Die Exulanten
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Die Exulanten
Als Exulanten bezeichnet die Geschichtswissenschaft die meist protestantischen Glaubensflüchtlinge des 16. bis 18. Jahrhunderts, die wegen ihres religiösen Bekenntnisses aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Herkunft des Begriffs
Das Wort ist abgeleitet vom Partizip Präsens exulans des Verbs exulare (ursprünglich: exsulare), das zum Substantiv exsul für Verbannter gebildet wurde. Dieses wiederum ist aus ex für aus ... heraus und solum für Boden oder Land entstanden. Exulanten sind also wörtlich die „außerhalb ihres Landes Lebenden“. Exilant ist dagegen eine neuere Wortschöpfung, die von Exil (aus lat. exsilium, ebenfalls von exul) abgeleitet ist.
Historischer Hintergrund
Flucht und Vertreibung aus religiösen Gründen hatte es im Abendland immer wieder gegeben, seit das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion im Römischen Reich geworden war. Insbesondere im hohen und späten Mittelalter sahen sich ganze Bevölkerungsgruppen wie Katharer und Waldenser in Südfrankreich oder die Hussiten in Böhmen als Ketzer verfolgt. Gegen die Katharer wurde sogar der Kreuzzug gepredigt, der mit ihrer nahezu völligen Vernichtung endete.
Die Reformation im 16. Jahrhundert schuf in Europa erstmals seit der Spätantike wieder eine Situation, in der sich auch Fürsten in großer Zahl zu einer vom Katholizismus abweichenden Glaubensrichtung bekennen konnten. Bestand für Andersgläubige zuvor meist nur die Wahl zwischen Anpassung oder Vernichtung, konnten sie nun mit mehr oder weniger wohlwollender Aufnahme in Territorien rechnen, deren Landesherr ihr Bekenntnis teilte oder tolerierte.
Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 erhielt die Möglichkeit der Auswanderung sogar eine rechtliche Grundlage. Zwar legte das ius reformandi nach dem Grundsatz cuius regio, eius religio fest, dass den Landesherren das Recht zustand, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen. Die Fürsten gestanden jedoch den katholischen und lutherischen Untertanen, die nicht zu ihrer Konfession übertreten wollten, gegen Zahlung einer Abzugssteuer das ius emigrandi zu, das freie Abzugsrecht.
Das ius emigrandi war nur ein schwaches Ventil angesichts des Drucks, der aufgrund des ius reformandi auf das Gewissen der Untertanen ausgeübt werden konnte. Immerhin hatten nun wenigstens Katholiken und Lutheraner ein verbrieftes Recht, in Länder ihres Glaubens auswandern zu dürfen. Sie mussten in diesem Fall nicht länger fürchten, wegen Verletzung ihrer Untertanenpflichten belangt zu werden. Reformierte und Täufer wie die Mennoniten waren von dieser Regelung dagegen zunächst ausgenommen. Sie wurden weiterhin sowohl von katholischen als auch von andersgläubigen protestantischen Fürsten verfolgt und vertrieben. Die Verfolgung der Mennoniten "mit Feuer und Schwert" war sogar durch mehrere Reichstagsbeschlüsse ausdrücklich vorgeschrieben. Im Laufe der Zeit wurden diese Beschlüsse jedoch von einer wachsenden Anzahl von Territorien kaum noch umgesetzt.
Erst im Westfälischen Frieden erlangten auch die Reformierten die reichsrechtliche Gleichstellung mit Katholiken und Lutheranern. Außer dem Recht auf ungehinderte Auswanderung hatten die Angehörigen der nunmehr drei offiziell anerkannten Konfessionen seit 1648 das Recht, auf dem Gebiet eines andersgläubigen Landesherren ihren Glauben privat auszuüben. Den Täufern bzw. Mennoniten blieb diese Gleichstellung noch verwehrt.
Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts genossen nur die Bewohner Polens und Siebenbürgens völlige religiöse Toleranz. Alle anderen Monarchien, insbesondere die katholischen Länder Spanien und Frankreich gingen rigoros gegen Andersgläubige vor. In England wurden die bürgerlichen Rechte der Katholiken eingeschränkt, ebenso in den weitgehend toleranteren Niederlanden.
