Die Operation Overcast
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Die Operation Overcast
Die Operation Overcast (engl. overcast = bewölkt, wolkenverhangen) war ein militärisches Geheimprojekt der USA im Jahr 1945, um nach dem Niedergang des Dritten Reiches am Ende des Zweiten Weltkriegs deutsche Wissenschaftler und Techniker und deren militärtechnisches Können und Wissen zu rekrutieren. Unter dem Codenamen Operation Paperclip (engl. paperclip = Büroklammer) fand darauf die Verlegung deutscher Kriegsgefangener in die USA statt, die meisten waren Wissenschaftler oder in der Industrie tätig. Später wurde der Begriff Project Paperclip für die Einbürgerung der Wissenschaftler und die Fortsetzung der Operation Overcast verwendet, und auch heute werden die Begriffe oft fälschlich vertauscht.
V2 auf einer Startrampe der White Sands Proving Grounds
Grundlage und Vorgeschichte
Grundlage der Operation war ein geheimes Dokument der Joint Chiefs of Staff, datiert vom 6. Juli 1945 – also kurz nach dem Ende des Krieges in Europa und noch vor der Niederlage Japans. Die Grundüberlegungen begannen allerdings schon Jahre vorher und sind damit zu erklären, dass in den USA die umfassende Demobilisierung und Unterbrechung der militärischen Forschung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von vielen Politikern und Militärs rückblickend als Fehler beurteilt wurde. Die wachsenden Gegensätze zur unmittelbar vorher noch verbündeten UdSSR unter Stalin waren vielen im Generalstab bewusst und wurden möglicherweise dort auch geschürt. Die Operation Overcast ist vor allem unter dem Gesichtspunkt zu sehen, durch das Aneignen deutscher Militärtechnik eigene Entwicklungsarbeit zu verkürzen und sich für ein zukünftiges Wettrüsten zu positionieren. Gleichzeitig sollten diese Wissenschaftler und Techniker dem Zugriff der UdSSR und deren Rüstungsindustrie entzogen werden. Die deutsche Militärtechnik war den Alliierten in vielen Bereichen um Jahre voraus, speziell bei Strahltriebwerken und deren Einsatz in Marschflugkörpern und Flugzeugen (V1, Heinkel He 178, Messerschmitt Me 262), sowie Raketen (V2).
Auswahlkriterien
Die Zahl der Wissenschaftler wurde auf 450 begrenzt, die zunächst für sechs Monate ohne Angehörige in die USA geholt werden sollten, um sie dort auf die verschiedenen Waffengattungen (Heer, Luftwaffe, Marine) zu verteilen. Im Kontingent sollten sich keine überführten Kriegsverbrecher befinden. Jeder, der als solcher erkannt würde, sollte nach Deutschland zurückgeschickt werden. Als im Jahr 1946 klar war, dass die Forscher länger in den USA bleiben würden, sich teilweise hier niederlassen und Ehefrauen nachziehen würden, folgten äußerst lockere Regelungen, um beispielsweise die NSDAP- und SS-Mitgliedschaft Wernher von Brauns zu rechtfertigen. Faktisch spielten NS-Belastungen bei der Auswahl keine Rolle, sorgfältig gesiebt wurde angesichts des begrenzten Kontingents bezüglich der fachlichen Qualifikation. Dies ist um so bemerkenswerter, weil gleichzeitig im Rahmen der Nürnberger Prozesse beispielsweise der zuständige Rüstungsminister Albert Speer zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde – nicht zuletzt wegen der im Rahmen der Rüstungsproduktion massenhaft eingesetzten Zwangsarbeiter. Auch die V2-Produktion in der Fertigungsanlage Dora-Mittelbau erfolgte unter unmenschlichen Bedingungen und Zwangsarbeit. Für die verantwortlichen Wissenschaftler und Techniker blieb das genauso ohne Konsequenzen wie die zivilen Opfer der V1- und V2-Angriffe beispielsweise auf London. Ganz offensichtlich überwog hier das militärtechnische Eigeninteresse der USA. Innerhalb der US-amerikanischen Öffentlichkeit war diese Vorgehensweise, die Immigration von Nazis, zunächst keineswegs unumstritten.
