Die Norddeutsche Wollkämmerei & Kammgarnspinnerei (kurz Nordwolle)
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Die Norddeutsche Wollkämmerei & Kammgarnspinnerei (kurz Nordwolle)
Die Norddeutsche Wollkämmerei & Kammgarnspinnerei (kurz Nordwolle) in Delmenhorst war ein bedeutendes Unternehmen für die Verarbeitung von Wolle und Kammgarn, das zwischen 1884 und 1981 bestand. Heute sind die erhaltenen Bauten auf dem Werksgelände eines der großen Industriedenkmale Europas und ein bedeutendes Zeugnis historistischer Fabrikarchitektur. Auf dem Gelände der stillgelegten Fabrik entstand ein Stadtteil mit moderner Wohnbebauung in Verbindung mit den unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden. Hier befindet sich auch das Nordwestdeutsche Museum für IndustrieKultur.
Ehemaliges Fabrikgebäude
1886 in Delmenhorst erbaute Lahusen-Villa
Ehemalige „Beamtenhäuser“
Firmengeschichte
In unmittelbarer Nähe zum wichtigen Handelsumschlagplatz Bremen gründete der Fabrikant Christian Lahusen am 5. März 1884 in Delmenhorst die Norddeutsche Wollkämmerei & Kammgarnspinnerei (NW&K, bald auch Nordwolle genannt). Der Standort erwies sich für die Verarbeitung von Wolle als ausgesprochen geeignet, denn das Gelände lag zwischen der Bahnlinie nach Bremen, wo die weltweit aufgekaufte Wolle per Schiff angeliefert wurde, und dem Fluss Delme, bot somit gute Transportmöglichkeiten und ausreichend Wasser zum Waschen der Wolle. Delmenhorst war darüber hinaus zollfrei, im Gegensatz zu Bremen, wo hohe Zölle auf Fertigwaren erhoben wurden.
Lahusen, der lange in Argentinien gelebt hatte und seit 1873 Inhaber einer wollverarbeitenden Firma in Böhmen war, brachte die Wolle großer argentinischer Schafzuchten nach Delmenhorst und verarbeitete den Rohstoff hier zu feinem Garn. Erfahrungen im Wollhandel hatte auch Johann Heinrich Volkmann, der bis 1893 Mitglied des Vorstandes und anschließend von 1893 bis zu seinem 70. Geburtstag 1912 Vorsitzender des Aufsichtsrates der Nordwolle war. Lahusen und Volkmann zeichnete ein intensives kirchliches und soziales Engagement aus, was auch in den später geschaffenen fabrikeigenen Wohlfahrtseinrichtungen zum Ausdruck kam.
1888 übernahm der Sohn des Firmengründers, Carl Lahusen, die Fabrik. Unter seiner Leitung stieg die Delmenhorster Fabrik innerhalb weniger Jahre zum Großbetrieb auf. Ab 1897 wurden mehrere Spinnereien, Färbereien und Seifenfabriken angegliedert und der Betrieb in Delmenhorst ständig erweitert. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs rapide an, 1887 waren es 900, um 1911 bereits 3000 Arbeiter, Beamte, Verwaltungsangestellte und Lehrlinge im Delmenhorster Werk. Innerhalb von zwei Generationen entwickelte sich das Familienunternehmen zu einem Konzern, der in den 1920er Jahren ein Viertel der Weltproduktion an Woll-Rohgarn herstellte und allein in Delmenhorst bis zu 4.500 Mitarbeiter beschäftigte. Als Anerkennung seiner Leistungen wurde Carl Lahusen 1912 von Großherzog Friedrich August II. von Oldenburg zum Geheimen Kommerzienrat ernannt.[1]
Arbeitskräfte aus Osteuropa
Der expansive Ausbau der Nordwolle und die schlechte Bezahlung führten dazu, dass sich schlecht deutsche Arbeiter finden ließen und Arbeitskräfte aus osteuropäischen Ländern für die Fabrikarbeit angeworben wurden. „Wollmäuse“ nannten die Delmenhorster die jungen Mädchen und Frauen aus Schlesien, Galizien und Böhmen, die für einen Tageslohn von 1,50 Mark mit ihren geschickten Händen die Doublier- und Zwirnmaschinen bedienten. Ihre männlichen Kollegen in der Spinnerei verdienten etwas mehr.