Die wichtigsten Exulantenströme
All dies führte seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts zu einem wachsenden Strom von Exulanten in ganz Europa und dem Mittelmeerraum. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 suchten spanische Juden in verschiedenen Staaten Europas sowie im Osmanischen Reich Zuflucht. Französische Hugenotten flohen nach dem Widerruf des Edikts von Nantes nach England, in die Schweiz, die Niederlande und nach Deutschland; sie werden auch als Refugianten bezeichnet (von frz. refuge = Zuflucht). Besonders Preußen profitierte von dem Edikt von Potsdam des Kurfürsten Friedrich Wilhelms von Brandenburg, das eine starke Einwanderungswelle französischer Flüchtlinge zur Folge hatte.
Um eine Entvölkerung zu vermeiden, betrieb die Habsburgermonarchie nach den Bauernkriegen eine Suppressionspolitik, die erst mit den Theresianisch-Josephinischen Reformen gelockert wurde: Protestantisch waren neben der Bauernschaft insbesondere die Bergleute und Gewerken, die etwa mit den Salzbau im Salzkammergut und der Eisenindustrie um den Erzberg die wirtschaftliche Basis der Monarchie stellten – hier war Zwangskonvertierung und Kryptoprotestantismus vorherrschend. Eine Ausnahme bildete die Ansiedlung an der Militärgrenze zum Osmanischen Reich (Kroatien, Slawonien, Banat, Siebenbürgen), wo weitestgehend Religionsfreiheit herrschte, auch aus Rücksicht gegenüber den ansässigen orthodoxen Christen und kaisertreuen Muslimen. Die protestantische Bevölkerung blieb dort aber im niedrigen Prozentbereich.
Aber auch aus den Ländern der Habsburger mussten immer wieder Protestanten in großer Zahl fliehen: Aus Österreich unter der Enns (Niederösterreich) und ob der Enns (Oberösterreich) sowie der Steiermark, Kärnten und Krain wurden vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die 1670er Jahre in mehreren Wellen deutlich über 100.000 Protestanten zur Auswanderung gezwungen. Nach dem städtischen Bürgertum, den Multiplikatoren der evangelischen Konfession (Pfarrer, Lehrer) und dem Adel[1] war davon – nach dem Dreißigjährigen Krieg – vor allem die bäuerliche Bevölkerung betroffen. In einer Vielzahl von Veröffentlichungen konnten die Namen und Schicksale der Betroffenen inzwischen dokumentiert werden.[2] Meist auf dem Weg über Regensburg siedelten sie sich besonders häufig in den vom Krieg entvölkerten Teilen Frankens und Schwabens an und trugen hier zum wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufschwung bei. Zahlreiche Familiengeschichten führen sich dort noch heute auf ihre exulantische Herkunft zurück. Viele österreichische Exulanten lassen sich aber auch bis nach Brandenburg und Schweden nachweisen. Die Böhmischen Brüder und andere deutschsprachige protestantische Böhmen aus den Herrschaften Friedland, Starkenbach, Harrach und Arnau / Hohenelbe wanderten größtenteils ins benachbarte Sachsen oder in die Mark Brandenburg aus. Die katholischen Repressionen führten nach 1680 dazu, dass es zur nächtlichen Exulantenflucht ganzer Protestantendörfer kam. Dieses erzeugte ein überregionales Desaster, so gab es Rückführungsbefehle aus Wien und Prag, Rechtfertigungsschreiben aus Sachsen, die die obskuren gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln. Die Exulantenflucht der protestantischen Gemeinde von Rochlitz an der Iser am 15. Juli 1682 gilt als ein gut dokumentiertes Zeugnis.[3]
Die Salzburger Exulanten, die infolge des Emigrationspatents des Fürsterzbischofs Leopold Anton von Firmian 1731 aus ihrer Heimat vertrieben wurden, fanden größtenteils Aufnahme in West- und Ostpreußen. Ein anderer Teil wurde unter der Regentschaft von Karl VI. und Maria Theresia nach Siebenbürgen deportiert (siehe Landler bzw. Transmigration). Nach dem Toleranzpatent von 1781 konnte innerhalb der Erblande migriert werden, wenn keine Toleranzgemeinde genehmigt wurde. Wie manche Verfolgte ihre Lage selbst sahen, beschreibt das Gedicht eines aus dem Fürsterzbistum Salzburg ausgewiesenen Protestanten:
„Ich bin ein armer Exulant,
also muss ich mich schreiben.
