Der Kemalismus
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Der Kemalismus
Der Kemalismus (türkisch Kemalizm; seltener Atatürkismus, türkisch Atatürkçülük) ist die Gründungsideologie der 1923 ausgerufenen Republik Türkei.
Mustafa Kemal Atatürk
Diese ist nach Mustafa Kemal Atatürk benannt und wird durch die so genannten sechs Pfeile (Altı Ok) symbolisiert, die für Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität, Laizismus, d. h. Trennung von Staat und Religion, Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen, Nationalismus als Wendung gegen ein multiethnisches und religiöses Staatskonzept osmanischen Zuschnitts und Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung stehen.
Der Kemalismus ist seit 1931 auch zentraler Bestandteil des Parteiprogramms der von Atatürk 1923 gegründeten und heutigen größten Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP).
Definition des Begriffs
In der europäischen Presse wurde der Begriff Kemalismus bereits 1919 als Sammelbezeichnung für den damals als „islamistisch“ bezeichneten Widerstand unter Mustafa Kemal verwendet.[1] In der Türkei taucht der Begriff erst Anfang der 1930er auf und verweist auf die Reformbewegung durch die Republikanische Volkspartei. Von da an gibt es mehrere Versuche, der Politik Mustafa Kemals eine ideologische Basis zu geben, z.B. in den Zeitschriften "Kadro" (eher marxistisch) oder im Munis Tekinalps 1936 erschienenen Werk "Kemalizm" (eher bürgerlich-nationalistisch).
Atatürk selbst sprach kaum vom "Kemalismus", sondern von "Leitlinien der Partei", die erst im Parteiprogramm im Jahr 1935 als Prinzipien des Kemalismus vorgestellt wurden. Im gleichen Parteiprogramm ist die Rede, dass die Gültigkeit dieser Prinzipien nicht nur auf einige wenige Jahre beschränkt ist, sondern auch für die Zukunft formuliert sind. Gegen die dogmatische Auslegung verwehrte er sich allerdings[2], dagegen sprach auch sein eher pragmatisches Verhalten, welches laut Daniel Lerner und Richard Robinson nicht am Festhalten an einer "a priori religiösen Doktrin oder politischen Ideologie" entsprach.[3]
Die genaue Definition und ob und wie der Kemalismus als Ideologie zu deuten ist, ist Gegenstand von Debatten.
Kemalismus in der Verfassung
Die sechs Prinzipien erhielten am 5. Februar 1937– 14 Jahre nach Staatsgründung – Verfassungsrang. Artikel 2 Satz 1 des Verfassungsgesetzes der Republik Türkei von 1924 lautete von da an:
„Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär.“[4]
Sowohl nach dem Militärputsch von 1960 als auch nach dem von 1980 veranlassten die Türkischen Streitkräfte eine grundlegende Überarbeitung der Verfassung, deren Text jeweils per Volksentscheid gebilligt wurde. Dabei ging der direkte Bezug auf die sechs Prinzipien verloren.
In der Verfassung von 1961 wurden zunächst Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit stärker betont: Der Artikel 2 Satz 1 lautete nun:
„Die türkische Republik ist eine auf den Menschenrechten und den in der Präambel festgesetzten Grundprinzipien begründeter nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“[5]
In der im November 1982 in Kraft getretenen Verfassung der Republik Türkei schließlich wurde der Friede der Gemeinschaft und die nationale Solidarität, aber auch explizit Atatürks Nationalismus in den Satz aufgenommen – Artikel 2 Satz 1 lautet seitdem:
„Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“[6]
Konstant blieben über die Jahre hinweg nur die Prinzipien des Laizismus und Nationalismus und der Republik im Wortlaut in der Verfassung verankert.
Sechs Pfeile des Kemalismus
Die sechs Pfeile im Logo der Republikanischen Volkspartei (Türkei)
Republikanismus
→ Hauptartikel: Politisches System der Türkei
Republikanismus (cumhuriyetçilik) bedeutete, dass die junge Türkei eine republikanische Staatsform und keine andere (vgl. Art. 1 der Verfassung) erhielt.
Die Monarchie in Form des osmanischen Sultanats, das Kalifat und das Millet-System wurden abgeschafft.