Durch die massenhafte Zuwanderung wuchs die Einwohnerzahl in Delmenhorst zwischen 1885 und 1905 auf das Dreifache an. Krasse Wohnungsnot und soziales Elend waren die Folge und als sprichwörtliche „Delmenhorster Verhältnisse“ berüchtigt. Die Arbeiter wurden außerdem ausgebeutet und waren strengen Hierarchien unterworfen.[2]
Konkurs
Als Carl Lahusen sen. 1921 starb, übernahm sein Sohn G. Carl Lahusen die Leitung des Unternehmens, dessen Sitz jetzt Bremen war. G. Carls Brüder traten wenige Jahre später in den Vorstand ein: 1923 Heinz und 1929 Friedel. Der Konzern war eine Aktiengesellschaft, wurde aber von den Brüdern Lahusen beherrscht, unter deren Leitung es zu einer unsoliden Expansion des Unternehmens mit einem enormen Kapitalbedarf kam. Missmanagement und die Weltwirtschaftskrise mit sinkendem Absatz trieben die Firma dann im Juli 1931 in den Konkurs. Dazu trugen auch zwei Repräsentationsbauten bei, die G. Carl Lahusen Ende der 1920er Jahre errichten ließ: Die Konzernzentrale in Bremen (das spätere Haus des Reichs und heutige Finanzamt) und das schlossartige pompöse Herrenhaus Hohehorst mit über 100 Zimmern in der Bremer Schweiz (heute ein Drogentherapiezentrum), das der Familie von 1929 bis 1931 als Sommersitz diente.[3]
Als Ursache für die Unternehmenskrise wurden die „Unregelmäßigkeiten bei leitenden Persönlichkeiten“ und falsche Bilanzen angesehen. Die Brüder Lahusen hatten – zunächst zur Verschleierung der Gewinne aus der Nordwolle – die niederländische Firma Ultra Mare gegründet. In der Krise wurden scheinbare Forderungen von der Nordwolle gegenüber der Ultra Mare dazu benutzt, um die Verluste der Nordwolle geringer erscheinen zu lassen. Die Reichsregierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning hatte zwar nach Möglichkeiten gesucht, die Insolvenz abzuwenden und die fast 20.000 Arbeitsplätze zu retten, sah sich aber – auch in Hinsicht auf mögliche Vergleichsfälle – nicht in der Lage, die bereits zu hoch entstandenen Verluste auszugleichen. Die Verluste wurden auf 180 bis 240 Millionen Reichsmark geschätzt, und so löste der Zusammenbruch der Nordwolle weit über Bremen hinaus eine Krise aus, in der Banken, auch der Bremer Staat, erheblichen finanziellen Schaden erlitten. Zurücktreten musste der mit Lahusens verschwägerte Bremer Senator Heinrich Bömers, der kurz darauf starb. G. Carl Lahusen und sein Bruder Heinz Lahusen wurden verhaftet und 1933 zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt.
Für die Hausbank der Nordwolle, die Darmstädter und Nationalbank (Danatbank), hatte der Bankrott die unmittelbare Folge, dass sie selbst zahlungsunfähig wurde. Die Banken in Deutschland wurden für einige Tage geschlossen. Die Danatbank verlor 48 Millionen Reichsmark und wurde unter Reichstreuhandschaft gestellt und im Folgejahr von der Dresdner Bank übernommen. Auch die Schröder-Bank wurde deshalb zahlungsunfähig und musste schließen.