Die „Paperclip Boys”
Unter dem Decknamen Operation Paperclip wurde noch im Sommer 1945 die erste Gruppe von Wissenschaftlern in die USA gebracht. Der Name Paperclip (deutsch: ‚Büroklammer‘) leitete sich von den in den entsprechenden Akten eingesteckten Büroklammern ab, welche die Seiten mit relevanten Wissenschaftlern kennzeichneten, die in die USA zu überführen waren. Die Wissenschaftler wurden auch Paperclip Boys genannt. Ursprünglich sollten 100 einreisen, tatsächlich betrug dieses Kontingent 127 Personen. Kern der Wissenschaftlergruppe war die unter der Führung von Wernher von Braun stehende Gruppe von Raketenexperten der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, die während des Winters 1945/46 in Bad Kissingen im Hotel „Wittelsbacher Hof“ untergebracht war und zu Jahresbeginn 1946 in die USA verbracht wurde.[1]
Das Paperclip-Team in Fort Bliss, siebter von rechts in der ersten Reihe: Wernher von Braun
Spätestens 1946 war klar, dass es nicht bei der ursprünglich geplanten Aufenthaltsdauer von sechs Monaten bleiben würde, auch die ursprüngliche Höchstzahl von 350 Personen galt als nicht mehr ausreichend. Ein gemeinsames Komitee aus Heer, Marine und Außenministerium erarbeitete Grundsatzentwürfe, wie zusammen mit Großbritannien eine Ausweitung und Fortführung des Programms geregelt werden sollte. So wurde die Anzahl der Betroffenen auf insgesamt 1000 erhöht sowie der Nachzug der Familien bis hin zur späteren Einbürgerung geregelt. Diese Grundsätze wurden in einem geheimen Dokument mit dem Titel Einsatz der österreichischen und deutschen Wissenschaftler im Rahmen des Projekts Paperclip fixiert. Neben dem Begriff Operation Paperclip wird hier auch der Name Project Paperclip für dieses „Unterprojekt” eingeführt und auch für die Operation Overcast allgemein verwendet, die damit nicht mehr klar zu trennen sind. Am 13. September 1946 unterzeichnete US Präsident Harry S. Truman das Dokument. Die „Grundsatzerklärung” trat am 24. Oktober in Kraft. Erst jetzt wurde die Anwesenheit der deutschen Nazi-Wissenschaftler der amerikanischen Öffentlichkeit durch die Massenmedien bekanntgegeben, die darauf überwiegend mit Unverständnis und Ablehnung reagierte.
Mit den Technikern wurde auch die komplette nach dem Krieg übriggebliebene Technik verschifft, sofern sie in die Hände der darauf angesetzten amerikanischen Einheiten gefallen war. Dies waren im Wesentlichen noch nicht gestartete V2-Raketen und teilweise fertiggestellte Raketenmotoren aus Peenemünde und aus der KZ-Fertigungsanlage Dora-Mittelbau, die sonst der UdSSR zugefallen wären.
In Fort Bliss (Texas) und White Sands (New Mexico) sollten sie an der Weiterentwicklung der amerikanischen Raketentechnik forschen. Zwischen April 1946 und Oktober 1951 wurden 66 V2-Raketen testweise in White Sands gestartet. Einige waren mit Pflanzen, manche sogar mit Versuchstieren bestückt, die alle bei den Landeaufschlägen getötet wurden. Ab Ende 1951 wurden die Starts nach Cape Canaveral (Florida) verlegt. Daraus erwuchsen lange danach die bemannten Raumfahrtprogramme, die zur Mondlandung führten.
Rekrutierte Wissenschaftler und Ingenieure
Im Rahmen der Operation Paperclip
Wernher von Braun und Mitarbeiter im Herbst 1959 in Huntsville (Alabama). Von links: Ernst Stuhlinger, Friedrich von Saurma, Fritz Müller, Hermarn Weidner, Erich W. Neubert (teilweise verdeckt), Willy Mrazek, Karl Heimburg, Arthur Rudolph, Otto Hoberg, von Braun, Oswald Lange, General Bruce Medaris, Helmut Hölzer, Hans Maus, Ernst Geissler, Hans Hüter und George Constan.
Wernher von Braun mit Mitarbeitern 1961. Von links nach rechts: Werner Kuers, Walter Häussermann, Willy Mrazek, von Braun; Dieter Grau, Oswald Lange und Erich W. Neubert.