Populismus
Mit Populismus (halkçılık) ist bei Atatürk nicht der Populismus im heute gebräuchlichen Sinne gemeint, sondern das Konzept einer klassenübergreifenden gesellschaftlichen Kooperation. Dies äußerte sich insbesondere in der Adaption des schweizerischen Zivilgesetzbuches. Beeinflusst wurde dieser Populismus durch die solidarischen Konzepte von Emile Durkheim und Léon Bourgeois. Der Populismus sollte dazu beitragen, das Volk für den Aufbau eines modernen Staates zu mobilisieren. Seinen Ausdruck fand er unter anderem in der rechtlichen Gleichstellung der Frau. Später diente der Grundsatz zur Rechtfertigung des Ein-Parteien-Systems: Das Volk wird durch die Partei repräsentiert.
Laizismus
Laizismus (laiklik) bedeutete in der Türkei die Nichteinmischung religiöser Würdenträger in staatliche Belange. Erreicht wurde dies primär durch die Kontrolle des religiösen Apparats und das Verbot religiöser Parteien. Zwar bestimmte die erste Verfassung der Türkei, dass die Religion des türkischen Staates der Islam sei, aber dieser Passus wurde bereits vier Jahre später gestrichen. Laizismus wurde als eines der Staatsprinzipien im Jahr 1937 in die damals gültige Verfassung aufgenommen. Das türkische Verfassungsgericht definierte Laizismus u. a. als Befreiung der Religion von der Politisierung.[7]
Folgende Reformen zeigen den Versuch, die Gesellschaft zu säkularisieren: Abschaffung des Kalifats, Vereinheitlichung des Schulwesens, Verbot der Polygamie, Aufhebung des islamischen Rechts, Kopftuchverbot, Einführung westlicher Kleidung (Hutgesetz), des lateinischen Alphabets und des gregorianischen Kalenders und das Verbot religiöser Parteien. Für religiöse Fragen wurde eine staatliche Religionsbehörde geschaffen: das Präsidium für religiöse Angelegenheiten. Das sogenannte Diyanet bezahlt die Imame, unterhält die Moscheen und ist bis heute dem türkischen Ministerpräsidialamt angegliedert.
Siehe auch: Religionen in der Türkei
Revolutionismus
Revolutionismus (ursprünglich inkilâpçılık, heute devrimcilik) bezeichnet den Grundsatz, die Umgestaltung der türkischen Gesellschaft auch nach den großen Reformen der 1920er Jahre voranzutreiben. Ferner zielt der Terminus auf die umfassende Modernisierung des Staates. Die traditionellen osmanischen Institutionen wurden durch zeitgemäße Einrichtungen ersetzt.
Nationalismus
Atatürks Ziel war es, aus dem Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat zu formen. Der Nationalismus (milliyetçilik) diente diesem Zweck. Grundlage des Nationalgefühls war eine gemeinsame Sprache und die gemeinsame Geschichte der Bewohner des Landes. Die Sprach- und Schriftreform sowie die „kemalistisch konstruierte“ türkische Geschichtsthese dienten der Stärkung des türkischen Nationalismus. Der identitätsstiftende Islam wurde durch eine weltliche, nationalistische Ideologie ersetzt. Nicht-ethnische Türken wurden jedoch geleugnet und unterdrückt. Minderheitenrechten gewährte die Türkei nur partiell.[8] Jeder Bürger, der sich als Türke bezeichnete, wurde als solcher akzeptiert. Der Nationalismus Mustafa Kemals basierte nicht auf dem Begriff der Rasse. Atatürks Nationalismus erteilte dem Turanismus ebenso eine Absage wie dem Panislamismus. Seinen Ausdruck findet der Nationalismus in dem Ausspruch Atatürks: „Froh sei derjenige, der sagt: Ich bin ein Türke.“
Siehe auch: Minderheiten in der Türkei
Etatismus
Der Etatismus (devletçilik) meint das Eingreifen des türkischen Staates in die Wirtschaft. Grund waren die fehlende Infrastruktur und mangelnde Industrialisierung. Der Staat wurde überall dort unternehmerisch tätig, wo privatwirtschaftliches Engagement fehlte. Zwischen 1933 und 1938 wurde der Fünfjahres-Industrieplan realisiert.
Einfluss auf die türkische Gesellschaft
Eliten als Hüter des Kemalismus
Der Kemalismus bestimmt nach wie vor das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei. Ein Großteil der Bevölkerung führt einen westlichen Lebensstil und viele, sich eher als religiös bezeichnende Menschen, halten nach wie vor an den Grundsätzen des Kemalismus fest. Während die intellektuelle Elite sich stets mit Parteien identifiziert hat, die das kemalistische Gedankengut als Maxime verstehen, finden islamische Parteien vor allem bei der religiöseren Bevölkerung Gehör und werden von ihnen als Wahlalternative gewählt. Die Entwicklung der letzten Jahre jedoch ist dahingehend, dass es eine neue islamische Elite gibt, die zunehmend auch intellektuelle Kreise anspricht.
