Wilhelm Raabe allias Jakob Corvinus
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Wilhelm Raabe allias Jakob Corvinus
Wilhelm Karl Raabe (Pseudonym: Jakob Corvinus; * 8. September 1831 in Eschershausen; † 15. November 1910 in Braunschweig) war ein deutscher Schriftsteller (Erzähler). Er war ein Vertreter des poetischen Realismus, bekannt für seine gesellschaftskritischen Erzählungen, Novellen und Romane.
Porträt des 57-jährigen Wilhelm Raabe (aus der Gartenlaube 1888)
Aufnahme aus seinem Sterbejahr 1910.
Leben
Eschershausen: Wilhelm Raabes Geburtshaus, heute das „Raabe-Haus“, ein Museum.
Wilhelm Raabe wurde als Sohn des Justizbeamten Gustav Karl Maximilian Raabe (1800–1845) und dessen Frau Auguste Johanne Frederike Jeep (1807–1874) im kleinstädtischen Eschershausen im Weserbergland geboren. Nach dem Tod des Vaters zog die Witwe mit Wilhelm und seinen zwei Geschwistern nach Wolfenbüttel, wo ihre Verwandten zum Großbürgertum zählten. Nach dem Abbruch der Schule und einer 1853 ebenfalls abgebrochenen Buchhändlerlehre in Magdeburg versuchte Raabe in Wolfenbüttel vergeblich, das Abitur nachzuholen. In Berlin studierte er als Gasthörer Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität[1][2], der heutigen Humboldt-Universität, was ihm als Bürgerssohn auch ohne Abitur möglich war. In dieser Zeit entstand sein erster Roman Die Chronik der Sperlingsgasse, den er unter dem Pseudonym „Jacob Corvinus“ (corvinus ist Lateinisch für „rabenartig“[3]) veröffentlichte und der nach seinem Bekunden sein größter schriftstellerischer Erfolg war – und der Überlieferung nach auch sein größter wirtschaftlicher.
Am 24. Juli 1862 heiratete Wilhelm Raabe Berta Emilie Wilhelmine Leiste, die Tochter des Oberappellationsgerichtsprocurators Christoph Ludwig Leiste aus Wolfenbüttel (Sohn von Christian Leiste) und seiner Frau Johanne Sophie Caroline Berta Heyden. Durch seine Heirat war Raabe mit dem Architekten und Braunschweiger Stadtbaurat Heinrich Carl Friedrich August Tappe weitläufig verschwägert. Aus der Ehe gingen die vier Töchter Margarethe (* 17. September 1863 in Stuttgart; † 17. März 1947 in Wolfenbüttel), Elisabeth (* 1868 in Stuttgart), Klara (* 1872 in Braunschweig) und Gertrud (* 1876 in Braunschweig) hervor.
In den fast fünfzig Jahren zwischen dem 15. November 1854, dem „Federansetzungstag“, als er Die Chronik der Sperlingsgasse zu schreiben begonnen hatte (erschienen Ende September 1856, vordatiert auf 1857), und dem als Fragment abgebrochenen Roman Altershausen im Jahre 1902 verfasste Raabe nicht weniger als 68 Romane, Erzählungen und Novellen, dazu eine kleine Zahl von Gedichten. Da Raabe ausschließlich von seinen Einkünften als freier Schriftsteller lebte, war er zu dieser hohen Produktivität gezwungen. Das Spektrum seines Werkes reicht von großen, realistischen Romanen und meisterhaften Novellen bis hin zu alltäglicher Unterhaltungsliteratur. Die Popularität seines Erstlingswerkes erreichte kein anderes seiner Bücher, doch fanden auch sie eine große Leserschaft. In den 1890er Jahren wurde einigen Titeln wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Während dieses Aufschwungs wurde er auch einige Male öffentlich geehrt, obwohl er selbst sich bereits als „gestorbenen Schriftsteller“ („Schriftsteller a.D.”) betrachtete. In seinen letzten acht Lebensjahren stellte er seine schriftstellerische Tätigkeit ein und unternahm mehrere Reisen. Einen umfangreichen Briefwechsel führte er mit dem Literaturkritiker Sigmund Schott., der auch viele Werke Raabes in der Presse besprach.[4]
Raabe (unterste Reihe links) bei den „Kleidersellern“ am 21. September 1890
Raabe lebte mehrere Jahre in Wolfenbüttel (davon sechs als Schriftsteller), acht Jahre in Stuttgart und fast 40 Jahre in Braunschweig, wo er am 15. Dezember 1870, durch Ludwig Hänselmann vermittelt, Mitglied des Stammtischs der Ehrlichen Kleiderseller wurde. 1883 wurde er Mitglied eines weiteren Stammtischs, der sich Feuchter Pinsel nannte und verschiedene Künstler und Kunstinteressierte der Stadt zusammenbrachte. In Braunschweig starb er am Tag seines 56. Autorenjubiläums, 56 Jahre nach dem „Federansetzungstag“. Die Gedenkrede an seiner Trauerfeier hielt Wilhelm Brandes, ein Freund und Vertrauter Raabes und dessen Biograph, der 1911 zusammen mit mehreren Braunschweiger Honoratioren die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes gründete.