Man tut mich aus dem Vaterland
um Gottes Wort vertreiben.
Doch weiß ich wohl,
Herr Jesu mein,
es ist dir auch so gangen,
jetzt soll ich dein Nachfolger sein,
mach's Herr nach dein'm Verlangen!“
– Joseph Schaitberger (1658–1733)
Während einige Exulanten versuchten, sich möglichst nahe der früheren Heimat anzusiedeln, wanderten viele auch nach Übersee aus. Einige Herrnhuter Brüdergemeinen gründeten beispielsweise Siedlungen und Missionsstationen zwischen Grönland und Südamerika. Pfälzische Mennoniten und Amische gingen nach Pennsylvania, wo ihre Nachfahren bis heute leben. Mennoniten aus dem Weichseldelta und pietistische Gruppen wiederum folgten der Einladung der Zarin Katharina der Großen und siedelten in den von Russland neu eroberten Gebieten am Unterlauf der Wolga.
Entstehung von Exulantenstädten und -dörfern
Insbesondere nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges erkannten immer mehr Landesherren die wirtschaftlichen Chancen, die sich durch die Aufnahme von Exulanten ergaben. Ein Ausdruck dieser eher an Nützlichkeitserwägungen als an prinzipieller Toleranz orientierten Haltung ist der bekannte Ausspruch Friedrichs II. von Preußen:
Alle Religionen seindt gleich und gut, wan nuhr die leute, so sie profesieren, Ehrlige leute seindt, und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land pöplieren, so wollten wir sie Mosqueen und Kirchen bauen.
Bereits im 17. Jahrhundert wurde im Vergleich der Niederlande mit Spanien erkannt, dass Zusammenhänge bestanden zwischen Toleranz und dem Wohlstand eines Landes einerseits sowie Intoleranz und wirtschaftlichem Niedergang andererseits.
Dafür gab es einen einfachen Grund: Wer seine Heimat aus religiösen Gründen verließ, musste sich dies auch wirtschaftlich leisten können. Es flohen also meist diejenigen, die ihren Besitz zu Geld machen konnten oder die ihr Kapital in Form von Wissen oder handwerklichen Fertigkeiten mit sich tragen konnten. So kam es, dass in vielen Fällen die Exulanten bald die Wirtschaft ihrer Aufnahmegebiete prägten und erheblich zu deren Wohlstand beitrugen. Ein Beispiel dafür ist der Musikwinkel im Vogtland, der von böhmischen Musikinstrumentenmachern besiedelt wurde.
Speziell in Deutschland entstand – meist auf landesherrliche Initiative – eine Reihe von Exulantenstädten, in denen Flüchtlinge einer oder mehrerer Konfessionen aufgenommen wurden. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist die Gründung der Stadt Neuwied am Rhein, in der eine weitgehende Religionsfreiheit für alle Bekenntnisse herrschte.[4]
Das Beispiel Neuwied
Die ehemalige Mennonitenkirche in Neuwied
Die reformierte Grafschaft Wied war im Dreißigjährigen Krieg weitgehend verarmt. Von der Teilhabe am Rheinhandel versprach sich Graf Friedrich III. zu Wied wirtschaftliche Impulse. Daher ließ er 1653 an der schmalen Rheingrenze seiner Grafschaft die neue Residenz Neuwied gründen. Um mehr Bewohner in die nur langsam wachsende Siedlung zu locken, verlieh er ihr 1662 ein Stadtrechtsprivileg, das den Einwohnern zahlreiche Freiheiten garantierte – vor allem das Recht auf weitgehende Religionsfreiheit und die zivilrechtliche Gleichstellung unabhängig von ihrer Konfessionsangehörigkeit. In der übrigen Grafschaft war dagegen weiterhin nur das reformierte Bekenntnis zugelassen.