Eine Kontrollfunktion der türkischen Streitkräfte mit dem Ziel, die Verfassung und ihre kemalistischen Prinzipien zu schützen, war lange Zeit gesetzlich verankert. Als Hüter der kemalistischen Ideen sah sich die türkische Armee zuletzt 1980 zu einem Putsch legitimiert, als kommunistische und rechtsextreme Terroristen die Sicherheit des Staates und der Bevölkerung bedrohten und das Militär, wie zuvor 1960 und 1971, in die Politik eingriff. Dem Putsch folgten Monate der Repression politischer Gegner, im Zuge deren nicht nur mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wurde, sondern willkürliche Inhaftierung, Verschleppung und Folter als Maßnahmen systematisch eingesetzt wurden.
Mit den Gesetzesänderungen im Zuge des EU-Prozesses hat das Militär als nicht demokratisch legitimierte Instanz Teile seiner Macht eingebüßt. In den Schulen steht der Kemalismus vom ersten Schuljahr an auf dem Lehrplan.
Parteien und der Kemalismus
Heute betrachten sich vor allem die Cumhuriyet Halk Partisi, die Partei der Demokratischen Linken (DSP) und die Türkischen Streitkräfte als Vertreter des Kemalismus.
Sowohl rechte als auch linke Parteien beanspruchen die kemalistischen Ideen für sich und instrumentalisieren diese für ihre Politik. Nur die islamisch orientierten Parteien stehen distanziert zum Kemalismus oder lehnen diesen ganz ab. Gründe hierfür sind der propagierte Laizismus und damit die Trennung von Staat und Religion, aber auch die restriktive Behandlung des Islams durch die Kemalisten in den Anfangsjahren der türkischen Republik.
Auch nicht als Parteien organisierte Vereinigungen wie die Vereine zur Förderung des Gedankenguts Atatürks und die Türkische Jugendvereinigung berufen sich auf das Gedankengut Atatürks.
Siehe auch
Türkischer Befreiungskrieg
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
Mustafa Kemal Atatürk
Diese ist nach Mustafa Kemal Atatürk benannt und wird durch die so genannten sechs Pfeile (Altı Ok) symbolisiert, die für Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität, Laizismus, d. h. Trennung von Staat und Religion, Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen, Nationalismus als Wendung gegen ein multiethnisches und religiöses Staatskonzept osmanischen Zuschnitts und Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung stehen.
Der Kemalismus ist seit 1931 auch zentraler Bestandteil des Parteiprogramms der von Atatürk 1923 gegründeten und heutigen größten Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP).
Definition des Begriffs
In der europäischen Presse wurde der Begriff Kemalismus bereits 1919 als Sammelbezeichnung für den damals als „islamistisch“ bezeichneten Widerstand unter Mustafa Kemal verwendet.[1] In der Türkei taucht der Begriff erst Anfang der 1930er auf und verweist auf die Reformbewegung durch die Republikanische Volkspartei. Von da an gibt es mehrere Versuche, der Politik Mustafa Kemals eine ideologische Basis zu geben, z.B. in den Zeitschriften "Kadro" (eher marxistisch) oder im Munis Tekinalps 1936 erschienenen Werk "Kemalizm" (eher bürgerlich-nationalistisch).
Atatürk selbst sprach kaum vom "Kemalismus", sondern von "Leitlinien der Partei", die erst im Parteiprogramm im Jahr 1935 als Prinzipien des Kemalismus vorgestellt wurden. Im gleichen Parteiprogramm ist die Rede, dass die Gültigkeit dieser Prinzipien nicht nur auf einige wenige Jahre beschränkt ist, sondern auch für die Zukunft formuliert sind. Gegen die dogmatische Auslegung verwehrte er sich allerdings[2], dagegen sprach auch sein eher pragmatisches Verhalten, welches laut Daniel Lerner und Richard Robinson nicht am Festhalten an einer "a priori religiösen Doktrin oder politischen Ideologie" entsprach.[3]
Die genaue Definition und ob und wie der Kemalismus als Ideologie zu deuten ist, ist Gegenstand von Debatten.
