Die Apokalyptik
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Die Apokalyptik
Apokalyptik ist ein von Apokalypse (griechisch: αποκάλυψις, „Enthüllung“, „Offenbarung“) abgeleiteter Kunstbegriff, der auf Phänomene angewendet wird, die ähnliches Gedankengut hervorbringen, wie sie in den jüdischen und christlichen Apokalypsen der Antike zu finden sind. Im Vordergrund stehen dabei meist Weltuntergangsvorstellungen. Eine eindeutige, in der Wissenschaft unumstrittene Definition von Apokalyptik gibt es nicht.
Die vier apokalyptischen Reiter. Holzschnitt von Albrecht Dürer
Begriff
Entstehung
Friedrich Lücke definierte den Begriff „Apokalyptik“ erstmals 1832 als Endzeitprophetie. Apokalyptik wird dabei über die Gemeinsamkeiten der jüdischen und christlichen Apokalypsen definiert. Charakteristisch seien neben einem bestimmten, periodisierenden Geschichtsverständnis eine visionäre Form und bilderreiche Sprache, Pseudonymität, ein gebildeter und kunstvoller Stil sowie das Auftreten eines angelus interpres, der die göttliche Offenbarung vermittelt und erklärt. Diese Definition ist bis heute als Apokalyptik ist Weltuntergangsstimmung im Hintergrund wirksam.
Begriffserweiterungen und Definitionsprobleme
Ausgehend von dieser popularisierten Definition wurde der Begriff auf Phänomene anderer Religionen übertragen, die als Ursprung der jüdisch-christlichen Tradition in Frage kamen (Persien, Mesopotamien, Ägypten) oder von ihr beeinflusst wurden. In einem weiteren Schritt fand schließlich auch die Übertragung auf Phänomene statt, die in keinem (direkten) Zusammenhang zum Christentum standen und z.T. sogar nicht einmal religiöser Natur waren. Mit der ursprünglichen Definition sind viele dieser Phänomene allerdings inkompatibel.
Auch erwies sich Lückes Definition in der Forschung als unzureichend. Insbesondere die Unterscheidung zwischen apokalyptischen und eschatologischen Phänomenen war kaum exakt möglich. Daneben war auch unklar, ob Apokalyptik nur als Gattungsbegriff für Apokalypsen diente, oder eine darüber hinausgehende Bedeutung hatte.
Aufgrund dieser Unklarheiten fand 1979 in Uppsala eine Tagung statt, die eine Klärung der Probleme hervorbringen sollte. Einig waren sich die Vertreter ganz unterschiedlicher Geisteswissenschaften allerdings nur darin, dass die bisherige Verwendung des Begriffs unzureichend war. Auf eine Definition konnten sie sich jedoch nicht einigen.
Heutige Verwendung
Im Wesentlichen besteht heute Einigkeit darüber, dass Apokalyptik nicht bloß eine Gattungsbezeichnung sein könne. Apokalypse selbst ist die Gattung, zu der die Apokalypsen zu zählen sind. Apokalyptik hingegen sei ein dahinterstehendes Phänomen. Des Weiteren seien Messianismus und Chiliasmus von der Apokalyptik zu unterscheiden.
Uneinigkeit besteht allerdings darin, ob einer Apokalyptikdefinition eine Definition von Apokalypse vorausgehen müsse. Dieser Frage bejahen unter anderem die Apokalypse-Gruppe des Genres-Project der Society of Biblical Literature um den Alttestamentler John J. Collins und der Neutestamentler Hartmut Stegemann. Beide legen allerdings grundverschiedene Vorstellungen von Apokalypsen zugrunde. Während Collins über die äußere Form definiert (erzählender Bericht von einer Offenbarung transzendenter Realität), versteht Stegemann Apokalypsen als Ordnungsliteratur und vergleicht sie mit heutiger Naturwissenschaft: Apokalypsen entstanden aufgrund soziologischer Umstände, die es erforderten, dass neues (naturwissenschaftliches) Wissen (insbesondere in der Astronomie) einen göttlichen Ursprung beanspruchen musste, um sich durchsetzen zu können.
