Die Nation
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Die Nation
Nation (um 1400 ins Deutsche übernommen, von lat. natio, „Volk, Sippschaft, Menschenschlag, Gattung, Klasse, Schar“)[1] bezeichnet größere Gruppen oder Kollektive von Menschen, denen gemeinsame Merkmale wie Sprache, Tradition, Sitten, Gebräuche oder Abstammung zugeschrieben werden. Diese Begriffsdefinition ist jedoch empirisch inadäquat, da keine Nation diese Definition vollumfänglich erfüllt.[2] Daneben wird die Bezeichnung auch allgemeinsprachlich als Synonym für Staatswesen und Volk gebraucht, von denen sie in der wissenschaftlichen Darstellung getrennt werden.[3] Die zugeschriebenen kulturellen Eigenschaften können dabei als der Nationalcharakter eines Volkes oder einer Volksgemeinschaft dargestellt werden. „Nation“ erweist sich so als ein Konstrukt, das von seiner diskursiven Reproduktion und materiellen Effizienz lebt. Indem Menschen sich handelnd auf das Konzept der Nation beziehen, wird es für die Beteiligten und Betroffenen wirksam.[4]
In der vorbürgerlichen Zeit wurden an den ersten Universitäten die Studenten aus bestimmten europäischen Regionen als jeweilige Nation (nationes) kategorisiert (z. B. bayrische Nation). Die staatsbezogene Nationsentwicklung, bei der die (eigentlich verschiedenen) Begriffe Staat und Nation miteinander verbunden bzw. gleichgesetzt wurden, geschah zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters und der Moderne. Vor diesem Hintergrund ist zwischen Staat, Nation (Kulturnation) und Nationalstaat zu unterscheiden. Nur in einem Nationalstaat fällt das Staatsgebilde mit dem Begriff der Nation zusammen.
Der Nationsbegriff hat Bedeutung für den juristischen und den politischen Bereich. So kann sich eine Nation auf das überstaatlich organisierte Völkerrecht berufen, das häufig als „internationales Recht“ bezeichnet wird, eine ethnische Gruppe dagegen nur auf Minderheitenschutz.
Näheres
Für politische Kollektive, die sich wie in der Französischen Revolution (1789–1799) in der Nationalversammlung zu einer Nation als Staat mit einer Verfassung konstituieren, bestehen Begriffe wie Willensnation oder Staatsnation. Staat und Nation werden hier synonym verwendet. Statt völkischer Konstruktionen dienen hier vor allem Ideale wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ als Grundlage einer Nation, die das Gemeinwesen willentlich zusammenhält. In diesem Zusammenhang wird auch postuliert, dass partikulare (besondere) territoriale Bindungen abgestreift werden müssten, um die Schaffung einer gemeinsamen Nation zu ermöglichen. Die Zugehörigkeit zur Nation wird hier an ein Emanzipationsversprechen und einen Zwang zur Assimilation geknüpft.
Als Willensnation mit einem Staatsvolk gilt insbesondere die Schweiz, die aus deutsch-, französisch-, italienisch- und rätoromanischsprachigen Bevölkerungsgruppen besteht. Eine ethnische Nation oder Kulturnation ist dagegen häufig, aber nicht zwingend ein überstaatlicher Kulturraum wie beispielsweise der arabische Sprach- und Kulturraum; Menschen, die eine solche ethnische Nation bilden, werden als Volk bezeichnet. Zudem kann dies auch ethnische Minderheiten innerhalb von Staaten oder Nationalstaaten betreffen, beispielsweise die Tschuktschen innerhalb Russlands.
Die Form der Konstruktion von Nation zeigt sich an einer Reihe von Widersprüchen, wenn beispielsweise die Sprache als nationales Merkmal gedeutet wird. So bilden z. B. die Staaten Brasilien und Portugal trotz der gemeinsamen portugiesischen Amtssprache keine gemeinsame Nation, weil sie zum einen in unterschiedlichen Kulturräumen leben und zum anderen ihre Bevölkerungen unterschiedliche Staatsbildungsprozesse erlebt haben.