Kemalismus in der Verfassung
Die sechs Prinzipien erhielten am 5. Februar 1937– 14 Jahre nach Staatsgründung – Verfassungsrang. Artikel 2 Satz 1 des Verfassungsgesetzes der Republik Türkei von 1924 lautete von da an:
„Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär.“[4]
Sowohl nach dem Militärputsch von 1960 als auch nach dem von 1980 veranlassten die Türkischen Streitkräfte eine grundlegende Überarbeitung der Verfassung, deren Text jeweils per Volksentscheid gebilligt wurde. Dabei ging der direkte Bezug auf die sechs Prinzipien verloren.
In der Verfassung von 1961 wurden zunächst Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit stärker betont: Der Artikel 2 Satz 1 lautete nun:
„Die türkische Republik ist eine auf den Menschenrechten und den in der Präambel festgesetzten Grundprinzipien begründeter nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“[5]
In der im November 1982 in Kraft getretenen Verfassung der Republik Türkei schließlich wurde der Friede der Gemeinschaft und die nationale Solidarität, aber auch explizit Atatürks Nationalismus in den Satz aufgenommen – Artikel 2 Satz 1 lautet seitdem:
„Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“[6]
Konstant blieben über die Jahre hinweg nur die Prinzipien des Laizismus und Nationalismus und der Republik im Wortlaut in der Verfassung verankert.
Sechs Pfeile des Kemalismus
Die sechs Pfeile im Logo der Republikanischen Volkspartei (Türkei)
Republikanismus
→ Hauptartikel: Politisches System der Türkei
Republikanismus (cumhuriyetçilik) bedeutete, dass die junge Türkei eine republikanische Staatsform und keine andere (vgl. Art. 1 der Verfassung) erhielt.
Die Monarchie in Form des osmanischen Sultanats, das Kalifat und das Millet-System wurden abgeschafft.
Populismus
Mit Populismus (halkçılık) ist bei Atatürk nicht der Populismus im heute gebräuchlichen Sinne gemeint, sondern das Konzept einer klassenübergreifenden gesellschaftlichen Kooperation. Dies äußerte sich insbesondere in der Adaption des schweizerischen Zivilgesetzbuches. Beeinflusst wurde dieser Populismus durch die solidarischen Konzepte von Emile Durkheim und Léon Bourgeois. Der Populismus sollte dazu beitragen, das Volk für den Aufbau eines modernen Staates zu mobilisieren. Seinen Ausdruck fand er unter anderem in der rechtlichen Gleichstellung der Frau. Später diente der Grundsatz zur Rechtfertigung des Ein-Parteien-Systems: Das Volk wird durch die Partei repräsentiert.
Laizismus
Laizismus (laiklik) bedeutete in der Türkei die Nichteinmischung religiöser Würdenträger in staatliche Belange. Erreicht wurde dies primär durch die Kontrolle des religiösen Apparats und das Verbot religiöser Parteien. Zwar bestimmte die erste Verfassung der Türkei, dass die Religion des türkischen Staates der Islam sei, aber dieser Passus wurde bereits vier Jahre später gestrichen. Laizismus wurde als eines der Staatsprinzipien im Jahr 1937 in die damals gültige Verfassung aufgenommen. Das türkische Verfassungsgericht definierte Laizismus u. a. als Befreiung der Religion von der Politisierung.[7]
Folgende Reformen zeigen den Versuch, die Gesellschaft zu säkularisieren: Abschaffung des Kalifats, Vereinheitlichung des Schulwesens, Verbot der Polygamie, Aufhebung des islamischen Rechts, Kopftuchverbot, Einführung westlicher Kleidung (Hutgesetz), des lateinischen Alphabets und des gregorianischen Kalenders und das Verbot religiöser Parteien. Für religiöse Fragen wurde eine staatliche Religionsbehörde geschaffen: das Präsidium für religiöse Angelegenheiten. Das sogenannte Diyanet bezahlt die Imame, unterhält die Moscheen und ist bis heute dem türkischen Ministerpräsidialamt angegliedert.
Siehe auch: Religionen in der Türkei
Revolutionismus
Revolutionismus (ursprünglich inkilâpçılık, heute devrimcilik) bezeichnet den Grundsatz, die Umgestaltung der türkischen Gesellschaft auch nach den großen Reformen der 1920er Jahre voranzutreiben. Ferner zielt der Terminus auf die umfassende Modernisierung des Staates. Die traditionellen osmanischen Institutionen wurden durch zeitgemäße Einrichtungen ersetzt.