Auch die Nachfolger Friedrichs III. behielten seine Politik der religiösen Toleranz in Neuwied bei. Zuzugswillige Gruppen erhielten im Rahmen der wiedischen Peuplierungspolitik Konzessionen zur Ansiedlung in Neuwied. Damit waren sie nicht länger auf die wohlwollende Duldung des regierenden Fürstenhauses angewiesen, sondern konnten ihre verbrieften religiösen und bürgerlichen Rechte in Untertanenprozessen vor dem Reichskammergericht oder dem Reichshofrat einklagen. Dies war vor allem für Angehörige von reichsrechtlich nicht anerkannten Religionsgemeinschaften ein wichtiges Zugeständnis. Unter Friedrichs Enkel, Fürst Johann Friedrich Alexander zu Wied-Neuwied lebten im 18. Jahrhundert Angehörige von sieben verschiedenen Religionsgemeinschaften in Neuwied: Calvinisten, denen auch das Grafenhaus angehörte, Lutheraner, Katholiken, Mennoniten, Herrnhuter, Inspirierte und Juden.
Auch nach Neuwied brachten die Exulanten vielfach neue Gewerbezweige und Fertigkeiten mit, die der Stadt eine wirtschaftliche Blüte bescherten. So waren die Möbel aus der Manufaktur der Herrnhuter Abraham und David Roentgen oder die kunstvollen Uhren von Peter Kinzing an den Fürstenhöfen ganz Europas gefragt.
Weitere Beispiele für Exulantensiedlungen
Exulantenbrunnen in Wain
Böhmisch-Rixdorf
Erlangen
Estherwalde[5]
Friedrichstadt
Glückstadt
Hanau[6] (Gründung Hanauer Neustadt 1597 für Glaubensflüchtlinge)
Herrnhut
Johanngeorgenstadt
Karlshafen
Klingenthal
Markneukirchen
Neu-Isenburg
Stadt Neusalza
Nowawes (siehe dazu auch Babelsberg und Potsdam)
Sprottischwaldau[7]
Wain
In einigen Exulantensiedlungen errichteten die Exulantengemeinden eigene Kirchen, die Exulantenkirchen; zuweilen ließen der aufnehmende Landesherr oder die aufnehmende Stadt für ihre Neubürger eine Exulantenkirche bauen.
Siehe auch
Herrnhuter Brüdergemeine
Mennonitische Auswanderung
Rundkirche „Zum Friedefürsten“
Geschichte des Geigenbaus in Klingenthal
Zillertaler Inklinanten
Quelle
Herkunft des Begriffs
Das Wort ist abgeleitet vom Partizip Präsens exulans des Verbs exulare (ursprünglich: exsulare), das zum Substantiv exsul für Verbannter gebildet wurde. Dieses wiederum ist aus ex für aus ... heraus und solum für Boden oder Land entstanden. Exulanten sind also wörtlich die „außerhalb ihres Landes Lebenden“. Exilant ist dagegen eine neuere Wortschöpfung, die von Exil (aus lat. exsilium, ebenfalls von exul) abgeleitet ist.
Historischer Hintergrund
Flucht und Vertreibung aus religiösen Gründen hatte es im Abendland immer wieder gegeben, seit das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion im Römischen Reich geworden war. Insbesondere im hohen und späten Mittelalter sahen sich ganze Bevölkerungsgruppen wie Katharer und Waldenser in Südfrankreich oder die Hussiten in Böhmen als Ketzer verfolgt. Gegen die Katharer wurde sogar der Kreuzzug gepredigt, der mit ihrer nahezu völligen Vernichtung endete.
Die Reformation im 16. Jahrhundert schuf in Europa erstmals seit der Spätantike wieder eine Situation, in der sich auch Fürsten in großer Zahl zu einer vom Katholizismus abweichenden Glaubensrichtung bekennen konnten. Bestand für Andersgläubige zuvor meist nur die Wahl zwischen Anpassung oder Vernichtung, konnten sie nun mit mehr oder weniger wohlwollender Aufnahme in Territorien rechnen, deren Landesherr ihr Bekenntnis teilte oder tolerierte.
Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 erhielt die Möglichkeit der Auswanderung sogar eine rechtliche Grundlage. Zwar legte das ius reformandi nach dem Grundsatz cuius regio, eius religio fest, dass den Landesherren das Recht zustand, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen. Die Fürsten gestanden jedoch den katholischen und lutherischen Untertanen, die nicht zu ihrer Konfession übertreten wollten, gegen Zahlung einer Abzugssteuer das ius emigrandi zu, das freie Abzugsrecht.