In dem Gebäude, dem heutigen Braunschweiger Raabe-Haus, in dem er von 1901 bis zu seinem Tod im Jahr 1910 mit seiner Familie lebte, befinden sich heute eine Ausstellung und eine Raabe-Forschungsstelle.
Wilhelm Raabes eigenes Lebensbild
Gemälde von Wilhelm Immelkamp, 1909
Die Bitte nach einer Autobiografie lehnte Wilhelm Raabe zwar ab, er schrieb aber 1906 eine kleine biographische Skizze:
„Ich bin am 8. September 1831 zu Eschershausen im Herzogtum Braunschweig geboren worden. Mein Vater war der damalige ‚Aktuar‘ am dortigen Amtsgericht, Gustav Karl Maximilian Raabe, und meine Mutter Auguste Johanne Frederike Jeep, die Tochter des weiland Stadtkämmerers Jeep zu Holzminden. Meine Mutter ist es gewesen, die mir das Lesen aus dem Robinson Crusoe unseres alten Landsmanns aus Deensen, Joachim Heinrich Campe beigebracht hat. Was ich nachher auf Volks- und Bürgerschulen, Gymnasien und auf der Universität an Wissenschafte zu erworben habe, heftet sich alles an den lieben feinen Finger, der mir ums Jahr 1836 herum den Punkt über dem i wies.
Im Jahr 1845 starb mein Vater als Justizamtmann zu Stadtoldendorf und zog seine Witwe mit ihren drei Kindern nach Wolfenbüttel, wo ich das Gymnasium bis 1849 besuchte. Wie mich danach unseres Herrgotts Kanzlei, die brave Stadt Magdeburg, davor bewahrte, ein mittelmäßiger Jurist, Schulmeister, Arzt oder gar Pastor zu werden, halte ich für eine Fügung, für welche ich nicht dankbar genug sein kann.
Ostern 1854 ging ich nach einem Jahr ernstlicher Vorbereitung nach Berlin, um mir auch ‚auf Universitäten‘ noch etwas mehr Ordnung in der Welt Dinge und Angelegenheiten, soweit sie ein so junger Mensch übersehen kann, zu bringen. Im November desselben Jahres begann ich dort in der Spreegasse die ‚Chronik der Sperlingsgasse‘ zu schreiben und vollendete sie im folgenden Frühling. Ende September 1856 erblickte das Buch durch den Druck das Tageslicht und hilft mir heute noch neben dem ‚Hungerpastor‘ im Erdenhaushalt am meisten mit zum Leben. Denn für die Schriften meiner ersten Schaffensperiode, die bis zu letzterwähntem Buche reicht, habe ich ‚Leser‘ gefunden, für den Rest nur ‚Liebhaber‘, aber mit denen, wie ich meine, freilich das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzuweisen hat.“
Künstlerisches Schaffen
Schriftsteller
Raabe beobachtete besonders stark die irreparablen Risse zwischen Altem und Neuem, zwischen Geborgenheit und technischer Industrialisierung, welche sich auf Kosten der Natur und der Gemütskultur vergrößerten und vertieften. Als einer der ersten Umweltromane gilt sein Werk Pfisters Mühle, in dem er das Schicksal eines idyllischen Ausflugslokals der Wasserverschmutzung durch eine Zuckerrübenfabrik gegenüberstellte. Das Lokal musste dann dem Neubau einer Fabrik weichen. Raabe sah also die dunklen Seiten des Daseins und nahm die Haltung eines Pessimisten an. Für diese Lage empfahl er: Sieh auf zu den Sternen. Gib Acht auf die Gasse. (Die Leute aus dem Walde). In diesem Grundzug wurzelt auch Raabes Humor. So war Raabe kein Mensch der Idylle, obwohl er oft so gelesen bzw. interpretiert wurde, sondern blieb vielmehr ein entschiedener Kritiker seiner Zeit.