Begriffsgeschichte
Natio bezeichnete im Lateinischen ursprünglich eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Herkunft, daran anschließend eine durch gemeinsame Sprache, Sitten und Bräuche kenntliche Gemeinschaft, und zwar im römischen Sprachgebrauch zunächst als Fremdbezeichnung für fremdartiges eingewandertes Volk, das mit der einheimischen Bevölkerung lebt. Mit dem Ius gentium wurde für den Umgang mit Menschen, die nicht das römische Bürgerrecht besaßen, eine eigene Rechtsgrundlage geschaffen.
Anknüpfend an den römischen Sprachgebrauch, sind im christlichen Latein die ‚nationes‘ oder ‚gentes‘ in erster Linie die nichtjüdischen Heidenvölker, als Anhänger heidnischer Kulte oder als bekehrungswillige Heiden, die mit den jüdischen Christen das Evangelium annehmen und mit ihnen die Gemeinschaft der Kirche bilden.
An der mittelalterlichen Universität mussten sich die Studenten nach ihren Herkunftsländern in Nationes mit eigenen Statuten und Prokuratoren einschreiben. Diese Universitätsnationen, meist gab es davon vier, wurden nach den wichtigsten Herkunftsgebieten der örtlichen Studenten benannt. An der Pariser Universität wurden die nationes gallicorum, normannorum, picardorum und anglicorum unterschieden, wobei zur „gallischen“ auch die Italiener, Spanier, Griechen und Orientalen zählten und zur „englischen“ auch die Deutschen und ihre nördlichen und östlichen Nachbarvölker. An der Prager Universität gehörten zur „polnischen“ Nation neben den Studenten aus dem Königreich Polen auch die Studenten der östlichen Reichsteile, zur „böhmischen“ auch Ungarn und Südslawen, zur „bayerischen“ außer den Bayern die Schwaben, Franken, Hessen, Rheinländer und Westfalen sowie zur „sächsischen“ die Norddeutschen, Dänen, Schweden und Finnen.
Als Selbstbezeichnung für ein Volk mit politisch-staatlicher Einheit und einer durch gemeinsame Vorfahren und Geschichte begründeten Eigenart gewinnt der Begriff nation im Französischen seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung, die sich im 18. Jahrhundert dann mit der Französischen Revolution unter Betonung der Gesamtheit und Souveränität des Staatsvolkes gegenüber ständischen und partikularen Ansprüchen auf staatliche Hoheit auch in den übrigen europäischen Sprachen verbreitet. Infolge der Revolution und wachsender Bevölkerungszahlen entfaltete die Idee der Nation als ein Gesamtstaat eine hohe Dynamik, die anfangs gegen autokratischen Feudalismus, wirtschaftlich und politisch einengende Kleinstaaterei und landsmannschaftliches Denken (deutsche Fürstenstaaten beziehungsweise deutscher Sprach- und Kulturraum) oder aber gegen imperiale fremde Herrschaft (Vielvölkerstaaten Russland, Österreich-Ungarn) gerichtet war.