Die Forderung, dass zunächst Apokalypse definiert werden müsse, führt jedoch zu einer Apokalyptikdefinition, in der das Hervorbringen von apokalyptischer Literatur zwingend sein muss. Das schlösse eine ganze Reihe in der Religionswissenschaft unbestritten als apokalyptisch eingestufter Phänomene aus, insbesondere im Zusammenhang mit Cargo-Kulten. Daher setzt sich allmählich ein soziologisches Verständnis von Apokalyptik durch. Es wird nicht mehr danach gefragt, was alle bekannten Apokalypsen verbindet, sondern versucht, jede Apokalypse und jedes apokalyptische Phänomen auf seinen Hintergrund zu befragen (Sitz im Leben). Infolgedessen ergibt sich ein Verständnis von Apokalyptik als Krisenphänomen. Apokalyptik ist demnach sowohl Anzeichen als auch Ausdruck und möglicher Lösungsansatz soziologisch relevanter Identitätskrisen.
Einige Charakteristika apokalyptischer Phänomene
Individuelles Bedrohungsgefühl
Obwohl Apokalyptik ein soziologisches Phänomen ist, beginnt es im Individuum, das sich fundamental im innersten Kern seiner Identität bedroht fühlt. Dabei ist es zunächst egal, ob diese Bedrohung real oder eingebildet ist, relevant ist nur, dass sich das Individuum bedroht fühlt. Das Individuum sieht sich Forderungen gegenüber, deren Erfüllung es vor sich selbst nicht rechtfertigen kann. Zugleich ist es sich bewusst, dass die Nichterfüllung zu sozialer Selbstausgrenzung führt. Zum soziologischen Phänomen wird diese Situation dann, wenn sich verschiedene Individuen mit einem ähnlichen Bedrohungsgefühl zusammenfinden und sich eine Art Bewegung bildet.
Negatives Weltbild
Diese Bewegung ist vor allem durch ein negatives Weltbild geprägt. Die in konkreten Situationen erfahrene Bedrohung wird auf Prinzipien zurückgeführt, die in der Welt wirken, ohne dass sie der Apokalyptiker beeinflussen zu können meint. Aus dieser gemeinsamen Weltsicht können jedoch unterschiedlichste Konsequenzen gezogen werden, die von Weltflucht bis zu aktivistischer Weltveränderung, von Pazifismus bis zu Terrorismus führen können.
Heterogenität
Aufgrund der verschiedenen möglichen Konsequenzen und der inneren Differenzen, die sich aus der individuellen Wurzel der Apokalyptik ergeben, wirkt eine apokalyptische Bewegung von außen betrachtet sehr heterogen. Obgleich in der Innenperspektive zunächst das Gemeinsame im Vordergrund steht, sind sich die Apokalyptiker der Differenzen zwischen sich durchaus bewusst. Auch kann es zu Streit und gegenseitigen Anfeindungen kommen, doch bei einer Bedrohung von außen wird in der Regel zusammengehalten.
Viele apokalyptische Phänomene erreichen allerdings nicht die Größe und Lebensdauer, die nötig ist, um diese Heterogenität auszubilden. Im Kern ist sie jedoch immer vorgebildet.
Gegenwartsbezogenheit
Aus der die heterogenen Gruppen einer apokalyptischen Strömung verbindenden gemeinsamen negativen Weltsicht lässt sich die Gegenwartsbezogenheit apokalyptischen Denkens ableiten. Entgegen dem äußeren Eindruck, den vor allem die biblischen Apokalypsen erwecken, liegt der Gegenstand des Interesses eines Apokalyptikers nicht in einer fernen Zukunft, sondern in der Gegenwart. Es geht ihm um deren Deutung.
Kreative Neuschöpfung
Interessanterweise besteht aber das gegenwartsbezogene Interesse der Apokalyptiker nicht in einer bloßen Verteidigung der ihre Identität ursprünglich begründenden Tradition. Vielmehr stellt sich ihnen die Frage, was ihre Identität eigentlich im Kern ausmacht. Auf der Grundlage dieser Reflexion formen sie aus traditionellen und neuen Elementen eine widerständige Subkultur, die ihnen als Rückzugsraum die gegenwärtige Bedrohungssituation auszuhalten hilft.
