Das Volkstum
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Das Volkstum
Volkstum im Sinne der völkischen Bewegung bezeichnet die gesamten Lebensäußerungen eines Volkes oder einer ethnischen Minderheit als Ausdruck eines gemeinsamen „Volkscharakters“. Der Begriff wurde von deutschen Nationalisten im Kontext der Freiheitskriege bewusst als Gegensatz zu den Idealen der Französischen Revolution, den universalen Menschenrechten, geprägt und von den Nationalsozialisten als Rechtfertigung der aggressiven Volkstumspolitik verwendet. In Österreich ist er eine Rechtsnorm.
Herkunft
Im Zeitalter der Aufklärung bezeichnete das Adjektiv volkstümlich meist die Kulturleistungen ungebildeter Deutscher sowie das Populäre. Die „Volksdichtung“ wurde damit von „gehobener“ Literatur, von der Kultur der Gebildeten unterschieden und teils elitär abgewertet, teils idealisiert. Der Begriff war also noch nicht an eine bestimmte Nation und bestimmte, ihr zugeschriebene Eigenarten gekoppelt.
Bei Justus Möser (1720–1794), Johann Gottfried von Herder (1744–1803), Johann Georg Hamann (1730–1788) und anderen deutschen Romantikern wurde der Begriff allmählich immer stärker mit Vorstellungen von einem urwüchsigen, organischen, personhaft geschlossenen und ewigen „Volkscharakter“ aufgeladen und gegen die Monarchien gewandt, die Deutschland beherrschten. Dabei grenzte schon Möser als „Vater der Volkskunde“ das Deutschtum gegen den Kosmopolitismus der Aufklärung und gegen die Französische Revolution ab.
Friedrich Ludwig Jahn („Deutsches Volksthum“[1]) gilt als Erfinder des Substantivs. Er übersetzte das Fremdwort Nation damit und bezog es auf ein „unnennbares Etwas“ in jedem Volk. Das deutsche Volkstum galt ihm wie auch Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) nun als revolutionäre Quelle der Erneuerung gegen die napoleonische Fremdherrschaft von Franzosen, aber auch gegen Dynasten und Kirche. Dies hatte mit dem aufklärerischen Wortgebrauch immer weniger gemein.[2]
Kaiserreich
Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 erfüllte als Kleindeutsche Lösung unter Vorherrschaft Preußens nur einen Teil der Ziele deutscher Nationalisten, die sich die Einigung aller Deutschsprachigen in einem gemeinsamen Nationalstaat gewünscht und dafür gekämpft hatten.
Umso mehr wurde der Volkstumsbegriff nun Bestandteil einer nationalistischen Ideologie und politischen Propaganda. Er diente vielfach als patriotisches Bindemittel, um die realen Gegensätze innerhalb wie außerhalb des Deutschen Kaiserreichs zu überdecken oder visionär zu überwinden: etwa indem ein Volkstumskampf, ein agrarisch-korporativer Volkskörper oder eine ideale Volksgemeinschaft als entscheidende Merkmale des Volkstums beschworen wurden, die es tatsächlich nicht gab. Damit wurde der Begriff zum einen zu einem begrifflich unbestimmbaren irrationalen, vorbewussten Einheitsgefühl, zum anderen konnte er so nicht nur gegen äußere, sondern auch „innere Reichsfeinde“ gewendet werden.[3]
Während die Brüder Grimm Gemeinschaft und Gesellschaft noch nicht unterschieden hatten, stellte Ferdinand Tönnies (1855–1936) sie in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft 1887 einander ausschließend gegenüber: Er definierte die „Gemeinschaft“ als eine Form gegenseitiger Bejahung der Menschen, in der sie sich selber als ihr Mittel, ihre jeweilige Gemeinschaften (z. B. ihre Familie) aber als Zweck verstünden – gegenüber der gegenseitigen Bejahungsform „Gesellschaft“, bei der der Einzelne sich selbst als Zweck, die jeweilige Gesellschaft (z. B. eine Aktiengesellschaft) aber als sein Mittel ansehe. Ersteres werde von Kind auf als „das dauernde und echte“ gegenüber dem „vorübergehenden und scheinbaren Zusammenleben“ der Gesellschaft empfunden. Dies richtete sich auch gegen den Marxismus der Sozialdemokratie, deren „wissenschaftlich“ begründetes Ideal der klassenlosen Gesellschaft er für in der Wirklichkeit undurchführbar hielt. Einem Konzept wie „Volksgemeinschaft“ stand er äußerst skeptisch gegenüber, im politischen Bereich hielt er die antike Polis bzw. die mittelalterliche Hansestadt für die ausgeprägteste Form eines vergemeinschafteten Volkes, in der fortgeschrittenen Neuzeit kaum mehr für erwartbar.[4]
Während des Krieges wurde das „deutsche Volkstum“ bzw. „Deutschtum“ dann besonders an den Hochschulen nochmals im Sinne eines Chauvinismus übersteigert. In den Deutschen Reden in schwerer Zeit von 35 Berliner Professoren war viel von „Entartung“ und „Ausländerei“ die Rede; der Weltkrieg wurde als „Reinigungsbad“ und „Brunnenstube einer neuen Kultur“ gedeutet. Gustav Roethe z. B. sah aus dem Massenmorden die „Flamme heiligen Glaubens an die weltgeschichtliche Sendung des deutschen Volkes gegen Barbarei und Überkultur“ aufsteigen.