Johann Christoph Adelung beschreibt in seinem Standardwerk Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart am Ende des 18. Jahrhunderts den Begriff Nation als „die eingebornen Einwohner eines Landes, so fern sie einen gemeinschaftlichen Ursprung haben, und eine gemeinschaftliche Sprache reden, sie mögen übrigens einen einzigen Staat ausmachen, oder in mehrere vertheilet seyn […] Auch besondere Zweige einer solchen Nation, d. i. einerley Mundart redende Einwohner einer Provinz, werden zuweilen Nationen genannt, in welchem Verstande es auf den alten Universitäten, wo die Glieder nach Nationen vertheilet sind, üblich ist […] Ehe dieses Wort aus dem Lateinischen entlehnet wurde, gebrauchte man Volk für Nation, in welchem Verstande es auch noch von alten Nationen üblich ist. Wegen der Vieldeutigkeit dieses Wortes aber hat man es in dieser Bedeutung großen Theils verlassen und Völkerschaft für Nation einzuführen gesucht, welches Wort auch bereits Beyfall gefunden“. Für das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm ist die Nation „das (eingeborne) volk eines landes, einer groszen staatsgesamtheit“. Der Begriff ist demnach „seit dem 16. Jahrh. aus dem franz. nation, ital. nazione (vom lat. natio)“ in die deutsche Sprache aufgenommen worden. Ähnlich sind die Begriffsbestimmungen in der etwa zeitgleich entstandenen Oeconomischen Encyclopädie von Johann Georg Krünitz und, sehr viel umfangreicher, in dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Meyers Konversations-Lexikon.
In seiner berühmten Rede von 1882 Qu’est-ce qu’une nation? benannte Ernest Renan Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als die Faktoren, die das principe spirituel der Nation konstituieren. Ein Volk bilde eine Nation nicht wegen einer gemeinsamen Rasse, Sprache oder Religion, nicht wegen gemeinsamer Interessen oder wegen der Geographie, sondern vielmehr aufgrund gemeinsamer Erinnerungen an die Vergangenheit sowie aufgrund des Wunsches, gegenwärtig und künftig zusammenzuleben.[5]
„Nation“ sozialwissenschaftlich
Im sozialwissenschaftlichen Kontext wird der Begriff auf sehr unterschiedliche Weise verwendet, so z. B. als gewollte Gesellschaft von Ferdinand Tönnies, als vorgestellte Gemeinschaft (vgl. Benedict Anderson), als auf primordialen Bindungen beruhende Gruppe (vgl. Clifford Geertz), als Kollektiv (Klaus P. Hansen), ferner als historisch kontingentes Konzept (vgl. Rogers Brubaker) oder auch als Kombination vorstehender Begriffe (vgl. Anthony D. Smith).
„Nation“ politikwissenschaftlich
Für einen politischen Zusammenschluss von Menschen, die keiner Abstammungsgemeinschaft zuzuordnen sind, reicht allein die Verwendung des Begriffes Staat aus. Die Bezeichnung als Nation wäre hier von der ursprünglichen Bedeutung als Abstammungsgemeinschaft her falsch. Trotzdem wird oftmals auch hier der Staat zusätzlich als Nation bezeichnet. Damit soll der empathisch geeinte, politisch souverän organisierte und geordnete Staat als Lebens- und Wohngemeinschaft seiner Bewohner zusätzlich – aus soziopsychologischen Gründen – betont werden.
In Frankreich, einem zentralistischen Staat, versucht man unter dem Sinnbild der Grande Nation, die Stände, aber auch die autonomen Bestrebungen der Regionen, der Dynasten und ethnischen Volksgruppen wie z. B. der Bretonen, Korsen, Basken und Deutschen in den französischen Staat zu integrieren; teilweise wurde versucht, deren Muttersprachen durch die französische Staatssprache zu ersetzen. Heute tritt deren Pflege wieder sehr hervor. Im Gegensatz dazu steht der Vielvölkerstaat Schweiz, dessen Bewohner verschiedenen Ethnien zugeordnet werden können (die Schweiz besteht aus einem deutsch-, einem französisch-, einem italienisch- und einem rätoromanischsprachigen Gebiet) und der sich daher als sogenannte Willensnation bezeichnet. Den typischen Einwanderungsländern Kanada und USA fehlen etliche europäisch-typische Eigenschaften als Nationen, trotzdem nehmen sie für sich – wieder aus politischen und soziopsychologischen Gründen – diesen Begriff in Anspruch. Die Indianerstämme des nordamerikanischen Kontinents hingegen sehen sich zunehmend staatsunabhängigen‚ indianischen Nationen zugehörig.[6]
Kulturnation
Die Kulturnation ist ein sehr nachhaltiges Konzept der Nation, da sie den Sprach- und Kulturraum (Sprache und Tradition) eines Volkes beschreibt. Nation ist dann die durch die Geschichte bewahrte Einheit in Sprache, Kultur und Traditionen (siehe Volksbegriff). Sie lässt sich nicht durch territoriale Grenzen definieren, sondern verbindet sich beispielsweise mit Nationaldenkmälern, Nationalhelden, einer Nationalhymne und einer Nationalallegorie als Identifikationsangeboten. Die Einheit der nationalen Sprache wird meist durch eine Nationalliteratur geprägt.