Wilhelm Angele
Rudi Beichel
Kurt Blome
Wernher von Braun
Theodor Buchhold
Werner Dahm
Konrad Dannenberg
Kurt Debus
Friedrich Duerr
Ernst Eckert
Krafft Arnold Ehricke
Ernst Geissler
Sidney Gottlieb[2]
Dieter Grau
Fritz Haber
Heinz Haber
Karl Heimburg
Otto Hirschler
Helmut Hoelzer
Oscar Holderer
Hans Hüter
Wilhelm Jungert
Heinz-Hermann Koelle
Hermann H. Kurzweg
Alexander Lippisch
Hans Maus
Heinz Millinger[3]
Fritz Müller
Willy Mrazek
Erich W. Neubert
Hans Joachim Pabst von Ohain
Theodor A. Poppel
Eberhard Rees
Gerhard Reisig
Georg Rickhey
Werner Rosinski
Arthur Rudolph
Harry Ruppe
Karl Eduard Schüssler
August Schultze
Walter Schwidetzky
Ernst Stuhlinger
Bernhard Tessmann
Georg von Tiesenhausen
Adolf Thiel
Woldemar Voigt
Carl Wagner
Hans Ziegler
Eine Abschrift aus dem US-Nationalarchiv, veröffentlicht als Harry Brunser Report, enthält insgesamt ca. 500 Namen.[4]
Nach der Operation Paperclip
Walter Dornberger
Anselm Franz
Walter Häussermann
Hermann Oberth
Hubertus Strughold
Guenter Wendt
Andere Staaten
Lager Friedland, Heimkehr der Wissenschaftler aus der Zwangsarbeit in Sochumi, Februar 1958
Mit ihrem Programm zur Nutzbarmachung der „Gehirne” standen die USA keineswegs allein. Alle Siegermächte hatten ähnliche Programme mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So bemühte sich Großbritannien um deutsche Marineexperten, hatte aber – wie auch andere Siegermächte – damit Probleme, da ein Großteil der Bevölkerung aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Großbritannien gegen die Einwanderung deutscher Wissenschaftler war. Nachdem ein Admiral ein deutsches U-Boot-Team an die Südwestküste geschmuggelt hatte (deutsche Wissenschaftler waren nicht erwünscht), erreichte die mediale Auseinandersetzung der beiden Interessensgruppen ihren Höhepunkt. Die Folge war, dass die Deutschen doppelt besteuert wurden (in Großbritannien und Deutschland).
Der Chefkonstrukteur des sowjetischen Raketenprogramms Sergei Pawlowitsch Koroljow wurde 1945 nach Berlin beordert. Er bekam den Auftrag, Mitarbeiter Wernher von Brauns ausfindig zu machen, die sich nicht in die USA abgesetzt hatten. Mit etwa 150 deutschen Wissenschaftlern und ihren Familien kehrte er 1946 in die Sowjetunion zurück. Neben anderen arbeiteten in dieser Zeit der Assistent Wernher von Brauns, Helmut Gröttrup, und der Aerodynamiker Werner Albring unter der Leitung Koroljows auf der Insel Gorodomlia im Seligersee, Gebiet Twer, im nordwestlichen Teil von Zentralrussland. Zwischen Juni 1951 (in die damalige DDR) und dem 28. Juni 1953 (in die Bundesrepublik Deutschland) konnten sie wieder nach Deutschland zurückkehren. Eine kleine Gruppe von Elektronik-Experten unterzeichnete Fünfjahresverträge und erlebte in Moskau den Start des russischen Weltraumprogramms mit dem Erstflug des Sputnik.
Bei Kriegsende fiel die Ju 287 V1 bei Junkers in Dessau in sowjetische Hände. Unter sowjetischer Aufsicht wurden die V2 und V3 fertiggestellt und im September Personal und Flugzeuge nach Podberesje bei Moskau verlegt. Die Entwicklung des Baumusters wurde unter der Leitung von Brunolf Baade fortgesetzt. Unter Baade wurde in der UdSSR auch der zweimotorige Bomber Modell 150 entwickelt. Die Sowjetunion zwang bei der Aktion Ossoawiachim etwa 2000 Wissenschaftler aus der Ostzone für Technik und Wissenschaft in die Sowjetunion.