Das ius emigrandi war nur ein schwaches Ventil angesichts des Drucks, der aufgrund des ius reformandi auf das Gewissen der Untertanen ausgeübt werden konnte. Immerhin hatten nun wenigstens Katholiken und Lutheraner ein verbrieftes Recht, in Länder ihres Glaubens auswandern zu dürfen. Sie mussten in diesem Fall nicht länger fürchten, wegen Verletzung ihrer Untertanenpflichten belangt zu werden. Reformierte und Täufer wie die Mennoniten waren von dieser Regelung dagegen zunächst ausgenommen. Sie wurden weiterhin sowohl von katholischen als auch von andersgläubigen protestantischen Fürsten verfolgt und vertrieben. Die Verfolgung der Mennoniten "mit Feuer und Schwert" war sogar durch mehrere Reichstagsbeschlüsse ausdrücklich vorgeschrieben. Im Laufe der Zeit wurden diese Beschlüsse jedoch von einer wachsenden Anzahl von Territorien kaum noch umgesetzt.
Erst im Westfälischen Frieden erlangten auch die Reformierten die reichsrechtliche Gleichstellung mit Katholiken und Lutheranern. Außer dem Recht auf ungehinderte Auswanderung hatten die Angehörigen der nunmehr drei offiziell anerkannten Konfessionen seit 1648 das Recht, auf dem Gebiet eines andersgläubigen Landesherren ihren Glauben privat auszuüben. Den Täufern bzw. Mennoniten blieb diese Gleichstellung noch verwehrt.
Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts genossen nur die Bewohner Polens und Siebenbürgens völlige religiöse Toleranz. Alle anderen Monarchien, insbesondere die katholischen Länder Spanien und Frankreich gingen rigoros gegen Andersgläubige vor. In England wurden die bürgerlichen Rechte der Katholiken eingeschränkt, ebenso in den weitgehend toleranteren Niederlanden.
Die wichtigsten Exulantenströme
All dies führte seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts zu einem wachsenden Strom von Exulanten in ganz Europa und dem Mittelmeerraum. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 suchten spanische Juden in verschiedenen Staaten Europas sowie im Osmanischen Reich Zuflucht. Französische Hugenotten flohen nach dem Widerruf des Edikts von Nantes nach England, in die Schweiz, die Niederlande und nach Deutschland; sie werden auch als Refugianten bezeichnet (von frz. refuge = Zuflucht). Besonders Preußen profitierte von dem Edikt von Potsdam des Kurfürsten Friedrich Wilhelms von Brandenburg, das eine starke Einwanderungswelle französischer Flüchtlinge zur Folge hatte.
Um eine Entvölkerung zu vermeiden, betrieb die Habsburgermonarchie nach den Bauernkriegen eine Suppressionspolitik, die erst mit den Theresianisch-Josephinischen Reformen gelockert wurde: Protestantisch waren neben der Bauernschaft insbesondere die Bergleute und Gewerken, die etwa mit den Salzbau im Salzkammergut und der Eisenindustrie um den Erzberg die wirtschaftliche Basis der Monarchie stellten – hier war Zwangskonvertierung und Kryptoprotestantismus vorherrschend. Eine Ausnahme bildete die Ansiedlung an der Militärgrenze zum Osmanischen Reich (Kroatien, Slawonien, Banat, Siebenbürgen), wo weitestgehend Religionsfreiheit herrschte, auch aus Rücksicht gegenüber den ansässigen orthodoxen Christen und kaisertreuen Muslimen. Die protestantische Bevölkerung blieb dort aber im niedrigen Prozentbereich.