Nation wird dann eher ethnisch homogen (als Volk), aber auch als Stamm (Stammesvolk, früher Völkerstamm) verstanden (vgl. dazu Tribalismus, Reservation). Diese Definition der Nation geht oft von der gemeinsamen Abstammung der Angehörigen der Nation und einer daraus resultierenden Kultur- und Spracheinheit aus. Das Bestreben nach ethnisch homogenen Nationalstaaten führte im 20. Jahrhundert zu sogenannten ethnischen Säuberungen.
Sprachliche Gemeinsamkeit und Wir-Gefühl
Beispiele aus den letzten Jahrhunderten belegen, dass Menschen einer Region sprachliche Gemeinsamkeiten entwickeln und bewahren können, ohne deswegen ein gemeinsames Wir-Gefühl zu haben.
Die Shona in Simbabwe haben zwar eine gemeinsame Sprache und heute ein Wir-Gefühl, aber im 19. Jahrhundert hatten sie Letzteres noch nicht. Den Namen gaben ihnen die sie unterwerfenden Ndebele, und ihre Grammatik wurde von Missionaren aufgeschrieben.
Das Gegenteil davon ist Schottland: Die Schotten sind im Lande selbst wie auch in der ganzen Welt ein Begriff, obwohl es dort zwei einheimische Sprachen gibt (schottisches Gälisch und angelsächsisches Scots), von denen bis ins 19. Jahrhundert keine von allen Schotten gesprochen wurde und die zu verschiedenen Zweigen der indogermanischen Sprachenfamilie gehören.
Religionszugehörigkeit
Auch hier wird der Nationenbegriff häufig als religiöser Zusammenschluss verwendet (Religionsstaat, Staatsreligion). Häufig ist eine gemeinsame Religion konstituierendes Element, z. B. für Israel, die islamische Republik Iran oder die irische oder kroatische Nation.
„Nation“ staatsphilosophisch
Die essentialistische Definition, die Johann Gottlieb Fichte zugeschrieben wird, nach der Nation überzeitlich existent sei und lediglich noch der Artikulation bedürfe. Fichte sieht demnach die Nation als eine von Gott geschaffene, in alle Ewigkeit und unabhängig von der Geschichte bestehende ontologische Einheit. An essentialistische Vorstellungen von Volk und Nation knüpft auch Carl Schmitt an, was bis heute vor allem für die Repräsentationslehre von Bedeutung ist.
Die jakobinische Vorstellung von Nation, die in der Nation eine Einheit sieht, die politisch gebildet werden muss. Siehe die klassische Definition einer Staatsnation von Ernest Renan.
„Nation“ völkerrechtlich
Im Völkerrecht wird auf die tatsächlichen Gemeinsamkeiten eines Volkes abgestellt. So haben nach Art. 1 und 55 der Charta der Vereinten Nationen die einzelnen Völker ein Recht auf Selbstbestimmung und zwar unabhängig davon, ob sie bereits Teil eines Staates sind (siehe Selbstbestimmungsrecht der Völker). „Ein Zustand der Welt, in dem jedes Volk einen eigenen Staat zwar nicht bilden muss, aber doch bilden darf und in dem jeder Mensch dem Volk seiner Wahl angehören kann, lässt sich zwar denken, aber nicht verwirklichen.“[7] Der Historiker Peter Jósika argumentiert diesbezüglich, dass die politische Gemeinde als kleinste politische Einheit immer Ausgangspunkt jeglicher überregionalen, und daher auch der nationalen Selbstbestimmung, sein sollte. Jósika verweist auf das in der Schweiz geltende Recht der Gemeindeautonomie, die auf dem Prinzip der lokalen Selbstbestimmung basiert, als Vorbild.[8] Das Recht der Bundesrepublik Deutschland wählt für seine Staatsbürger eine Mischform zwischen Staatsangehörigkeitsprinzip und Volkszugehörigkeitsprinzip.