Der große Einfluss deutscher Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker auf die Militärtechnik der beiden Supermächte dokumentiert sich vor allem in der Flugzeug- und Raketenproduktion im ersten Nachkriegsjahrzehnt. So standen sich zum Beispiel im Koreakrieg ab 1950 mit der amerikanischen F-86 Sabre und der sowjetischen MiG-15 zwei Maschinen gegenüber, die das Tragflächenprofil der Me 262 verwendeten.
Beschlagnahme aller deutschen Patente und Industriegeheimnisse
Alle deutschen Patente und Industriegeheimnisse wurden 1945 bis 1947 von den USA beschlagnahmt, was nach Professor John Gimbel in Science Technology and Reparations: Exploitation and Plunder in Postwar Germany eine durchgreifende Beraubung des deutschen technischen Wissens darstellte. Nach John Gimbel betrug der Wert fast 10 Milliarden (1945) US-Dollar.[5] Zum Vergleich: Die ganze Marshall-Plan-Hilfe in die europäischen Länder betrug von 1948 bis 1952 13 Milliarden US-Dollar, von denen Deutschland 1,4 Milliarden US-Dollar erhielt (ursprünglich als Darlehen).
Beschlagnahmt wurden Elektronenmikroskope, Kosmetik, Textilmaschinen, Tonbandgeräte, Insektizide, eine einzigartige Schokolade-Verpackungsmaschine, ein Miststreuer, Schlittschuhschleifer, Papierserviette-Maschinen und andere Technologien.[6]
Auch die Briten bemächtigten sich Geschäftsgeheimnissen durch Entführung deutscher Wissenschaftler und Techniker sowie durch Internierung deutscher Geschäftsleute, wenn diese Informationen nicht preisgaben.[7] Konrad Adenauer schrieb, dass der Schaden an der deutschen Wirtschaft sehr hoch war und sich kaum beziffern ließ.[8]
Nach Konrad Adenauer haben die Patente der I.G. Farben laut einem amerikanischen Sachverständigen der US-Chemieindustrie einen Vorsprung von wenigstens zehn Jahren gegeben.[9]
Verhaftung und Internierung
Projekt Safehaven war ein US-amerikanisches Programm, um die deutsche Forschung zu stoppen und die deutschen Forscher von der Emigration in Länder wie Spanien oder Argentinien abzuhalten. Die US-Streitkräfte konzentrierten sich auf Sachsen und Thüringen, wohin viele deutsche Forschungseinrichtungen aus Berlin evakuiert worden waren. Bis 1947 wurden mit dieser Operation schätzungsweise 1800 Techniker und Wissenschaftler zusammen mit 3700 Familienmitgliedern interniert.[10]
Siehe auch
Geschichte der Deutschen in den Vereinigten Staaten
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
V2 auf einer Startrampe der White Sands Proving Grounds
Grundlage und Vorgeschichte
Grundlage der Operation war ein geheimes Dokument der Joint Chiefs of Staff, datiert vom 6. Juli 1945 – also kurz nach dem Ende des Krieges in Europa und noch vor der Niederlage Japans. Die Grundüberlegungen begannen allerdings schon Jahre vorher und sind damit zu erklären, dass in den USA die umfassende Demobilisierung und Unterbrechung der militärischen Forschung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von vielen Politikern und Militärs rückblickend als Fehler beurteilt wurde. Die wachsenden Gegensätze zur unmittelbar vorher noch verbündeten UdSSR unter Stalin waren vielen im Generalstab bewusst und wurden möglicherweise dort auch geschürt. Die Operation Overcast ist vor allem unter dem Gesichtspunkt zu sehen, durch das Aneignen deutscher Militärtechnik eigene Entwicklungsarbeit zu verkürzen und sich für ein zukünftiges Wettrüsten zu positionieren. Gleichzeitig sollten diese Wissenschaftler und Techniker dem Zugriff der UdSSR und deren Rüstungsindustrie entzogen werden. Die deutsche Militärtechnik war den Alliierten in vielen Bereichen um Jahre voraus, speziell bei Strahltriebwerken und deren Einsatz in Marschflugkörpern und Flugzeugen (V1, Heinkel He 178, Messerschmitt Me 262), sowie Raketen (V2).