„Welt“-Anschauung
Wie aus den bisherigen Charakteristika hervorgeht, muss Apokalyptik nicht notwendig ein religiöses Phänomen sein. Sie ist allerdings immer ein in besonderer Weise „welt“-anschauliches Phänomen. Der Apokalyptiker will nicht nur einen gesellschaftlichen oder systemischen Teilaspekt kritisieren, er erhebt den Anspruch, die Funktionsweise „der Welt“ schlechthin erkannt zu haben. Dabei muss allerdings zwischen der Sprache und dem Gemeinten unterschieden werden. Denn „die Welt“ steht meist für eine Realität, die als (selbst-) zerstörerisch gedeutet wird. Es sind vor allem die nicht hinterfragten Grundannahmen einer Gesellschaft, die von der Apokalyptik in Frage gestellt werden, nicht die physische Existenz der Welt.
Insofern kann man Apokalyptik als ein konkurrierendes Zeichensystem verstehen, das dem aktuell gültigen widerspricht und diesem einen baldigen Untergang prophezeit. Der Apokalyptiker kann als ein besonders sensibler Mensch verstanden werden, der Erschütterungen spürt, bevor sie für die breite Masse relevant werden.
Infolgedessen sind apokalyptische Phänomene häufig ethisch hoch aufgeladen. Sie beanspruchen, die richtige Welt, das eigentlich wichtige Gut entdeckt zu haben. Gerade dieser ethische Anspruch der Apokalyptik treibt die Apokalyptiker aus der Gesellschaft heraus, da sich im apokalyptischen Ethos nur wenige Handlungsforderungen finden, die in der Mehrheitsgesellschaft für sinnvoll erachtet werden - und umgekehrt.
Apokalyptik und Gesellschaft
Genauso wie der Apokalyptiker die bestehende Gesellschaft als bedrohlich erfährt, fühlt sich auch die Gesellschaft durch die Apokalyptik bedroht. Intuitiv wird die radikale und provokante Infragestellung der gültigen Zeichenwelt durch den Apokalyptiker verstanden. Hinzu kommt, dass Apokalyptiker scheinbar irrational bewusst, systematisch und dauerhaft gegen die gesellschaftlichen Anreize handeln. Dementsprechend sind weder das Verhalten der Apokalyptiker noch überhaupt das Auftreten von Apokalyptik plausibel erklärbar, geschweige denn vorhersehbar. Daher kann eine Gesellschaft auch nur schwer auf die Anliegen der Apokalyptiker eingehen.
Tatsächlich bleibt nur der „letzte Kampf“: Die Existenz der bestehenden Gesellschaft und der Apokalyptiker schließt sich gegenseitig aus. Meist ist es die etablierte Weltsicht, die sich durchsetzt, die Apokalyptiker hingegen reiben sich auf oder ziehen sich zurück. Mitunter können solche Gruppen dann noch längere Zeit überdauern, bevor sie untergehen. Es besteht aber auch die (selten realisierte) Möglichkeit, dass die Apokalyptiker im Laufe der Zeit selbst zur Mehrheitsgesellschaft werden.
Einige bekanntere Beispiele
Die frühjüdische Apokalyptik im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. hatte ihre mittelbare Ursache vermutlich in den Hellenisierungsbestrebungen von Antiochos III. und Antiochos IV. Epiphanes. Es gibt interessante Parallelen in anderen von der Hellenisierung betroffenen Gebieten wie Ägypten und Mesopotamien. Die unmittelbare Ursache dürfte allerdings das Vorgehen jüdischer Renegaten gewesen sein, die die überlieferten Gesetze zugunsten hellenistischer abschafften und im Jerusalemer Tempel dem Zeus opferten. Die Kapitel 7 bis 11 des Buchs Daniel gehören zur apokalyptischen Literatur des Judentums.
Der Anlass der Offenbarung des Johannes wird heute nicht mehr in einer äußeren Bedrohung (Christenverfolgung) gesehen, sondern in der Frage, inwieweit man sich als Christ auf die sozialen Regeln der heidnischen Umwelt einlassen dürfe. Während die Nikolaiten eine weitgehende Anpassung für möglich hielten, argumentiert der Autor der Apokalypse radikal dagegen.
Die Apokalyptik bei den (vorwiegend nordischen) Germanen (siehe Ragnarök, Völuspá) entstand zu einer Zeit, in der sich der germanische Glaube in einer Krise befand; erst gegen Ende findet sich christlicher Einfluss.
Auch die Friedens- und die Umweltbewegung zeigten im vergangenen Jahrhundert deutliche Anzeichen von Apokalyptik. Die Bedrohung bestand hier allerdings tatsächlich physisch, wenn auch zukünftig und bloß möglich, in der Atombombe bzw. der Umweltverschmutzung.