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
In der vorbürgerlichen Zeit wurden an den ersten Universitäten die Studenten aus bestimmten europäischen Regionen als jeweilige Nation (nationes) kategorisiert (z. B. bayrische Nation). Die staatsbezogene Nationsentwicklung, bei der die (eigentlich verschiedenen) Begriffe Staat und Nation miteinander verbunden bzw. gleichgesetzt wurden, geschah zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters und der Moderne. Vor diesem Hintergrund ist zwischen Staat, Nation (Kulturnation) und Nationalstaat zu unterscheiden. Nur in einem Nationalstaat fällt das Staatsgebilde mit dem Begriff der Nation zusammen.
Der Nationsbegriff hat Bedeutung für den juristischen und den politischen Bereich. So kann sich eine Nation auf das überstaatlich organisierte Völkerrecht berufen, das häufig als „internationales Recht“ bezeichnet wird, eine ethnische Gruppe dagegen nur auf Minderheitenschutz.
Näheres
Für politische Kollektive, die sich wie in der Französischen Revolution (1789–1799) in der Nationalversammlung zu einer Nation als Staat mit einer Verfassung konstituieren, bestehen Begriffe wie Willensnation oder Staatsnation. Staat und Nation werden hier synonym verwendet. Statt völkischer Konstruktionen dienen hier vor allem Ideale wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ als Grundlage einer Nation, die das Gemeinwesen willentlich zusammenhält. In diesem Zusammenhang wird auch postuliert, dass partikulare (besondere) territoriale Bindungen abgestreift werden müssten, um die Schaffung einer gemeinsamen Nation zu ermöglichen. Die Zugehörigkeit zur Nation wird hier an ein Emanzipationsversprechen und einen Zwang zur Assimilation geknüpft.
Als Willensnation mit einem Staatsvolk gilt insbesondere die Schweiz, die aus deutsch-, französisch-, italienisch- und rätoromanischsprachigen Bevölkerungsgruppen besteht. Eine ethnische Nation oder Kulturnation ist dagegen häufig, aber nicht zwingend ein überstaatlicher Kulturraum wie beispielsweise der arabische Sprach- und Kulturraum; Menschen, die eine solche ethnische Nation bilden, werden als Volk bezeichnet. Zudem kann dies auch ethnische Minderheiten innerhalb von Staaten oder Nationalstaaten betreffen, beispielsweise die Tschuktschen innerhalb Russlands.
Die Form der Konstruktion von Nation zeigt sich an einer Reihe von Widersprüchen, wenn beispielsweise die Sprache als nationales Merkmal gedeutet wird. So bilden z. B. die Staaten Brasilien und Portugal trotz der gemeinsamen portugiesischen Amtssprache keine gemeinsame Nation, weil sie zum einen in unterschiedlichen Kulturräumen leben und zum anderen ihre Bevölkerungen unterschiedliche Staatsbildungsprozesse erlebt haben.
Begriffsgeschichte
Natio bezeichnete im Lateinischen ursprünglich eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Herkunft, daran anschließend eine durch gemeinsame Sprache, Sitten und Bräuche kenntliche Gemeinschaft, und zwar im römischen Sprachgebrauch zunächst als Fremdbezeichnung für fremdartiges eingewandertes Volk, das mit der einheimischen Bevölkerung lebt. Mit dem Ius gentium wurde für den Umgang mit Menschen, die nicht das römische Bürgerrecht besaßen, eine eigene Rechtsgrundlage geschaffen.