Nachfolgegesellschaft und Fusion
Am 14. Juni 1932 beschloss eine Gläubigerversammlung die Gründung von zwei Nachfolgegesellschaften. Eine davon war die Norddeutsche Woll- und Kammgarnindustrie AG (NW&K) mit den Betrieben in Delmenhorst, Mühlhausen (Thüringen), Eisenach und Fulda.
1939 erklärten die Nationalsozialisten die Nordwolle zum Wehrmachtsbetrieb. Das Unternehmen produzierte von nun an für die Rüstungsindustrie und setzte während des Krieges Fremdarbeiter aus den von Deutschland besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit ein.
Nach Kriegsende konnte die Gesellschaft, deren Betriebe in der DDR verloren gegangen waren, wieder beschränkt produzieren und nannte sich seit 1950 Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei AG. Anfang der 1960er Jahre führte der anhaltend konjunkturelle Aufschwung zu einem Arbeitskräftemangel in Deutschland. Zu geringen Löhnen und schlechten Bedingungen wurden daraufhin Arbeiterinnen aus Spanien eingestellt.
1970 erfolgte eine Fusion mit der Düsseldorfer Kammgarnspinnerei zur Vereinigten Kammgarnspinnerei AG (VKS) mit Sitz in Bremen. Aufgrund einer Strukturkrise in der Textilbranche – die Produktion wurde immer stärker in Billiglohnländer verlagert – wurden Arbeitsplätze in Delmenhorst abgebaut und schließlich die Produktion 1981 endgültig eingestellt. Aus der Konkursmasse bildete die Firma Rehers (Nordhorn) einen kleinen Betrieb, der schon 1982 schließen musste.
Seifenfabrik Delespa
Das Kürzel Delespa steht seit 1925 für „Delmenhorster Seifen- und Parfüm-Werke“. Bereits mit Gründung der NW&K war vorgesehen, beim Waschen der Rohwolle anfallende Abfallprodukte weiter zu verarbeiten. In dem neben der Wollwäscherei befindlichen Kalihaus wurde das Wollwaschwasser eingedampft und chemisch behandelt, um die Fettsubstanzen und die in ihnen enthaltenen Kalium-Verbindungen zur Herstellung von Pottasche zu nutzen.
In der seit 1886 in unmittelbarer Nähe befindlichen Fettfabrik wurde aus dem Waschwasser zunächst das Wollfett gewonnen und ab 1896 in einer „chemischen Abteilung“ an der Hasberger Straße auch Rohwollfette, Wollfettsäuren, Neutralfette und Lanolin hergestellt.
1905 übernahm die NW&K die Bremer Feinseifen- und Parfümfabrik Hoepner & Sohn und baute ab 1907 die chemische Abteilung als Tochtergesellschaft des Konzerns weiter aus. Die Produktpalette erweiterte sich um Feinseifen, Kernseifen, Industrieseifen, Waschpulver, Parfümeriewaren und kosmetische Artikel wie Zahnpasta etc.[4]
Die „Delespa“-Werke existieren nicht mehr.
Baugeschichte
Werksarchitekten und Unternehmensleitung schufen für das expandierende Unternehmen einen sachlichen und repräsentativen Baustil, bei dem Lage, Größe und Konstruktion der einzelnen Gebäude durch ihre Funktion und Bedeutung festgelegt waren. Die räumlichen Grenzen des Geländes wurden durch die Bahnlinie im Süden und das Flüsschen Delme im Westen und Norden bestimmt. Der Verkehrsanschluss und die Wasserversorgung bestimmten so die Ausrichtung der Anlage von Süden nach Norden.[5] Jahrzehntelang war die riesige Industrieanlage mit rund 25 Hektar Gesamtfläche eine der größten ihrer Art in Europa.
Die Lahusen-Villa, in der Carl Lahusen und Frau Armine mit ihren acht Kindern bis zu seinem Tod 1898 wohnten, wurde 1886 zwischen einem großen Park und der Fabrik gebaut. Der heutige Wollepark – erbaut vom Landschaftsarchitekten Wilhelm Benque – war damals für Arbeiter und Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Nachdem die Nordwolle bereits in den 1880er Jahren begann auf die Wohnungsnot zu reagieren, wurde ab 1888 die erste Arbeitersiedlung Enklave erbaut.