Schließlich kann auch der Islamismus als apokalyptisches Phänomen verstanden werden (besonders offensichtlich: Heterogenität; Verbindung traditioneller islamischer mit modernen Vorstellungen; Ziel, gegenüber „dem Westen“ die islamische Identität zu behaupten).
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
Die vier apokalyptischen Reiter. Holzschnitt von Albrecht Dürer
Begriff
Entstehung
Friedrich Lücke definierte den Begriff „Apokalyptik“ erstmals 1832 als Endzeitprophetie. Apokalyptik wird dabei über die Gemeinsamkeiten der jüdischen und christlichen Apokalypsen definiert. Charakteristisch seien neben einem bestimmten, periodisierenden Geschichtsverständnis eine visionäre Form und bilderreiche Sprache, Pseudonymität, ein gebildeter und kunstvoller Stil sowie das Auftreten eines angelus interpres, der die göttliche Offenbarung vermittelt und erklärt. Diese Definition ist bis heute als Apokalyptik ist Weltuntergangsstimmung im Hintergrund wirksam.
Begriffserweiterungen und Definitionsprobleme
Ausgehend von dieser popularisierten Definition wurde der Begriff auf Phänomene anderer Religionen übertragen, die als Ursprung der jüdisch-christlichen Tradition in Frage kamen (Persien, Mesopotamien, Ägypten) oder von ihr beeinflusst wurden. In einem weiteren Schritt fand schließlich auch die Übertragung auf Phänomene statt, die in keinem (direkten) Zusammenhang zum Christentum standen und z.T. sogar nicht einmal religiöser Natur waren. Mit der ursprünglichen Definition sind viele dieser Phänomene allerdings inkompatibel.
Auch erwies sich Lückes Definition in der Forschung als unzureichend. Insbesondere die Unterscheidung zwischen apokalyptischen und eschatologischen Phänomenen war kaum exakt möglich. Daneben war auch unklar, ob Apokalyptik nur als Gattungsbegriff für Apokalypsen diente, oder eine darüber hinausgehende Bedeutung hatte.
Aufgrund dieser Unklarheiten fand 1979 in Uppsala eine Tagung statt, die eine Klärung der Probleme hervorbringen sollte. Einig waren sich die Vertreter ganz unterschiedlicher Geisteswissenschaften allerdings nur darin, dass die bisherige Verwendung des Begriffs unzureichend war. Auf eine Definition konnten sie sich jedoch nicht einigen.
Heutige Verwendung
Im Wesentlichen besteht heute Einigkeit darüber, dass Apokalyptik nicht bloß eine Gattungsbezeichnung sein könne. Apokalypse selbst ist die Gattung, zu der die Apokalypsen zu zählen sind. Apokalyptik hingegen sei ein dahinterstehendes Phänomen. Des Weiteren seien Messianismus und Chiliasmus von der Apokalyptik zu unterscheiden.
Uneinigkeit besteht allerdings darin, ob einer Apokalyptikdefinition eine Definition von Apokalypse vorausgehen müsse. Dieser Frage bejahen unter anderem die Apokalypse-Gruppe des Genres-Project der Society of Biblical Literature um den Alttestamentler John J. Collins und der Neutestamentler Hartmut Stegemann. Beide legen allerdings grundverschiedene Vorstellungen von Apokalypsen zugrunde. Während Collins über die äußere Form definiert (erzählender Bericht von einer Offenbarung transzendenter Realität), versteht Stegemann Apokalypsen als Ordnungsliteratur und vergleicht sie mit heutiger Naturwissenschaft: Apokalypsen entstanden aufgrund soziologischer Umstände, die es erforderten, dass neues (naturwissenschaftliches) Wissen (insbesondere in der Astronomie) einen göttlichen Ursprung beanspruchen musste, um sich durchsetzen zu können.
Die Forderung, dass zunächst Apokalypse definiert werden müsse, führt jedoch zu einer Apokalyptikdefinition, in der das Hervorbringen von apokalyptischer Literatur zwingend sein muss. Das schlösse eine ganze Reihe in der Religionswissenschaft unbestritten als apokalyptisch eingestufter Phänomene aus, insbesondere im Zusammenhang mit Cargo-Kulten. Daher setzt sich allmählich ein soziologisches Verständnis von Apokalyptik durch. Es wird nicht mehr danach gefragt, was alle bekannten Apokalypsen verbindet, sondern versucht, jede Apokalypse und jedes apokalyptische Phänomen auf seinen Hintergrund zu befragen (Sitz im Leben). Infolgedessen ergibt sich ein Verständnis von Apokalyptik als Krisenphänomen. Apokalyptik ist demnach sowohl Anzeichen als auch Ausdruck und möglicher Lösungsansatz soziologisch relevanter Identitätskrisen.