Aber auch aus den Ländern der Habsburger mussten immer wieder Protestanten in großer Zahl fliehen: Aus Österreich unter der Enns (Niederösterreich) und ob der Enns (Oberösterreich) sowie der Steiermark, Kärnten und Krain wurden vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die 1670er Jahre in mehreren Wellen deutlich über 100.000 Protestanten zur Auswanderung gezwungen. Nach dem städtischen Bürgertum, den Multiplikatoren der evangelischen Konfession (Pfarrer, Lehrer) und dem Adel[1] war davon – nach dem Dreißigjährigen Krieg – vor allem die bäuerliche Bevölkerung betroffen. In einer Vielzahl von Veröffentlichungen konnten die Namen und Schicksale der Betroffenen inzwischen dokumentiert werden.[2] Meist auf dem Weg über Regensburg siedelten sie sich besonders häufig in den vom Krieg entvölkerten Teilen Frankens und Schwabens an und trugen hier zum wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufschwung bei. Zahlreiche Familiengeschichten führen sich dort noch heute auf ihre exulantische Herkunft zurück. Viele österreichische Exulanten lassen sich aber auch bis nach Brandenburg und Schweden nachweisen. Die Böhmischen Brüder und andere deutschsprachige protestantische Böhmen aus den Herrschaften Friedland, Starkenbach, Harrach und Arnau / Hohenelbe wanderten größtenteils ins benachbarte Sachsen oder in die Mark Brandenburg aus. Die katholischen Repressionen führten nach 1680 dazu, dass es zur nächtlichen Exulantenflucht ganzer Protestantendörfer kam. Dieses erzeugte ein überregionales Desaster, so gab es Rückführungsbefehle aus Wien und Prag, Rechtfertigungsschreiben aus Sachsen, die die obskuren gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln. Die Exulantenflucht der protestantischen Gemeinde von Rochlitz an der Iser am 15. Juli 1682 gilt als ein gut dokumentiertes Zeugnis.[3]
Die Salzburger Exulanten, die infolge des Emigrationspatents des Fürsterzbischofs Leopold Anton von Firmian 1731 aus ihrer Heimat vertrieben wurden, fanden größtenteils Aufnahme in West- und Ostpreußen. Ein anderer Teil wurde unter der Regentschaft von Karl VI. und Maria Theresia nach Siebenbürgen deportiert (siehe Landler bzw. Transmigration). Nach dem Toleranzpatent von 1781 konnte innerhalb der Erblande migriert werden, wenn keine Toleranzgemeinde genehmigt wurde. Wie manche Verfolgte ihre Lage selbst sahen, beschreibt das Gedicht eines aus dem Fürsterzbistum Salzburg ausgewiesenen Protestanten:
„Ich bin ein armer Exulant,
also muss ich mich schreiben.
Man tut mich aus dem Vaterland
um Gottes Wort vertreiben.
Doch weiß ich wohl,
Herr Jesu mein,
es ist dir auch so gangen,
jetzt soll ich dein Nachfolger sein,
mach's Herr nach dein'm Verlangen!“
– Joseph Schaitberger (1658–1733)
Während einige Exulanten versuchten, sich möglichst nahe der früheren Heimat anzusiedeln, wanderten viele auch nach Übersee aus. Einige Herrnhuter Brüdergemeinen gründeten beispielsweise Siedlungen und Missionsstationen zwischen Grönland und Südamerika. Pfälzische Mennoniten und Amische gingen nach Pennsylvania, wo ihre Nachfahren bis heute leben. Mennoniten aus dem Weichseldelta und pietistische Gruppen wiederum folgten der Einladung der Zarin Katharina der Großen und siedelten in den von Russland neu eroberten Gebieten am Unterlauf der Wolga.
Entstehung von Exulantenstädten und -dörfern
Insbesondere nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges erkannten immer mehr Landesherren die wirtschaftlichen Chancen, die sich durch die Aufnahme von Exulanten ergaben. Ein Ausdruck dieser eher an Nützlichkeitserwägungen als an prinzipieller Toleranz orientierten Haltung ist der bekannte Ausspruch Friedrichs II. von Preußen:
Alle Religionen seindt gleich und gut, wan nuhr die leute, so sie profesieren, Ehrlige leute seindt, und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land pöplieren, so wollten wir sie Mosqueen und Kirchen bauen.
Bereits im 17. Jahrhundert wurde im Vergleich der Niederlande mit Spanien erkannt, dass Zusammenhänge bestanden zwischen Toleranz und dem Wohlstand eines Landes einerseits sowie Intoleranz und wirtschaftlichem Niedergang andererseits.