Ab 1893 entstand die „Stadt in der Stadt“, es wurden die Sheddach-Produktionshallen und die Kraftzentrale, sowie die ersten sogenannten Beamtenhäuser für Betriebsleiter und Ingenieure und weitere Arbeiterunterkünfte errichtet.
Nach hohen Gewinnen, die der Konzern 1895 erzielte, begann der Aufbau eines großzügigen Systems von sogenannten Wohlfahrtseinrichtungen, zu denen u. a. eine Badeanstalt, ein Krankenhaus und ein Konsumverein mit Bäckerei gehörten.
Der Bau von Mädchenheimen begann 1884 mit einem Logierhaus für 40 Mädchen, 1898 folgte ein Mädchenwohnheim für 150 osteuropäische ledige junge Arbeiterinnen. Für jüngere ledige Beamte und kaufmännische Lehrlinge wurde 1900 ein Haus mit 20 Einzelzimmern, großem Garten und Tennisplatz gebaut. Es war ein Junggesellenheim, „Herrenpensionat“ genannt.
1902 wurde das neue Maschinenhaus vom zweiten Werksarchitekten Henrich Deetjen erbaut. In dem auch als Kathedrale der Arbeit bezeichneten Bauwerk war bis 1929 die 2500 PS starke Dampfmaschine untergebracht. Sie trieb über Schwungrad, Seilgang und Transmissionen die Maschinen im Produktionsbereich an.
In den 1920er Jahren entstanden im Osten und Norden des Areals größere Arbeitersiedlungen.
Um dem gestiegenen Produktionsumfang gerecht zu werden, wurde 1951/1952 neben dem Turbinenhaus ein neues Kesselhaus errichtet.
Der gesamte Komplex, diese weitgehend autarke „Stadt in der Stadt“, schuf soziale Sicherheit, aber auch Abhängigkeit vom Fabrikanten, der nun alle Lebensbereiche seiner Belegschaft kontrollieren konnte. Nicht genau erforscht ist bis heute, ob die sozialen Einrichtungen als Reaktion auf Missstände oder als Erfüllung einer „großen sozialen Aufgabe“ anzusehen sind.
Sehenswert sind auch die aus dem 19. Jahrhundert erhaltenen Industriegebäude auf dem gesamten Areal der Nordwolle, wie etwa die Arbeiterhäuser oder die Villa des Unternehmers.
Museum für Industriekultur
Auf dem Gelände der ehemaligen Fabrik, unter anderem in der früheren Lichtstation von 1884 und dem Turbinenhaus von 1902, befindet sich heute das Nordwestdeutsche Museum für IndustrieKultur. Es wurde 1996 eröffnet. Auf einer Ausstellungsfläche von rund 3.000 Quadratmetern wird die Geschichte der Nordwolle dargestellt. Exemplarisch gezeigt wird damit auch die Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert. In Zukunft soll die Textilgeschichte der Region in ihrer ganzen Breite gezeigt und mit modernen Textilkunstprojekten verknüpft werden.[6] So gibt es seit 2014 einen eigenen Ausstellungsteil zur Geschichte der Bekleidungsindustrie in Delmenhorst, die u. a. von dem Unternehmen delmod geprägt wurde.
Museumsleiter des Nordwestdeutschen Museums für IndustrieKultur:
Gerhard Kaldewei (1994-2011)[7]
Hans-Hermann Precht (2011-2014)[6]
Carsten Jöhnck (seit 2014)[8]
Das Museum verfügt über einen Wissenschaftlichen Beirat. Diesem Beirat gehören bzw. gehörten an die Historiker Nils Aschenbeck, Karl Marten Barfuß (Sprecher 1996-2006), Hans-Heinrich Bass (Sprecher 2011-2015)[6], Karen Ellwanger, Karin Gottschall, Bernd Haasler (Sprecher seit 2015)[9], Simone Haasler, Inge Marszolek, Michael Mende (Sprecher 2006-2008, † 2008), Dietrich Milles, Jochen Oltmer, Dietmar von Reeken (Stellvertretender Sprecher seit 2006), Klaus Saul, Eva Schöck-Quinteros und Welf Werner.[10]
Am Nordwestdeutschen Museum für IndustrieKultur beginnt seit 2010 die Route der Industriekultur im Nordwesten.