Einige Charakteristika apokalyptischer Phänomene
Individuelles Bedrohungsgefühl
Obwohl Apokalyptik ein soziologisches Phänomen ist, beginnt es im Individuum, das sich fundamental im innersten Kern seiner Identität bedroht fühlt. Dabei ist es zunächst egal, ob diese Bedrohung real oder eingebildet ist, relevant ist nur, dass sich das Individuum bedroht fühlt. Das Individuum sieht sich Forderungen gegenüber, deren Erfüllung es vor sich selbst nicht rechtfertigen kann. Zugleich ist es sich bewusst, dass die Nichterfüllung zu sozialer Selbstausgrenzung führt. Zum soziologischen Phänomen wird diese Situation dann, wenn sich verschiedene Individuen mit einem ähnlichen Bedrohungsgefühl zusammenfinden und sich eine Art Bewegung bildet.
Negatives Weltbild
Diese Bewegung ist vor allem durch ein negatives Weltbild geprägt. Die in konkreten Situationen erfahrene Bedrohung wird auf Prinzipien zurückgeführt, die in der Welt wirken, ohne dass sie der Apokalyptiker beeinflussen zu können meint. Aus dieser gemeinsamen Weltsicht können jedoch unterschiedlichste Konsequenzen gezogen werden, die von Weltflucht bis zu aktivistischer Weltveränderung, von Pazifismus bis zu Terrorismus führen können.
Heterogenität
Aufgrund der verschiedenen möglichen Konsequenzen und der inneren Differenzen, die sich aus der individuellen Wurzel der Apokalyptik ergeben, wirkt eine apokalyptische Bewegung von außen betrachtet sehr heterogen. Obgleich in der Innenperspektive zunächst das Gemeinsame im Vordergrund steht, sind sich die Apokalyptiker der Differenzen zwischen sich durchaus bewusst. Auch kann es zu Streit und gegenseitigen Anfeindungen kommen, doch bei einer Bedrohung von außen wird in der Regel zusammengehalten.
Viele apokalyptische Phänomene erreichen allerdings nicht die Größe und Lebensdauer, die nötig ist, um diese Heterogenität auszubilden. Im Kern ist sie jedoch immer vorgebildet.
Gegenwartsbezogenheit
Aus der die heterogenen Gruppen einer apokalyptischen Strömung verbindenden gemeinsamen negativen Weltsicht lässt sich die Gegenwartsbezogenheit apokalyptischen Denkens ableiten. Entgegen dem äußeren Eindruck, den vor allem die biblischen Apokalypsen erwecken, liegt der Gegenstand des Interesses eines Apokalyptikers nicht in einer fernen Zukunft, sondern in der Gegenwart. Es geht ihm um deren Deutung.
Kreative Neuschöpfung
Interessanterweise besteht aber das gegenwartsbezogene Interesse der Apokalyptiker nicht in einer bloßen Verteidigung der ihre Identität ursprünglich begründenden Tradition. Vielmehr stellt sich ihnen die Frage, was ihre Identität eigentlich im Kern ausmacht. Auf der Grundlage dieser Reflexion formen sie aus traditionellen und neuen Elementen eine widerständige Subkultur, die ihnen als Rückzugsraum die gegenwärtige Bedrohungssituation auszuhalten hilft.
„Welt“-Anschauung
Wie aus den bisherigen Charakteristika hervorgeht, muss Apokalyptik nicht notwendig ein religiöses Phänomen sein. Sie ist allerdings immer ein in besonderer Weise „welt“-anschauliches Phänomen. Der Apokalyptiker will nicht nur einen gesellschaftlichen oder systemischen Teilaspekt kritisieren, er erhebt den Anspruch, die Funktionsweise „der Welt“ schlechthin erkannt zu haben. Dabei muss allerdings zwischen der Sprache und dem Gemeinten unterschieden werden. Denn „die Welt“ steht meist für eine Realität, die als (selbst-) zerstörerisch gedeutet wird. Es sind vor allem die nicht hinterfragten Grundannahmen einer Gesellschaft, die von der Apokalyptik in Frage gestellt werden, nicht die physische Existenz der Welt.