Auswahlkriterien
Die Zahl der Wissenschaftler wurde auf 450 begrenzt, die zunächst für sechs Monate ohne Angehörige in die USA geholt werden sollten, um sie dort auf die verschiedenen Waffengattungen (Heer, Luftwaffe, Marine) zu verteilen. Im Kontingent sollten sich keine überführten Kriegsverbrecher befinden. Jeder, der als solcher erkannt würde, sollte nach Deutschland zurückgeschickt werden. Als im Jahr 1946 klar war, dass die Forscher länger in den USA bleiben würden, sich teilweise hier niederlassen und Ehefrauen nachziehen würden, folgten äußerst lockere Regelungen, um beispielsweise die NSDAP- und SS-Mitgliedschaft Wernher von Brauns zu rechtfertigen. Faktisch spielten NS-Belastungen bei der Auswahl keine Rolle, sorgfältig gesiebt wurde angesichts des begrenzten Kontingents bezüglich der fachlichen Qualifikation. Dies ist um so bemerkenswerter, weil gleichzeitig im Rahmen der Nürnberger Prozesse beispielsweise der zuständige Rüstungsminister Albert Speer zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde – nicht zuletzt wegen der im Rahmen der Rüstungsproduktion massenhaft eingesetzten Zwangsarbeiter. Auch die V2-Produktion in der Fertigungsanlage Dora-Mittelbau erfolgte unter unmenschlichen Bedingungen und Zwangsarbeit. Für die verantwortlichen Wissenschaftler und Techniker blieb das genauso ohne Konsequenzen wie die zivilen Opfer der V1- und V2-Angriffe beispielsweise auf London. Ganz offensichtlich überwog hier das militärtechnische Eigeninteresse der USA. Innerhalb der US-amerikanischen Öffentlichkeit war diese Vorgehensweise, die Immigration von Nazis, zunächst keineswegs unumstritten.
Die „Paperclip Boys”
Unter dem Decknamen Operation Paperclip wurde noch im Sommer 1945 die erste Gruppe von Wissenschaftlern in die USA gebracht. Der Name Paperclip (deutsch: ‚Büroklammer‘) leitete sich von den in den entsprechenden Akten eingesteckten Büroklammern ab, welche die Seiten mit relevanten Wissenschaftlern kennzeichneten, die in die USA zu überführen waren. Die Wissenschaftler wurden auch Paperclip Boys genannt. Ursprünglich sollten 100 einreisen, tatsächlich betrug dieses Kontingent 127 Personen. Kern der Wissenschaftlergruppe war die unter der Führung von Wernher von Braun stehende Gruppe von Raketenexperten der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, die während des Winters 1945/46 in Bad Kissingen im Hotel „Wittelsbacher Hof“ untergebracht war und zu Jahresbeginn 1946 in die USA verbracht wurde.[1]
Das Paperclip-Team in Fort Bliss, siebter von rechts in der ersten Reihe: Wernher von Braun
Spätestens 1946 war klar, dass es nicht bei der ursprünglich geplanten Aufenthaltsdauer von sechs Monaten bleiben würde, auch die ursprüngliche Höchstzahl von 350 Personen galt als nicht mehr ausreichend. Ein gemeinsames Komitee aus Heer, Marine und Außenministerium erarbeitete Grundsatzentwürfe, wie zusammen mit Großbritannien eine Ausweitung und Fortführung des Programms geregelt werden sollte. So wurde die Anzahl der Betroffenen auf insgesamt 1000 erhöht sowie der Nachzug der Familien bis hin zur späteren Einbürgerung geregelt. Diese Grundsätze wurden in einem geheimen Dokument mit dem Titel Einsatz der österreichischen und deutschen Wissenschaftler im Rahmen des Projekts Paperclip fixiert. Neben dem Begriff Operation Paperclip wird hier auch der Name Project Paperclip für dieses „Unterprojekt” eingeführt und auch für die Operation Overcast allgemein verwendet, die damit nicht mehr klar zu trennen sind. Am 13. September 1946 unterzeichnete US Präsident Harry S. Truman das Dokument. Die „Grundsatzerklärung” trat am 24. Oktober in Kraft. Erst jetzt wurde die Anwesenheit der deutschen Nazi-Wissenschaftler der amerikanischen Öffentlichkeit durch die Massenmedien bekanntgegeben, die darauf überwiegend mit Unverständnis und Ablehnung reagierte.