Anknüpfend an den römischen Sprachgebrauch, sind im christlichen Latein die ‚nationes‘ oder ‚gentes‘ in erster Linie die nichtjüdischen Heidenvölker, als Anhänger heidnischer Kulte oder als bekehrungswillige Heiden, die mit den jüdischen Christen das Evangelium annehmen und mit ihnen die Gemeinschaft der Kirche bilden.
An der mittelalterlichen Universität mussten sich die Studenten nach ihren Herkunftsländern in Nationes mit eigenen Statuten und Prokuratoren einschreiben. Diese Universitätsnationen, meist gab es davon vier, wurden nach den wichtigsten Herkunftsgebieten der örtlichen Studenten benannt. An der Pariser Universität wurden die nationes gallicorum, normannorum, picardorum und anglicorum unterschieden, wobei zur „gallischen“ auch die Italiener, Spanier, Griechen und Orientalen zählten und zur „englischen“ auch die Deutschen und ihre nördlichen und östlichen Nachbarvölker. An der Prager Universität gehörten zur „polnischen“ Nation neben den Studenten aus dem Königreich Polen auch die Studenten der östlichen Reichsteile, zur „böhmischen“ auch Ungarn und Südslawen, zur „bayerischen“ außer den Bayern die Schwaben, Franken, Hessen, Rheinländer und Westfalen sowie zur „sächsischen“ die Norddeutschen, Dänen, Schweden und Finnen.
Als Selbstbezeichnung für ein Volk mit politisch-staatlicher Einheit und einer durch gemeinsame Vorfahren und Geschichte begründeten Eigenart gewinnt der Begriff nation im Französischen seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung, die sich im 18. Jahrhundert dann mit der Französischen Revolution unter Betonung der Gesamtheit und Souveränität des Staatsvolkes gegenüber ständischen und partikularen Ansprüchen auf staatliche Hoheit auch in den übrigen europäischen Sprachen verbreitet. Infolge der Revolution und wachsender Bevölkerungszahlen entfaltete die Idee der Nation als ein Gesamtstaat eine hohe Dynamik, die anfangs gegen autokratischen Feudalismus, wirtschaftlich und politisch einengende Kleinstaaterei und landsmannschaftliches Denken (deutsche Fürstenstaaten beziehungsweise deutscher Sprach- und Kulturraum) oder aber gegen imperiale fremde Herrschaft (Vielvölkerstaaten Russland, Österreich-Ungarn) gerichtet war.
Johann Christoph Adelung beschreibt in seinem Standardwerk Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart am Ende des 18. Jahrhunderts den Begriff Nation als „die eingebornen Einwohner eines Landes, so fern sie einen gemeinschaftlichen Ursprung haben, und eine gemeinschaftliche Sprache reden, sie mögen übrigens einen einzigen Staat ausmachen, oder in mehrere vertheilet seyn […] Auch besondere Zweige einer solchen Nation, d. i. einerley Mundart redende Einwohner einer Provinz, werden zuweilen Nationen genannt, in welchem Verstande es auf den alten Universitäten, wo die Glieder nach Nationen vertheilet sind, üblich ist […] Ehe dieses Wort aus dem Lateinischen entlehnet wurde, gebrauchte man Volk für Nation, in welchem Verstande es auch noch von alten Nationen üblich ist. Wegen der Vieldeutigkeit dieses Wortes aber hat man es in dieser Bedeutung großen Theils verlassen und Völkerschaft für Nation einzuführen gesucht, welches Wort auch bereits Beyfall gefunden“. Für das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm ist die Nation „das (eingeborne) volk eines landes, einer groszen staatsgesamtheit“. Der Begriff ist demnach „seit dem 16. Jahrh. aus dem franz. nation, ital. nazione (vom lat. natio)“ in die deutsche Sprache aufgenommen worden. Ähnlich sind die Begriffsbestimmungen in der etwa zeitgleich entstandenen Oeconomischen Encyclopädie von Johann Georg Krünitz und, sehr viel umfangreicher, in dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Meyers Konversations-Lexikon.
