, dass die Sudetendeutschen zu Reichsbürgern erklärt wurden, somit nach tschechischer Auffassung 1945 bereits Ausländerstatus hatten, und dass die Mehrheit während des Krieges meist die verbrecherischen deutschen Kriegs- und Machtziele unterstützte.
Sudetendeutsche waren oft zweisprachig, beherrschten Deutsch und Tschechisch, und leisteten ab Frühjahr 1939 auf allen Ebenen wesentliche Arbeit für das NS-Regime (Dolmetscher für NS-Machthaber, bei der Gestapo, als Richter, bei der Organisation von Arbeitsdeportationen etc.).
Durch die genannten Ereignisse und Haltungen sei, wie die tschechische Seite betont, der pauschale Hass der tschechischen Bevölkerung auf die Deutschen bis 1945 immer stärker angewachsen.
Der spontane Beginn der Vertreibung sei eine unmittelbare Reaktion auf die überaus brutale Bekämpfung des tschechischen Aufstands in Prag, Přerov (Prerau) und in anderen Orten Anfang Mai 1945 gewesen.
Deutsche Argumente zur Vertreibung
In Deutschland und Österreich werden die NS-Verbrechen in Tschechien nicht geleugnet; man wandte sich aber grundsätzlich gegen Kollektivstrafen statt Einzelfallprüfung.[36]
Klaus-Dietmar Henke betont, ab Mai 1945 habe „ein Sturm von Vergeltung, Rache und Hass durch das Land“ gefegt. „Wo die Truppen der Svoboda-Armee und die Revolutionsgarden auftauchten, fragten sie nicht nach Schuldigen oder Unschuldigen, sie suchten nach Deutschen.“[37] Somit sind nach deutscher Auffassung auch völlig schuldlose Menschen vertrieben worden. Die damit verbundene Enteignung wird als grundsätzlich rechtswidrig betrachtet.
Es wird nicht geleugnet, dass ein Teil der sudetendeutschen Politiker keine Loyalität zur Tschechoslowakischen Republik entwickelt hat, aber darauf hingewiesen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen 1918/1919, dem neuen Staat Deutschösterreich beizutreten, von den tschechoslowakischen Politikern grundsätzlich ignoriert und die Verfassung der neuen Republik ohne Einbeziehung der deutschen Volksgruppe geschaffen wurde. Der tschechoslowakische Minister Alois Rašin äußerte im November 1918: „Das Selbstbestimmungsrecht ist eine schöne Phrase. Jetzt aber, da die Entente gesiegt hat, entscheidet die Gewalt.“[38] „Das ist unser Staat lautete die apodiktische Formel des jungen tschechoslowakischen Nationalstaatsbewusstseins. […] Andererseits gab es damals in Ostmitteleuropa kaum eine zweite deutsche Minderheit, die sich wirtschaftlich so frei entfalten und politisch so uneingeschränkt hatte artikulieren können wie die Sudetendeutschen in der ČSR“.[39]
Weiters wird daran erinnert, dass sudetendeutsche Politiker von 1926 bis 1938 in Regierungen der Tschechoslowakei vertreten waren und dass die kooperationsbereiten Parteien bis 1935 ca. 80 % der sudetendeutschen Stimmen erhielten.[40] 1935 setzte sich allerdings die Sudetendeutsche Partei mit 68 % der sudetendeutschen Stimmen durch.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakei haben 1973 den so genannten Prager Vertrag (oder Normalisierungsvertrag)[41] abgeschlossen und sodann diplomatische Beziehungen aufgenommen. Von sudetendeutscher Seite wurde kritisiert, dass in diesem Vertrag Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen mit keinem Wort erwähnt sind. Allerdings wurden auch die NS-Verbrechen in der Tschechoslowakei nicht erwähnt; der Vertrag berechtigt niemanden zu Ansprüchen.
Siehe auch: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte
Siehe auch
Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950
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