Nationalismus
Atatürks Ziel war es, aus dem Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat zu formen. Der Nationalismus (milliyetçilik) diente diesem Zweck. Grundlage des Nationalgefühls war eine gemeinsame Sprache und die gemeinsame Geschichte der Bewohner des Landes. Die Sprach- und Schriftreform sowie die „kemalistisch konstruierte“ türkische Geschichtsthese dienten der Stärkung des türkischen Nationalismus. Der identitätsstiftende Islam wurde durch eine weltliche, nationalistische Ideologie ersetzt. Nicht-ethnische Türken wurden jedoch geleugnet und unterdrückt. Minderheitenrechten gewährte die Türkei nur partiell.[8] Jeder Bürger, der sich als Türke bezeichnete, wurde als solcher akzeptiert. Der Nationalismus Mustafa Kemals basierte nicht auf dem Begriff der Rasse. Atatürks Nationalismus erteilte dem Turanismus ebenso eine Absage wie dem Panislamismus. Seinen Ausdruck findet der Nationalismus in dem Ausspruch Atatürks: „Froh sei derjenige, der sagt: Ich bin ein Türke.“
Siehe auch: Minderheiten in der Türkei
Etatismus
Der Etatismus (devletçilik) meint das Eingreifen des türkischen Staates in die Wirtschaft. Grund waren die fehlende Infrastruktur und mangelnde Industrialisierung. Der Staat wurde überall dort unternehmerisch tätig, wo privatwirtschaftliches Engagement fehlte. Zwischen 1933 und 1938 wurde der Fünfjahres-Industrieplan realisiert.
Einfluss auf die türkische Gesellschaft
Eliten als Hüter des Kemalismus
Der Kemalismus bestimmt nach wie vor das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei. Ein Großteil der Bevölkerung führt einen westlichen Lebensstil und viele, sich eher als religiös bezeichnende Menschen, halten nach wie vor an den Grundsätzen des Kemalismus fest. Während die intellektuelle Elite sich stets mit Parteien identifiziert hat, die das kemalistische Gedankengut als Maxime verstehen, finden islamische Parteien vor allem bei der religiöseren Bevölkerung Gehör und werden von ihnen als Wahlalternative gewählt. Die Entwicklung der letzten Jahre jedoch ist dahingehend, dass es eine neue islamische Elite gibt, die zunehmend auch intellektuelle Kreise anspricht.
Eine Kontrollfunktion der türkischen Streitkräfte mit dem Ziel, die Verfassung und ihre kemalistischen Prinzipien zu schützen, war lange Zeit gesetzlich verankert. Als Hüter der kemalistischen Ideen sah sich die türkische Armee zuletzt 1980 zu einem Putsch legitimiert, als kommunistische und rechtsextreme Terroristen die Sicherheit des Staates und der Bevölkerung bedrohten und das Militär, wie zuvor 1960 und 1971, in die Politik eingriff. Dem Putsch folgten Monate der Repression politischer Gegner, im Zuge deren nicht nur mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wurde, sondern willkürliche Inhaftierung, Verschleppung und Folter als Maßnahmen systematisch eingesetzt wurden.
Mit den Gesetzesänderungen im Zuge des EU-Prozesses hat das Militär als nicht demokratisch legitimierte Instanz Teile seiner Macht eingebüßt. In den Schulen steht der Kemalismus vom ersten Schuljahr an auf dem Lehrplan.
Parteien und der Kemalismus
Heute betrachten sich vor allem die Cumhuriyet Halk Partisi, die Partei der Demokratischen Linken (DSP) und die Türkischen Streitkräfte als Vertreter des Kemalismus.
Sowohl rechte als auch linke Parteien beanspruchen die kemalistischen Ideen für sich und instrumentalisieren diese für ihre Politik. Nur die islamisch orientierten Parteien stehen distanziert zum Kemalismus oder lehnen diesen ganz ab. Gründe hierfür sind der propagierte Laizismus und damit die Trennung von Staat und Religion, aber auch die restriktive Behandlung des Islams durch die Kemalisten in den Anfangsjahren der türkischen Republik.
Auch nicht als Parteien organisierte Vereinigungen wie die Vereine zur Förderung des Gedankenguts Atatürks und die Türkische Jugendvereinigung berufen sich auf das Gedankengut Atatürks.
Siehe auch
Türkischer Befreiungskrieg
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
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