Insofern kann man Apokalyptik als ein konkurrierendes Zeichensystem verstehen, das dem aktuell gültigen widerspricht und diesem einen baldigen Untergang prophezeit. Der Apokalyptiker kann als ein besonders sensibler Mensch verstanden werden, der Erschütterungen spürt, bevor sie für die breite Masse relevant werden.
Infolgedessen sind apokalyptische Phänomene häufig ethisch hoch aufgeladen. Sie beanspruchen, die richtige Welt, das eigentlich wichtige Gut entdeckt zu haben. Gerade dieser ethische Anspruch der Apokalyptik treibt die Apokalyptiker aus der Gesellschaft heraus, da sich im apokalyptischen Ethos nur wenige Handlungsforderungen finden, die in der Mehrheitsgesellschaft für sinnvoll erachtet werden - und umgekehrt.
Apokalyptik und Gesellschaft
Genauso wie der Apokalyptiker die bestehende Gesellschaft als bedrohlich erfährt, fühlt sich auch die Gesellschaft durch die Apokalyptik bedroht. Intuitiv wird die radikale und provokante Infragestellung der gültigen Zeichenwelt durch den Apokalyptiker verstanden. Hinzu kommt, dass Apokalyptiker scheinbar irrational bewusst, systematisch und dauerhaft gegen die gesellschaftlichen Anreize handeln. Dementsprechend sind weder das Verhalten der Apokalyptiker noch überhaupt das Auftreten von Apokalyptik plausibel erklärbar, geschweige denn vorhersehbar. Daher kann eine Gesellschaft auch nur schwer auf die Anliegen der Apokalyptiker eingehen.
Tatsächlich bleibt nur der „letzte Kampf“: Die Existenz der bestehenden Gesellschaft und der Apokalyptiker schließt sich gegenseitig aus. Meist ist es die etablierte Weltsicht, die sich durchsetzt, die Apokalyptiker hingegen reiben sich auf oder ziehen sich zurück. Mitunter können solche Gruppen dann noch längere Zeit überdauern, bevor sie untergehen. Es besteht aber auch die (selten realisierte) Möglichkeit, dass die Apokalyptiker im Laufe der Zeit selbst zur Mehrheitsgesellschaft werden.
Einige bekanntere Beispiele
Die frühjüdische Apokalyptik im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. hatte ihre mittelbare Ursache vermutlich in den Hellenisierungsbestrebungen von Antiochos III. und Antiochos IV. Epiphanes. Es gibt interessante Parallelen in anderen von der Hellenisierung betroffenen Gebieten wie Ägypten und Mesopotamien. Die unmittelbare Ursache dürfte allerdings das Vorgehen jüdischer Renegaten gewesen sein, die die überlieferten Gesetze zugunsten hellenistischer abschafften und im Jerusalemer Tempel dem Zeus opferten. Die Kapitel 7 bis 11 des Buchs Daniel gehören zur apokalyptischen Literatur des Judentums.
Der Anlass der Offenbarung des Johannes wird heute nicht mehr in einer äußeren Bedrohung (Christenverfolgung) gesehen, sondern in der Frage, inwieweit man sich als Christ auf die sozialen Regeln der heidnischen Umwelt einlassen dürfe. Während die Nikolaiten eine weitgehende Anpassung für möglich hielten, argumentiert der Autor der Apokalypse radikal dagegen.
Die Apokalyptik bei den (vorwiegend nordischen) Germanen (siehe Ragnarök, Völuspá) entstand zu einer Zeit, in der sich der germanische Glaube in einer Krise befand; erst gegen Ende findet sich christlicher Einfluss.
Auch die Friedens- und die Umweltbewegung zeigten im vergangenen Jahrhundert deutliche Anzeichen von Apokalyptik. Die Bedrohung bestand hier allerdings tatsächlich physisch, wenn auch zukünftig und bloß möglich, in der Atombombe bzw. der Umweltverschmutzung.
Schließlich kann auch der Islamismus als apokalyptisches Phänomen verstanden werden (besonders offensichtlich: Heterogenität; Verbindung traditioneller islamischer mit modernen Vorstellungen; Ziel, gegenüber „dem Westen“ die islamische Identität zu behaupten).
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