Mit den Technikern wurde auch die komplette nach dem Krieg übriggebliebene Technik verschifft, sofern sie in die Hände der darauf angesetzten amerikanischen Einheiten gefallen war. Dies waren im Wesentlichen noch nicht gestartete V2-Raketen und teilweise fertiggestellte Raketenmotoren aus Peenemünde und aus der KZ-Fertigungsanlage Dora-Mittelbau, die sonst der UdSSR zugefallen wären.
In Fort Bliss (Texas) und White Sands (New Mexico) sollten sie an der Weiterentwicklung der amerikanischen Raketentechnik forschen. Zwischen April 1946 und Oktober 1951 wurden 66 V2-Raketen testweise in White Sands gestartet. Einige waren mit Pflanzen, manche sogar mit Versuchstieren bestückt, die alle bei den Landeaufschlägen getötet wurden. Ab Ende 1951 wurden die Starts nach Cape Canaveral (Florida) verlegt. Daraus erwuchsen lange danach die bemannten Raumfahrtprogramme, die zur Mondlandung führten.
Rekrutierte Wissenschaftler und Ingenieure
Im Rahmen der Operation Paperclip
Wernher von Braun und Mitarbeiter im Herbst 1959 in Huntsville (Alabama). Von links: Ernst Stuhlinger, Friedrich von Saurma, Fritz Müller, Hermarn Weidner, Erich W. Neubert (teilweise verdeckt), Willy Mrazek, Karl Heimburg, Arthur Rudolph, Otto Hoberg, von Braun, Oswald Lange, General Bruce Medaris, Helmut Hölzer, Hans Maus, Ernst Geissler, Hans Hüter und George Constan.
Wernher von Braun mit Mitarbeitern 1961. Von links nach rechts: Werner Kuers, Walter Häussermann, Willy Mrazek, von Braun; Dieter Grau, Oswald Lange und Erich W. Neubert.
Wilhelm Angele
Rudi Beichel
Kurt Blome
Wernher von Braun
Theodor Buchhold
Werner Dahm
Konrad Dannenberg
Kurt Debus
Friedrich Duerr
Ernst Eckert
Krafft Arnold Ehricke
Ernst Geissler
Sidney Gottlieb[2]
Dieter Grau
Fritz Haber
Heinz Haber
Karl Heimburg
Otto Hirschler
Helmut Hoelzer
Oscar Holderer
Hans Hüter
Wilhelm Jungert
Heinz-Hermann Koelle
Hermann H. Kurzweg
Alexander Lippisch
Hans Maus
Heinz Millinger[3]
Fritz Müller
Willy Mrazek
Erich W. Neubert
Hans Joachim Pabst von Ohain
Theodor A. Poppel
Eberhard Rees
Gerhard Reisig
Georg Rickhey
Werner Rosinski
Arthur Rudolph
Harry Ruppe
Karl Eduard Schüssler
August Schultze
Walter Schwidetzky
Ernst Stuhlinger
Bernhard Tessmann
Georg von Tiesenhausen
Adolf Thiel
Woldemar Voigt
Carl Wagner
Hans Ziegler
Eine Abschrift aus dem US-Nationalarchiv, veröffentlicht als Harry Brunser Report, enthält insgesamt ca. 500 Namen.[4]
Nach der Operation Paperclip
Walter Dornberger
Anselm Franz
Walter Häussermann
Hermann Oberth
Hubertus Strughold
Guenter Wendt
Andere Staaten
Lager Friedland, Heimkehr der Wissenschaftler aus der Zwangsarbeit in Sochumi, Februar 1958
Mit ihrem Programm zur Nutzbarmachung der „Gehirne” standen die USA keineswegs allein. Alle Siegermächte hatten ähnliche Programme mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So bemühte sich Großbritannien um deutsche Marineexperten, hatte aber – wie auch andere Siegermächte – damit Probleme, da ein Großteil der Bevölkerung aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Großbritannien gegen die Einwanderung deutscher Wissenschaftler war. Nachdem ein Admiral ein deutsches U-Boot-Team an die Südwestküste geschmuggelt hatte (deutsche Wissenschaftler waren nicht erwünscht), erreichte die mediale Auseinandersetzung der beiden Interessensgruppen ihren Höhepunkt. Die Folge war, dass die Deutschen doppelt besteuert wurden (in Großbritannien und Deutschland).