Dafür gab es einen einfachen Grund: Wer seine Heimat aus religiösen Gründen verließ, musste sich dies auch wirtschaftlich leisten können. Es flohen also meist diejenigen, die ihren Besitz zu Geld machen konnten oder die ihr Kapital in Form von Wissen oder handwerklichen Fertigkeiten mit sich tragen konnten. So kam es, dass in vielen Fällen die Exulanten bald die Wirtschaft ihrer Aufnahmegebiete prägten und erheblich zu deren Wohlstand beitrugen. Ein Beispiel dafür ist der Musikwinkel im Vogtland, der von böhmischen Musikinstrumentenmachern besiedelt wurde.
Speziell in Deutschland entstand – meist auf landesherrliche Initiative – eine Reihe von Exulantenstädten, in denen Flüchtlinge einer oder mehrerer Konfessionen aufgenommen wurden. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist die Gründung der Stadt Neuwied am Rhein, in der eine weitgehende Religionsfreiheit für alle Bekenntnisse herrschte.[4]
Das Beispiel Neuwied
Die ehemalige Mennonitenkirche in Neuwied
Die reformierte Grafschaft Wied war im Dreißigjährigen Krieg weitgehend verarmt. Von der Teilhabe am Rheinhandel versprach sich Graf Friedrich III. zu Wied wirtschaftliche Impulse. Daher ließ er 1653 an der schmalen Rheingrenze seiner Grafschaft die neue Residenz Neuwied gründen. Um mehr Bewohner in die nur langsam wachsende Siedlung zu locken, verlieh er ihr 1662 ein Stadtrechtsprivileg, das den Einwohnern zahlreiche Freiheiten garantierte – vor allem das Recht auf weitgehende Religionsfreiheit und die zivilrechtliche Gleichstellung unabhängig von ihrer Konfessionsangehörigkeit. In der übrigen Grafschaft war dagegen weiterhin nur das reformierte Bekenntnis zugelassen.
Auch die Nachfolger Friedrichs III. behielten seine Politik der religiösen Toleranz in Neuwied bei. Zuzugswillige Gruppen erhielten im Rahmen der wiedischen Peuplierungspolitik Konzessionen zur Ansiedlung in Neuwied. Damit waren sie nicht länger auf die wohlwollende Duldung des regierenden Fürstenhauses angewiesen, sondern konnten ihre verbrieften religiösen und bürgerlichen Rechte in Untertanenprozessen vor dem Reichskammergericht oder dem Reichshofrat einklagen. Dies war vor allem für Angehörige von reichsrechtlich nicht anerkannten Religionsgemeinschaften ein wichtiges Zugeständnis. Unter Friedrichs Enkel, Fürst Johann Friedrich Alexander zu Wied-Neuwied lebten im 18. Jahrhundert Angehörige von sieben verschiedenen Religionsgemeinschaften in Neuwied: Calvinisten, denen auch das Grafenhaus angehörte, Lutheraner, Katholiken, Mennoniten, Herrnhuter, Inspirierte und Juden.
Auch nach Neuwied brachten die Exulanten vielfach neue Gewerbezweige und Fertigkeiten mit, die der Stadt eine wirtschaftliche Blüte bescherten. So waren die Möbel aus der Manufaktur der Herrnhuter Abraham und David Roentgen oder die kunstvollen Uhren von Peter Kinzing an den Fürstenhöfen ganz Europas gefragt.
Weitere Beispiele für Exulantensiedlungen
Exulantenbrunnen in Wain
Böhmisch-Rixdorf
Erlangen
Estherwalde[5]
Friedrichstadt
Glückstadt
Hanau[6] (Gründung Hanauer Neustadt 1597 für Glaubensflüchtlinge)
Herrnhut
Johanngeorgenstadt
Karlshafen
Klingenthal
Markneukirchen
Neu-Isenburg
Stadt Neusalza
Nowawes (siehe dazu auch Babelsberg und Potsdam)
Sprottischwaldau[7]
Wain
In einigen Exulantensiedlungen errichteten die Exulantengemeinden eigene Kirchen, die Exulantenkirchen; zuweilen ließen der aufnehmende Landesherr oder die aufnehmende Stadt für ihre Neubürger eine Exulantenkirche bauen.
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