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
Ehemaliges Fabrikgebäude
1886 in Delmenhorst erbaute Lahusen-Villa
Ehemalige „Beamtenhäuser“
Firmengeschichte
In unmittelbarer Nähe zum wichtigen Handelsumschlagplatz Bremen gründete der Fabrikant Christian Lahusen am 5. März 1884 in Delmenhorst die Norddeutsche Wollkämmerei & Kammgarnspinnerei (NW&K, bald auch Nordwolle genannt). Der Standort erwies sich für die Verarbeitung von Wolle als ausgesprochen geeignet, denn das Gelände lag zwischen der Bahnlinie nach Bremen, wo die weltweit aufgekaufte Wolle per Schiff angeliefert wurde, und dem Fluss Delme, bot somit gute Transportmöglichkeiten und ausreichend Wasser zum Waschen der Wolle. Delmenhorst war darüber hinaus zollfrei, im Gegensatz zu Bremen, wo hohe Zölle auf Fertigwaren erhoben wurden.
Lahusen, der lange in Argentinien gelebt hatte und seit 1873 Inhaber einer wollverarbeitenden Firma in Böhmen war, brachte die Wolle großer argentinischer Schafzuchten nach Delmenhorst und verarbeitete den Rohstoff hier zu feinem Garn. Erfahrungen im Wollhandel hatte auch Johann Heinrich Volkmann, der bis 1893 Mitglied des Vorstandes und anschließend von 1893 bis zu seinem 70. Geburtstag 1912 Vorsitzender des Aufsichtsrates der Nordwolle war. Lahusen und Volkmann zeichnete ein intensives kirchliches und soziales Engagement aus, was auch in den später geschaffenen fabrikeigenen Wohlfahrtseinrichtungen zum Ausdruck kam.
1888 übernahm der Sohn des Firmengründers, Carl Lahusen, die Fabrik. Unter seiner Leitung stieg die Delmenhorster Fabrik innerhalb weniger Jahre zum Großbetrieb auf. Ab 1897 wurden mehrere Spinnereien, Färbereien und Seifenfabriken angegliedert und der Betrieb in Delmenhorst ständig erweitert. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs rapide an, 1887 waren es 900, um 1911 bereits 3000 Arbeiter, Beamte, Verwaltungsangestellte und Lehrlinge im Delmenhorster Werk. Innerhalb von zwei Generationen entwickelte sich das Familienunternehmen zu einem Konzern, der in den 1920er Jahren ein Viertel der Weltproduktion an Woll-Rohgarn herstellte und allein in Delmenhorst bis zu 4.500 Mitarbeiter beschäftigte. Als Anerkennung seiner Leistungen wurde Carl Lahusen 1912 von Großherzog Friedrich August II. von Oldenburg zum Geheimen Kommerzienrat ernannt.[1]
Arbeitskräfte aus Osteuropa
Der expansive Ausbau der Nordwolle und die schlechte Bezahlung führten dazu, dass sich schlecht deutsche Arbeiter finden ließen und Arbeitskräfte aus osteuropäischen Ländern für die Fabrikarbeit angeworben wurden. „Wollmäuse“ nannten die Delmenhorster die jungen Mädchen und Frauen aus Schlesien, Galizien und Böhmen, die für einen Tageslohn von 1,50 Mark mit ihren geschickten Händen die Doublier- und Zwirnmaschinen bedienten. Ihre männlichen Kollegen in der Spinnerei verdienten etwas mehr.