Raabe behandelt in seinem Gesamtwerk Teile der deutschen Geschichte, vor allem die Kriege. Dabei gelingt es ihm, durch die Einführung von realen Charakteren und deren Schicksalen seine Werke lebendig und spannend zu gestalten. Durch Kunstgriffe der Erzählperspektive und des Stils hält er einen beobachtenden Abstand.
Viele Betrachtungen und Abschweifungen – auch die seiner Zeit noch unauffällige Fülle der Zitate von der Antike bis zum zeitgenössischen Volksmund – erschweren heute das Lesen von Raabes Werken. Flüchtiger Lektüre scheint es bisweilen, als hätten seine Texte einen unzulänglichen Aufbau und fehlten gelegentlich wichtige Zusammenhänge, doch gerade diese arbeitete er mit großer Sorgfalt und Feinheit heraus. Die Wertungen von Raabes Dichtungen haben sich seit seinen Lebzeiten verschoben. Er selbst urteilte sehr hart über einige seiner frühen Werke, die er zum Teil als „Jugendquark“ bezeichnete. Während früher die sogenannte „Stuttgarter Trilogie“ (Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump) als Hauptwerk galt, wird heute anderen Erzählungen und Romanen der Vorzug gegeben (u. a. Stopfkuchen, Horacker, Das Odfeld, Hastenbeck, Die Akten des Vogelsangs).
Wilhelm Raabe: Bauernkaten in einer Heidelandschaft
Wilhelm Raabe hatte ein weiteres, weniger bekanntes Talent, das des Malens.[5] Er hinterließ mehr als 550 Aquarelle und Zeichnungen, die sich heute zum überwiegenden Teil im Besitz der Stadt Braunschweig befinden und vom dortigen Stadtarchiv verwahrt werden; im Privatbesitz der Nachkommen verblieben sind einige Blätter und Skizzen. Das Landschaftsbild Bauernkaten in einer Heidelandschaft ist ein Ölbild in den Maßen 37 × 23 cm.[6]
Auszeichnungen und Ehrungen
1886 Ehrengabe und später lebenslanger Ehrensold der Schillerstiftung
1899 Verdienstorden des Fürstentums von Bayern
1901 Ehrendoktor der Universitäten Göttingen und Tübingen
1901 Ehrenbürger der Stadt Braunschweig und der Stadt Eschershausen
1901 Verdienstorden der Fürstenhäuser von Baden, Braunschweig, Preußen, Sachsen-Weimar, Württemberg
1910 Ehrendoktor der Universität Berlin
1910 Ehrengrab auf dem Braunschweiger Hauptfriedhof
1931 Raabe-Denkmal und Wilhelm-Raabe-Schule in Eschershausen
1931 Umbenennung der Spreestraße in Sperlingsgasse in Berlin-Mitte
1940 Benennung des Wilhelm-Raabe-Wegs in Kiel-Pries[7]
1941 Wilhelm-Raabe-Preis wird gestiftet und bis 1990 verliehen
1950 Wilhelm-Raabe-Warte bei Blankenburg
1981 Briefmarke der Deutschen Bundespost
2000 Wilhelm-Raabe-Literaturpreis wird gestiftet von der Stadt Braunschweig und dem Deutschlandradio
Namensgeber für Schulen siehe: Wilhelm-Raabe-Schule
Werke
Gesamtausgaben
Sämtliche Werke. Serie 1, Bd. 1–6; Serie 2, Bd. 1–6, Serie 3, Bd 1–6, Klemm, Berlin-Grunewald [1913–1916].
Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Herausgegeben von Karl Hoppe / Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft nach dem Tode von Karl Hoppe besorgt von Jost Schillemeit, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966–1994 - 26 Bände digitalisiert.