In seiner berühmten Rede von 1882 Qu’est-ce qu’une nation? benannte Ernest Renan Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als die Faktoren, die das principe spirituel der Nation konstituieren. Ein Volk bilde eine Nation nicht wegen einer gemeinsamen Rasse, Sprache oder Religion, nicht wegen gemeinsamer Interessen oder wegen der Geographie, sondern vielmehr aufgrund gemeinsamer Erinnerungen an die Vergangenheit sowie aufgrund des Wunsches, gegenwärtig und künftig zusammenzuleben.[5]
„Nation“ sozialwissenschaftlich
Im sozialwissenschaftlichen Kontext wird der Begriff auf sehr unterschiedliche Weise verwendet, so z. B. als gewollte Gesellschaft von Ferdinand Tönnies, als vorgestellte Gemeinschaft (vgl. Benedict Anderson), als auf primordialen Bindungen beruhende Gruppe (vgl. Clifford Geertz), als Kollektiv (Klaus P. Hansen), ferner als historisch kontingentes Konzept (vgl. Rogers Brubaker) oder auch als Kombination vorstehender Begriffe (vgl. Anthony D. Smith).
„Nation“ politikwissenschaftlich
Für einen politischen Zusammenschluss von Menschen, die keiner Abstammungsgemeinschaft zuzuordnen sind, reicht allein die Verwendung des Begriffes Staat aus. Die Bezeichnung als Nation wäre hier von der ursprünglichen Bedeutung als Abstammungsgemeinschaft her falsch. Trotzdem wird oftmals auch hier der Staat zusätzlich als Nation bezeichnet. Damit soll der empathisch geeinte, politisch souverän organisierte und geordnete Staat als Lebens- und Wohngemeinschaft seiner Bewohner zusätzlich – aus soziopsychologischen Gründen – betont werden.
In Frankreich, einem zentralistischen Staat, versucht man unter dem Sinnbild der Grande Nation, die Stände, aber auch die autonomen Bestrebungen der Regionen, der Dynasten und ethnischen Volksgruppen wie z. B. der Bretonen, Korsen, Basken und Deutschen in den französischen Staat zu integrieren; teilweise wurde versucht, deren Muttersprachen durch die französische Staatssprache zu ersetzen. Heute tritt deren Pflege wieder sehr hervor. Im Gegensatz dazu steht der Vielvölkerstaat Schweiz, dessen Bewohner verschiedenen Ethnien zugeordnet werden können (die Schweiz besteht aus einem deutsch-, einem französisch-, einem italienisch- und einem rätoromanischsprachigen Gebiet) und der sich daher als sogenannte Willensnation bezeichnet. Den typischen Einwanderungsländern Kanada und USA fehlen etliche europäisch-typische Eigenschaften als Nationen, trotzdem nehmen sie für sich – wieder aus politischen und soziopsychologischen Gründen – diesen Begriff in Anspruch. Die Indianerstämme des nordamerikanischen Kontinents hingegen sehen sich zunehmend staatsunabhängigen‚ indianischen Nationen zugehörig.[6]
Kulturnation
Die Kulturnation ist ein sehr nachhaltiges Konzept der Nation, da sie den Sprach- und Kulturraum (Sprache und Tradition) eines Volkes beschreibt. Nation ist dann die durch die Geschichte bewahrte Einheit in Sprache, Kultur und Traditionen (siehe Volksbegriff). Sie lässt sich nicht durch territoriale Grenzen definieren, sondern verbindet sich beispielsweise mit Nationaldenkmälern, Nationalhelden, einer Nationalhymne und einer Nationalallegorie als Identifikationsangeboten. Die Einheit der nationalen Sprache wird meist durch eine Nationalliteratur geprägt.