Durch die massenhafte Zuwanderung wuchs die Einwohnerzahl in Delmenhorst zwischen 1885 und 1905 auf das Dreifache an. Krasse Wohnungsnot und soziales Elend waren die Folge und als sprichwörtliche „Delmenhorster Verhältnisse“ berüchtigt. Die Arbeiter wurden außerdem ausgebeutet und waren strengen Hierarchien unterworfen.[2]
Konkurs
Als Carl Lahusen sen. 1921 starb, übernahm sein Sohn G. Carl Lahusen die Leitung des Unternehmens, dessen Sitz jetzt Bremen war. G. Carls Brüder traten wenige Jahre später in den Vorstand ein: 1923 Heinz und 1929 Friedel. Der Konzern war eine Aktiengesellschaft, wurde aber von den Brüdern Lahusen beherrscht, unter deren Leitung es zu einer unsoliden Expansion des Unternehmens mit einem enormen Kapitalbedarf kam. Missmanagement und die Weltwirtschaftskrise mit sinkendem Absatz trieben die Firma dann im Juli 1931 in den Konkurs. Dazu trugen auch zwei Repräsentationsbauten bei, die G. Carl Lahusen Ende der 1920er Jahre errichten ließ: Die Konzernzentrale in Bremen (das spätere Haus des Reichs und heutige Finanzamt) und das schlossartige pompöse Herrenhaus Hohehorst mit über 100 Zimmern in der Bremer Schweiz (heute ein Drogentherapiezentrum), das der Familie von 1929 bis 1931 als Sommersitz diente.[3]
Als Ursache für die Unternehmenskrise wurden die „Unregelmäßigkeiten bei leitenden Persönlichkeiten“ und falsche Bilanzen angesehen. Die Brüder Lahusen hatten – zunächst zur Verschleierung der Gewinne aus der Nordwolle – die niederländische Firma Ultra Mare gegründet. In der Krise wurden scheinbare Forderungen von der Nordwolle gegenüber der Ultra Mare dazu benutzt, um die Verluste der Nordwolle geringer erscheinen zu lassen. Die Reichsregierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning hatte zwar nach Möglichkeiten gesucht, die Insolvenz abzuwenden und die fast 20.000 Arbeitsplätze zu retten, sah sich aber – auch in Hinsicht auf mögliche Vergleichsfälle – nicht in der Lage, die bereits zu hoch entstandenen Verluste auszugleichen. Die Verluste wurden auf 180 bis 240 Millionen Reichsmark geschätzt, und so löste der Zusammenbruch der Nordwolle weit über Bremen hinaus eine Krise aus, in der Banken, auch der Bremer Staat, erheblichen finanziellen Schaden erlitten. Zurücktreten musste der mit Lahusens verschwägerte Bremer Senator Heinrich Bömers, der kurz darauf starb. G. Carl Lahusen und sein Bruder Heinz Lahusen wurden verhaftet und 1933 zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt.
Für die Hausbank der Nordwolle, die Darmstädter und Nationalbank (Danatbank), hatte der Bankrott die unmittelbare Folge, dass sie selbst zahlungsunfähig wurde. Die Banken in Deutschland wurden für einige Tage geschlossen. Die Danatbank verlor 48 Millionen Reichsmark und wurde unter Reichstreuhandschaft gestellt und im Folgejahr von der Dresdner Bank übernommen. Auch die Schröder-Bank wurde deshalb zahlungsunfähig und musste schließen.
Nachfolgegesellschaft und Fusion
Am 14. Juni 1932 beschloss eine Gläubigerversammlung die Gründung von zwei Nachfolgegesellschaften. Eine davon war die Norddeutsche Woll- und Kammgarnindustrie AG (NW&K) mit den Betrieben in Delmenhorst, Mühlhausen (Thüringen), Eisenach und Fulda.
1939 erklärten die Nationalsozialisten die Nordwolle zum Wehrmachtsbetrieb. Das Unternehmen produzierte von nun an für die Rüstungsindustrie und setzte während des Krieges Fremdarbeiter aus den von Deutschland besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit ein.