Einzelne Werke
Die Gaststätte „Raabe-Diele“ in der Berliner Sperlingsgasse
Die Chronik der Sperlingsgasse, 1856 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Ein Frühling, Der Weg zum Lachen, 1857
Die alte Universität, Der Student von Wittenberg, Weihnachtsgeister, Lorenz Scheibenhart, Einer aus der Menge, 1858
Die Kinder von Finkenrode, Der Junker von Denow, Wer kann es wenden?, 1859
Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michel Haas, Ein Geheimnis, 1860
Auf dunkelm Grunde, Die schwarze Galeere, Der heilige Born, Nach dem großen Kriege, 1861
Unseres Herrgotts Kanzlei, Das letzte Recht, 1862
Eine Grabrede aus dem Jahre 1609, Die Leute aus dem Walde, Holunderblüte, Die Hämelschen Kinder 1863
Der Hungerpastor, Keltische Knochen, 1864
Else von der Tanne, Drei Federn, 1865
Die Gänse von Bützow, Sankt Thomas, Gedelöcke, 1866
Abu Telfan, 1867
Theklas Erbschaft, 1868
Im Siegeskranze, 1869
Der Schüdderump, Der Marsch nach Hause, Des Reiches Krone, 1870
Der Dräumling, 1872
Deutscher Mondschein, Christoph Pechlin, 1873
Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten, Höxter und Corvey, 1874
Frau Salome, Vom alten Proteus, Eulenpfingsten, 1875
Die Innerste, Der gute Tag, Horacker, 1876
Auf dem Altenteil, 1878
Alte Nester, Wunnigel, 1879
Deutscher Adel, 1880
Das Horn von Wanza, 1881
Fabian und Sebastian, 1882
Prinzessin Fisch, 1883
Villa Schönow, Pfisters Mühle, Zum wilden Mann, Ein Besuch, 1884
Unruhige Gäste, 1885
Im alten Eisen, 1887
Das Odfeld, 1888 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Der Lar, 1889
Stopfkuchen, 1891 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Gutmanns Reisen, 1892
Kloster Lugau, 1894
Die Akten des Vogelsangs, 1896 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Hastenbeck, 1899
Altershausen (Fragment), 1902 (1911 veröffentlicht)
Weitere Texte
„In alls gedultig.“ Briefe Wilhelm Raabes. Hrsg v. Wilhelm Fehse. Grote Verlag, Berlin, 1940.
Das Raabe-Haus in Braunschweig
Quelle - literatur & einzelnachweise
Porträt des 57-jährigen Wilhelm Raabe (aus der Gartenlaube 1888)
Aufnahme aus seinem Sterbejahr 1910.
Leben
Eschershausen: Wilhelm Raabes Geburtshaus, heute das „Raabe-Haus“, ein Museum.
Wilhelm Raabe wurde als Sohn des Justizbeamten Gustav Karl Maximilian Raabe (1800–1845) und dessen Frau Auguste Johanne Frederike Jeep (1807–1874) im kleinstädtischen Eschershausen im Weserbergland geboren. Nach dem Tod des Vaters zog die Witwe mit Wilhelm und seinen zwei Geschwistern nach Wolfenbüttel, wo ihre Verwandten zum Großbürgertum zählten. Nach dem Abbruch der Schule und einer 1853 ebenfalls abgebrochenen Buchhändlerlehre in Magdeburg versuchte Raabe in Wolfenbüttel vergeblich, das Abitur nachzuholen. In Berlin studierte er als Gasthörer Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität[1][2], der heutigen Humboldt-Universität, was ihm als Bürgerssohn auch ohne Abitur möglich war. In dieser Zeit entstand sein erster Roman Die Chronik der Sperlingsgasse, den er unter dem Pseudonym „Jacob Corvinus“ (corvinus ist Lateinisch für „rabenartig“[3]) veröffentlichte und der nach seinem Bekunden sein größter schriftstellerischer Erfolg war – und der Überlieferung nach auch sein größter wirtschaftlicher.