Nation wird dann eher ethnisch homogen (als Volk), aber auch als Stamm (Stammesvolk, früher Völkerstamm) verstanden (vgl. dazu Tribalismus, Reservation). Diese Definition der Nation geht oft von der gemeinsamen Abstammung der Angehörigen der Nation und einer daraus resultierenden Kultur- und Spracheinheit aus. Das Bestreben nach ethnisch homogenen Nationalstaaten führte im 20. Jahrhundert zu sogenannten ethnischen Säuberungen.
Sprachliche Gemeinsamkeit und Wir-Gefühl
Beispiele aus den letzten Jahrhunderten belegen, dass Menschen einer Region sprachliche Gemeinsamkeiten entwickeln und bewahren können, ohne deswegen ein gemeinsames Wir-Gefühl zu haben.
Die Shona in Simbabwe haben zwar eine gemeinsame Sprache und heute ein Wir-Gefühl, aber im 19. Jahrhundert hatten sie Letzteres noch nicht. Den Namen gaben ihnen die sie unterwerfenden Ndebele, und ihre Grammatik wurde von Missionaren aufgeschrieben.
Das Gegenteil davon ist Schottland: Die Schotten sind im Lande selbst wie auch in der ganzen Welt ein Begriff, obwohl es dort zwei einheimische Sprachen gibt (schottisches Gälisch und angelsächsisches Scots), von denen bis ins 19. Jahrhundert keine von allen Schotten gesprochen wurde und die zu verschiedenen Zweigen der indogermanischen Sprachenfamilie gehören.
Religionszugehörigkeit
Auch hier wird der Nationenbegriff häufig als religiöser Zusammenschluss verwendet (Religionsstaat, Staatsreligion). Häufig ist eine gemeinsame Religion konstituierendes Element, z. B. für Israel, die islamische Republik Iran oder die irische oder kroatische Nation.
„Nation“ staatsphilosophisch
Die essentialistische Definition, die Johann Gottlieb Fichte zugeschrieben wird, nach der Nation überzeitlich existent sei und lediglich noch der Artikulation bedürfe. Fichte sieht demnach die Nation als eine von Gott geschaffene, in alle Ewigkeit und unabhängig von der Geschichte bestehende ontologische Einheit. An essentialistische Vorstellungen von Volk und Nation knüpft auch Carl Schmitt an, was bis heute vor allem für die Repräsentationslehre von Bedeutung ist.
Die jakobinische Vorstellung von Nation, die in der Nation eine Einheit sieht, die politisch gebildet werden muss. Siehe die klassische Definition einer Staatsnation von Ernest Renan.
„Nation“ völkerrechtlich
Im Völkerrecht wird auf die tatsächlichen Gemeinsamkeiten eines Volkes abgestellt. So haben nach Art. 1 und 55 der Charta der Vereinten Nationen die einzelnen Völker ein Recht auf Selbstbestimmung und zwar unabhängig davon, ob sie bereits Teil eines Staates sind (siehe Selbstbestimmungsrecht der Völker). „Ein Zustand der Welt, in dem jedes Volk einen eigenen Staat zwar nicht bilden muss, aber doch bilden darf und in dem jeder Mensch dem Volk seiner Wahl angehören kann, lässt sich zwar denken, aber nicht verwirklichen.“[7] Der Historiker Peter Jósika argumentiert diesbezüglich, dass die politische Gemeinde als kleinste politische Einheit immer Ausgangspunkt jeglicher überregionalen, und daher auch der nationalen Selbstbestimmung, sein sollte. Jósika verweist auf das in der Schweiz geltende Recht der Gemeindeautonomie, die auf dem Prinzip der lokalen Selbstbestimmung basiert, als Vorbild.[8] Das Recht der Bundesrepublik Deutschland wählt für seine Staatsbürger eine Mischform zwischen Staatsangehörigkeitsprinzip und Volkszugehörigkeitsprinzip.
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