Nach Kriegsende konnte die Gesellschaft, deren Betriebe in der DDR verloren gegangen waren, wieder beschränkt produzieren und nannte sich seit 1950 Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei AG. Anfang der 1960er Jahre führte der anhaltend konjunkturelle Aufschwung zu einem Arbeitskräftemangel in Deutschland. Zu geringen Löhnen und schlechten Bedingungen wurden daraufhin Arbeiterinnen aus Spanien eingestellt.
1970 erfolgte eine Fusion mit der Düsseldorfer Kammgarnspinnerei zur Vereinigten Kammgarnspinnerei AG (VKS) mit Sitz in Bremen. Aufgrund einer Strukturkrise in der Textilbranche – die Produktion wurde immer stärker in Billiglohnländer verlagert – wurden Arbeitsplätze in Delmenhorst abgebaut und schließlich die Produktion 1981 endgültig eingestellt. Aus der Konkursmasse bildete die Firma Rehers (Nordhorn) einen kleinen Betrieb, der schon 1982 schließen musste.
Seifenfabrik Delespa
Das Kürzel Delespa steht seit 1925 für „Delmenhorster Seifen- und Parfüm-Werke“. Bereits mit Gründung der NW&K war vorgesehen, beim Waschen der Rohwolle anfallende Abfallprodukte weiter zu verarbeiten. In dem neben der Wollwäscherei befindlichen Kalihaus wurde das Wollwaschwasser eingedampft und chemisch behandelt, um die Fettsubstanzen und die in ihnen enthaltenen Kalium-Verbindungen zur Herstellung von Pottasche zu nutzen.
In der seit 1886 in unmittelbarer Nähe befindlichen Fettfabrik wurde aus dem Waschwasser zunächst das Wollfett gewonnen und ab 1896 in einer „chemischen Abteilung“ an der Hasberger Straße auch Rohwollfette, Wollfettsäuren, Neutralfette und Lanolin hergestellt.
1905 übernahm die NW&K die Bremer Feinseifen- und Parfümfabrik Hoepner & Sohn und baute ab 1907 die chemische Abteilung als Tochtergesellschaft des Konzerns weiter aus. Die Produktpalette erweiterte sich um Feinseifen, Kernseifen, Industrieseifen, Waschpulver, Parfümeriewaren und kosmetische Artikel wie Zahnpasta etc.[4]
Die „Delespa“-Werke existieren nicht mehr.
Baugeschichte
Werksarchitekten und Unternehmensleitung schufen für das expandierende Unternehmen einen sachlichen und repräsentativen Baustil, bei dem Lage, Größe und Konstruktion der einzelnen Gebäude durch ihre Funktion und Bedeutung festgelegt waren. Die räumlichen Grenzen des Geländes wurden durch die Bahnlinie im Süden und das Flüsschen Delme im Westen und Norden bestimmt. Der Verkehrsanschluss und die Wasserversorgung bestimmten so die Ausrichtung der Anlage von Süden nach Norden.[5] Jahrzehntelang war die riesige Industrieanlage mit rund 25 Hektar Gesamtfläche eine der größten ihrer Art in Europa.
Die Lahusen-Villa, in der Carl Lahusen und Frau Armine mit ihren acht Kindern bis zu seinem Tod 1898 wohnten, wurde 1886 zwischen einem großen Park und der Fabrik gebaut. Der heutige Wollepark – erbaut vom Landschaftsarchitekten Wilhelm Benque – war damals für Arbeiter und Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Nachdem die Nordwolle bereits in den 1880er Jahren begann auf die Wohnungsnot zu reagieren, wurde ab 1888 die erste Arbeitersiedlung Enklave erbaut.
Ab 1893 entstand die „Stadt in der Stadt“, es wurden die Sheddach-Produktionshallen und die Kraftzentrale, sowie die ersten sogenannten Beamtenhäuser für Betriebsleiter und Ingenieure und weitere Arbeiterunterkünfte errichtet.