Am 24. Juli 1862 heiratete Wilhelm Raabe Berta Emilie Wilhelmine Leiste, die Tochter des Oberappellationsgerichtsprocurators Christoph Ludwig Leiste aus Wolfenbüttel (Sohn von Christian Leiste) und seiner Frau Johanne Sophie Caroline Berta Heyden. Durch seine Heirat war Raabe mit dem Architekten und Braunschweiger Stadtbaurat Heinrich Carl Friedrich August Tappe weitläufig verschwägert. Aus der Ehe gingen die vier Töchter Margarethe (* 17. September 1863 in Stuttgart; † 17. März 1947 in Wolfenbüttel), Elisabeth (* 1868 in Stuttgart), Klara (* 1872 in Braunschweig) und Gertrud (* 1876 in Braunschweig) hervor.
In den fast fünfzig Jahren zwischen dem 15. November 1854, dem „Federansetzungstag“, als er Die Chronik der Sperlingsgasse zu schreiben begonnen hatte (erschienen Ende September 1856, vordatiert auf 1857), und dem als Fragment abgebrochenen Roman Altershausen im Jahre 1902 verfasste Raabe nicht weniger als 68 Romane, Erzählungen und Novellen, dazu eine kleine Zahl von Gedichten. Da Raabe ausschließlich von seinen Einkünften als freier Schriftsteller lebte, war er zu dieser hohen Produktivität gezwungen. Das Spektrum seines Werkes reicht von großen, realistischen Romanen und meisterhaften Novellen bis hin zu alltäglicher Unterhaltungsliteratur. Die Popularität seines Erstlingswerkes erreichte kein anderes seiner Bücher, doch fanden auch sie eine große Leserschaft. In den 1890er Jahren wurde einigen Titeln wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Während dieses Aufschwungs wurde er auch einige Male öffentlich geehrt, obwohl er selbst sich bereits als „gestorbenen Schriftsteller“ („Schriftsteller a.D.”) betrachtete. In seinen letzten acht Lebensjahren stellte er seine schriftstellerische Tätigkeit ein und unternahm mehrere Reisen. Einen umfangreichen Briefwechsel führte er mit dem Literaturkritiker Sigmund Schott., der auch viele Werke Raabes in der Presse besprach.[4]
Raabe (unterste Reihe links) bei den „Kleidersellern“ am 21. September 1890
Raabe lebte mehrere Jahre in Wolfenbüttel (davon sechs als Schriftsteller), acht Jahre in Stuttgart und fast 40 Jahre in Braunschweig, wo er am 15. Dezember 1870, durch Ludwig Hänselmann vermittelt, Mitglied des Stammtischs der Ehrlichen Kleiderseller wurde. 1883 wurde er Mitglied eines weiteren Stammtischs, der sich Feuchter Pinsel nannte und verschiedene Künstler und Kunstinteressierte der Stadt zusammenbrachte. In Braunschweig starb er am Tag seines 56. Autorenjubiläums, 56 Jahre nach dem „Federansetzungstag“. Die Gedenkrede an seiner Trauerfeier hielt Wilhelm Brandes, ein Freund und Vertrauter Raabes und dessen Biograph, der 1911 zusammen mit mehreren Braunschweiger Honoratioren die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes gründete.
In dem Gebäude, dem heutigen Braunschweiger Raabe-Haus, in dem er von 1901 bis zu seinem Tod im Jahr 1910 mit seiner Familie lebte, befinden sich heute eine Ausstellung und eine Raabe-Forschungsstelle.
Wilhelm Raabes eigenes Lebensbild
Gemälde von Wilhelm Immelkamp, 1909
Die Bitte nach einer Autobiografie lehnte Wilhelm Raabe zwar ab, er schrieb aber 1906 eine kleine biographische Skizze:
„Ich bin am 8. September 1831 zu Eschershausen im Herzogtum Braunschweig geboren worden. Mein Vater war der damalige ‚Aktuar‘ am dortigen Amtsgericht, Gustav Karl Maximilian Raabe, und meine Mutter Auguste Johanne Frederike Jeep, die Tochter des weiland Stadtkämmerers Jeep zu Holzminden. Meine Mutter ist es gewesen, die mir das Lesen aus dem Robinson Crusoe unseres alten Landsmanns aus Deensen, Joachim Heinrich Campe beigebracht hat. Was ich nachher auf Volks- und Bürgerschulen, Gymnasien und auf der Universität an Wissenschafte zu erworben habe, heftet sich alles an den lieben feinen Finger, der mir ums Jahr 1836 herum den Punkt über dem i wies.