Der Chefkonstrukteur des sowjetischen Raketenprogramms Sergei Pawlowitsch Koroljow wurde 1945 nach Berlin beordert. Er bekam den Auftrag, Mitarbeiter Wernher von Brauns ausfindig zu machen, die sich nicht in die USA abgesetzt hatten. Mit etwa 150 deutschen Wissenschaftlern und ihren Familien kehrte er 1946 in die Sowjetunion zurück. Neben anderen arbeiteten in dieser Zeit der Assistent Wernher von Brauns, Helmut Gröttrup, und der Aerodynamiker Werner Albring unter der Leitung Koroljows auf der Insel Gorodomlia im Seligersee, Gebiet Twer, im nordwestlichen Teil von Zentralrussland. Zwischen Juni 1951 (in die damalige DDR) und dem 28. Juni 1953 (in die Bundesrepublik Deutschland) konnten sie wieder nach Deutschland zurückkehren. Eine kleine Gruppe von Elektronik-Experten unterzeichnete Fünfjahresverträge und erlebte in Moskau den Start des russischen Weltraumprogramms mit dem Erstflug des Sputnik.
Bei Kriegsende fiel die Ju 287 V1 bei Junkers in Dessau in sowjetische Hände. Unter sowjetischer Aufsicht wurden die V2 und V3 fertiggestellt und im September Personal und Flugzeuge nach Podberesje bei Moskau verlegt. Die Entwicklung des Baumusters wurde unter der Leitung von Brunolf Baade fortgesetzt. Unter Baade wurde in der UdSSR auch der zweimotorige Bomber Modell 150 entwickelt. Die Sowjetunion zwang bei der Aktion Ossoawiachim etwa 2000 Wissenschaftler aus der Ostzone für Technik und Wissenschaft in die Sowjetunion.
Der große Einfluss deutscher Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker auf die Militärtechnik der beiden Supermächte dokumentiert sich vor allem in der Flugzeug- und Raketenproduktion im ersten Nachkriegsjahrzehnt. So standen sich zum Beispiel im Koreakrieg ab 1950 mit der amerikanischen F-86 Sabre und der sowjetischen MiG-15 zwei Maschinen gegenüber, die das Tragflächenprofil der Me 262 verwendeten.
Beschlagnahme aller deutschen Patente und Industriegeheimnisse
Alle deutschen Patente und Industriegeheimnisse wurden 1945 bis 1947 von den USA beschlagnahmt, was nach Professor John Gimbel in Science Technology and Reparations: Exploitation and Plunder in Postwar Germany eine durchgreifende Beraubung des deutschen technischen Wissens darstellte. Nach John Gimbel betrug der Wert fast 10 Milliarden (1945) US-Dollar.[5] Zum Vergleich: Die ganze Marshall-Plan-Hilfe in die europäischen Länder betrug von 1948 bis 1952 13 Milliarden US-Dollar, von denen Deutschland 1,4 Milliarden US-Dollar erhielt (ursprünglich als Darlehen).
Beschlagnahmt wurden Elektronenmikroskope, Kosmetik, Textilmaschinen, Tonbandgeräte, Insektizide, eine einzigartige Schokolade-Verpackungsmaschine, ein Miststreuer, Schlittschuhschleifer, Papierserviette-Maschinen und andere Technologien.[6]
Auch die Briten bemächtigten sich Geschäftsgeheimnissen durch Entführung deutscher Wissenschaftler und Techniker sowie durch Internierung deutscher Geschäftsleute, wenn diese Informationen nicht preisgaben.[7] Konrad Adenauer schrieb, dass der Schaden an der deutschen Wirtschaft sehr hoch war und sich kaum beziffern ließ.[8]
Nach Konrad Adenauer haben die Patente der I.G. Farben laut einem amerikanischen Sachverständigen der US-Chemieindustrie einen Vorsprung von wenigstens zehn Jahren gegeben.[9]
Verhaftung und Internierung
Projekt Safehaven war ein US-amerikanisches Programm, um die deutsche Forschung zu stoppen und die deutschen Forscher von der Emigration in Länder wie Spanien oder Argentinien abzuhalten. Die US-Streitkräfte konzentrierten sich auf Sachsen und Thüringen, wohin viele deutsche Forschungseinrichtungen aus Berlin evakuiert worden waren. Bis 1947 wurden mit dieser Operation schätzungsweise 1800 Techniker und Wissenschaftler zusammen mit 3700 Familienmitgliedern interniert.[10]
Siehe auch
Geschichte der Deutschen in den Vereinigten Staaten
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