Nach hohen Gewinnen, die der Konzern 1895 erzielte, begann der Aufbau eines großzügigen Systems von sogenannten Wohlfahrtseinrichtungen, zu denen u. a. eine Badeanstalt, ein Krankenhaus und ein Konsumverein mit Bäckerei gehörten.
Der Bau von Mädchenheimen begann 1884 mit einem Logierhaus für 40 Mädchen, 1898 folgte ein Mädchenwohnheim für 150 osteuropäische ledige junge Arbeiterinnen. Für jüngere ledige Beamte und kaufmännische Lehrlinge wurde 1900 ein Haus mit 20 Einzelzimmern, großem Garten und Tennisplatz gebaut. Es war ein Junggesellenheim, „Herrenpensionat“ genannt.
1902 wurde das neue Maschinenhaus vom zweiten Werksarchitekten Henrich Deetjen erbaut. In dem auch als Kathedrale der Arbeit bezeichneten Bauwerk war bis 1929 die 2500 PS starke Dampfmaschine untergebracht. Sie trieb über Schwungrad, Seilgang und Transmissionen die Maschinen im Produktionsbereich an.
In den 1920er Jahren entstanden im Osten und Norden des Areals größere Arbeitersiedlungen.
Um dem gestiegenen Produktionsumfang gerecht zu werden, wurde 1951/1952 neben dem Turbinenhaus ein neues Kesselhaus errichtet.
Der gesamte Komplex, diese weitgehend autarke „Stadt in der Stadt“, schuf soziale Sicherheit, aber auch Abhängigkeit vom Fabrikanten, der nun alle Lebensbereiche seiner Belegschaft kontrollieren konnte. Nicht genau erforscht ist bis heute, ob die sozialen Einrichtungen als Reaktion auf Missstände oder als Erfüllung einer „großen sozialen Aufgabe“ anzusehen sind.
Sehenswert sind auch die aus dem 19. Jahrhundert erhaltenen Industriegebäude auf dem gesamten Areal der Nordwolle, wie etwa die Arbeiterhäuser oder die Villa des Unternehmers.
Museum für Industriekultur
Auf dem Gelände der ehemaligen Fabrik, unter anderem in der früheren Lichtstation von 1884 und dem Turbinenhaus von 1902, befindet sich heute das Nordwestdeutsche Museum für IndustrieKultur. Es wurde 1996 eröffnet. Auf einer Ausstellungsfläche von rund 3.000 Quadratmetern wird die Geschichte der Nordwolle dargestellt. Exemplarisch gezeigt wird damit auch die Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert. In Zukunft soll die Textilgeschichte der Region in ihrer ganzen Breite gezeigt und mit modernen Textilkunstprojekten verknüpft werden.[6] So gibt es seit 2014 einen eigenen Ausstellungsteil zur Geschichte der Bekleidungsindustrie in Delmenhorst, die u. a. von dem Unternehmen delmod geprägt wurde.
Museumsleiter des Nordwestdeutschen Museums für IndustrieKultur:
Gerhard Kaldewei (1994-2011)[7]
Hans-Hermann Precht (2011-2014)[6]
Carsten Jöhnck (seit 2014)[8]
Das Museum verfügt über einen Wissenschaftlichen Beirat. Diesem Beirat gehören bzw. gehörten an die Historiker Nils Aschenbeck, Karl Marten Barfuß (Sprecher 1996-2006), Hans-Heinrich Bass (Sprecher 2011-2015)[6], Karen Ellwanger, Karin Gottschall, Bernd Haasler (Sprecher seit 2015)[9], Simone Haasler, Inge Marszolek, Michael Mende (Sprecher 2006-2008, † 2008), Dietrich Milles, Jochen Oltmer, Dietmar von Reeken (Stellvertretender Sprecher seit 2006), Klaus Saul, Eva Schöck-Quinteros und Welf Werner.[10]
Am Nordwestdeutschen Museum für IndustrieKultur beginnt seit 2010 die Route der Industriekultur im Nordwesten.
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