Im Jahr 1845 starb mein Vater als Justizamtmann zu Stadtoldendorf und zog seine Witwe mit ihren drei Kindern nach Wolfenbüttel, wo ich das Gymnasium bis 1849 besuchte. Wie mich danach unseres Herrgotts Kanzlei, die brave Stadt Magdeburg, davor bewahrte, ein mittelmäßiger Jurist, Schulmeister, Arzt oder gar Pastor zu werden, halte ich für eine Fügung, für welche ich nicht dankbar genug sein kann.
Ostern 1854 ging ich nach einem Jahr ernstlicher Vorbereitung nach Berlin, um mir auch ‚auf Universitäten‘ noch etwas mehr Ordnung in der Welt Dinge und Angelegenheiten, soweit sie ein so junger Mensch übersehen kann, zu bringen. Im November desselben Jahres begann ich dort in der Spreegasse die ‚Chronik der Sperlingsgasse‘ zu schreiben und vollendete sie im folgenden Frühling. Ende September 1856 erblickte das Buch durch den Druck das Tageslicht und hilft mir heute noch neben dem ‚Hungerpastor‘ im Erdenhaushalt am meisten mit zum Leben. Denn für die Schriften meiner ersten Schaffensperiode, die bis zu letzterwähntem Buche reicht, habe ich ‚Leser‘ gefunden, für den Rest nur ‚Liebhaber‘, aber mit denen, wie ich meine, freilich das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzuweisen hat.“
Künstlerisches Schaffen
Schriftsteller
Raabe beobachtete besonders stark die irreparablen Risse zwischen Altem und Neuem, zwischen Geborgenheit und technischer Industrialisierung, welche sich auf Kosten der Natur und der Gemütskultur vergrößerten und vertieften. Als einer der ersten Umweltromane gilt sein Werk Pfisters Mühle, in dem er das Schicksal eines idyllischen Ausflugslokals der Wasserverschmutzung durch eine Zuckerrübenfabrik gegenüberstellte. Das Lokal musste dann dem Neubau einer Fabrik weichen. Raabe sah also die dunklen Seiten des Daseins und nahm die Haltung eines Pessimisten an. Für diese Lage empfahl er: Sieh auf zu den Sternen. Gib Acht auf die Gasse. (Die Leute aus dem Walde). In diesem Grundzug wurzelt auch Raabes Humor. So war Raabe kein Mensch der Idylle, obwohl er oft so gelesen bzw. interpretiert wurde, sondern blieb vielmehr ein entschiedener Kritiker seiner Zeit.
Raabe behandelt in seinem Gesamtwerk Teile der deutschen Geschichte, vor allem die Kriege. Dabei gelingt es ihm, durch die Einführung von realen Charakteren und deren Schicksalen seine Werke lebendig und spannend zu gestalten. Durch Kunstgriffe der Erzählperspektive und des Stils hält er einen beobachtenden Abstand.
Viele Betrachtungen und Abschweifungen – auch die seiner Zeit noch unauffällige Fülle der Zitate von der Antike bis zum zeitgenössischen Volksmund – erschweren heute das Lesen von Raabes Werken. Flüchtiger Lektüre scheint es bisweilen, als hätten seine Texte einen unzulänglichen Aufbau und fehlten gelegentlich wichtige Zusammenhänge, doch gerade diese arbeitete er mit großer Sorgfalt und Feinheit heraus. Die Wertungen von Raabes Dichtungen haben sich seit seinen Lebzeiten verschoben. Er selbst urteilte sehr hart über einige seiner frühen Werke, die er zum Teil als „Jugendquark“ bezeichnete. Während früher die sogenannte „Stuttgarter Trilogie“ (Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump) als Hauptwerk galt, wird heute anderen Erzählungen und Romanen der Vorzug gegeben (u. a. Stopfkuchen, Horacker, Das Odfeld, Hastenbeck, Die Akten des Vogelsangs).
Wilhelm Raabe: Bauernkaten in einer Heidelandschaft
Wilhelm Raabe hatte ein weiteres, weniger bekanntes Talent, das des Malens.[5] Er hinterließ mehr als 550 Aquarelle und Zeichnungen, die sich heute zum überwiegenden Teil im Besitz der Stadt Braunschweig befinden und vom dortigen Stadtarchiv verwahrt werden; im Privatbesitz der Nachkommen verblieben sind einige Blätter und Skizzen. Das Landschaftsbild Bauernkaten in einer Heidelandschaft ist ein Ölbild in den Maßen 37 × 23 cm.[6]
Auszeichnungen und Ehrungen
1886 Ehrengabe und später lebenslanger Ehrensold der Schillerstiftung
1899 Verdienstorden des Fürstentums von Bayern
1901 Ehrendoktor der Universitäten Göttingen und Tübingen
1901 Ehrenbürger der Stadt Braunschweig und der Stadt Eschershausen
1901 Verdienstorden der Fürstenhäuser von Baden, Braunschweig, Preußen, Sachsen-Weimar, Württemberg
1910 Ehrendoktor der Universität Berlin
1910 Ehrengrab auf dem Braunschweiger Hauptfriedhof
1931 Raabe-Denkmal und Wilhelm-Raabe-Schule in Eschershausen
1931 Umbenennung der Spreestraße in Sperlingsgasse in Berlin-Mitte
1940 Benennung des Wilhelm-Raabe-Wegs in Kiel-Pries[7]
1941 Wilhelm-Raabe-Preis wird gestiftet und bis 1990 verliehen
1950 Wilhelm-Raabe-Warte bei Blankenburg
1981 Briefmarke der Deutschen Bundespost
2000 Wilhelm-Raabe-Literaturpreis wird gestiftet von der Stadt Braunschweig und dem Deutschlandradio
Namensgeber für Schulen siehe: Wilhelm-Raabe-Schule
Werke
Gesamtausgaben
Sämtliche Werke. Serie 1, Bd. 1–6; Serie 2, Bd. 1–6, Serie 3, Bd 1–6, Klemm, Berlin-Grunewald [1913–1916].
Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe. Herausgegeben von Karl Hoppe / Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft nach dem Tode von Karl Hoppe besorgt von Jost Schillemeit, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966–1994 - 26 Bände digitalisiert.
Einzelne Werke
Die Gaststätte „Raabe-Diele“ in der Berliner Sperlingsgasse
Die Chronik der Sperlingsgasse, 1856 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Ein Frühling, Der Weg zum Lachen, 1857
Die alte Universität, Der Student von Wittenberg, Weihnachtsgeister, Lorenz Scheibenhart, Einer aus der Menge, 1858
Die Kinder von Finkenrode, Der Junker von Denow, Wer kann es wenden?, 1859
Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michel Haas, Ein Geheimnis, 1860
Auf dunkelm Grunde, Die schwarze Galeere, Der heilige Born, Nach dem großen Kriege, 1861
Unseres Herrgotts Kanzlei, Das letzte Recht, 1862
Eine Grabrede aus dem Jahre 1609, Die Leute aus dem Walde, Holunderblüte, Die Hämelschen Kinder 1863
Der Hungerpastor, Keltische Knochen, 1864
Else von der Tanne, Drei Federn, 1865
Die Gänse von Bützow, Sankt Thomas, Gedelöcke, 1866
Abu Telfan, 1867
Theklas Erbschaft, 1868
Im Siegeskranze, 1869
Der Schüdderump, Der Marsch nach Hause, Des Reiches Krone, 1870
Der Dräumling, 1872
Deutscher Mondschein, Christoph Pechlin, 1873
Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten, Höxter und Corvey, 1874
Frau Salome, Vom alten Proteus, Eulenpfingsten, 1875
Die Innerste, Der gute Tag, Horacker, 1876
Auf dem Altenteil, 1878
Alte Nester, Wunnigel, 1879
Deutscher Adel, 1880
Das Horn von Wanza, 1881
Fabian und Sebastian, 1882
Prinzessin Fisch, 1883
Villa Schönow, Pfisters Mühle, Zum wilden Mann, Ein Besuch, 1884
Unruhige Gäste, 1885
Im alten Eisen, 1887
Das Odfeld, 1888 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Der Lar, 1889
Stopfkuchen, 1891 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Gutmanns Reisen, 1892
Kloster Lugau, 1894
Die Akten des Vogelsangs, 1896 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Hastenbeck, 1899
Altershausen (Fragment), 1902 (1911 veröffentlicht)
Weitere Texte
„In alls gedultig.“ Briefe Wilhelm Raabes. Hrsg v. Wilhelm Fehse. Grote Verlag, Berlin, 1940.
Das Raabe-Haus in Braunschweig
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