Weimarer Republik
Nach der Kriegsniederlage und der mit blutigem Bürgerkrieg beendeten Novemberrevolution gewann der Volkstumsbegriff den Charakter einer Utopie, die die Sehnsucht nach einer vermeintlichen ursprünglichen, nun zerstörten Einheit ausdrückte. Paul de Lagarde, der deutsches Volkstum bereits seit 1890 mit einer angeblichen arischen Rasse verknüpft hatte, klagte nach 1918: Das deutsche Volk, „welches wir lieben und zu sehen begehren, hat nie existiert und wird vielleicht nie existieren.“
So trauerte auch der Österreicher Hugo von Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen darüber, dass das deutsche Volkstum „seine Ganzheit und die Geisteselite ihre Nähe zum Volk ebenso endgültig verloren habe wie das Paradies.“
In der Jugendbewegung der 1920er Jahre fand das Volkstumsideal einen apolitischen Ausdruck unter Rückgriff auf romantische Traditionen. Das Gemeinschaftserlebnis sollte die Zerrissenheit und Differenzierung der industriellen Massengesellschaft und ihrer anonymen Staatsinstitutionen, auf die man kaum Einfluss zu haben glaubte, kompensieren.
Im entstehenden deutschen Faschismus wurde das einheitliche, die individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung aufhebende Volkstum dann erneut zur politischen Aktionsforderung mit dem Ziel einer Nationalen Revolution. Hans Freyer schrieb 1925 in Revolution von Rechts:[5]
„Hier wird Volk mehr als das große unmittelbare Dasein, aus dem die Bildungen der Geschichte aufsteigen, mehr als der geheimnisvolle Grund, in dem wir alle wurzeln. Hier wird Volk zu einer Auslese und zu einem kategorischen Imperativ. Es wird zur Front aller wahrhaft revolutionären Kräfte, zur Front gegen das Prinzip der industriellen Gesellschaft.“
Er verband dies mit dem Ruf nach dem Führerprinzip:
„Der Führer schafft das eine klassenlose, aber vielschichtige, herrschaftsfreie, aber streng gefügte Gebilde des Volkes. Volk sein heißt Volk werden, unter des Führers Hand.“
Wilhelm Stapel erklärte die Ansicht Hegels, wonach die Menschen ihr Volkstum allmählich zugunsten der Einigung in der gemeinsamen Menschheit überwinden müssten, in Antisemitismus und Antigermanismus 1928 für „wunderliches Fehldenken, vor welchem nur der gesichert ist, der Sinn für Wirklichkeit hat“.[6]
Der Friedensvertrag von Versailles schloss deutsche Ansprüche auf durch den Krieg verlorene Gebiete zunächst aus. Doch in der Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung fanden „völkische“ Nachwuchshistoriker wie Walter Frank, Hermann Aubin, Hans Rothfels, Werner Conze, Theodor Schieder, der Agrar- und Bevölkerungswissenschaftler Theodor Oberländer u.a. ein Betätigungsfeld. Sie konstruierten abseits der Universitäten, wo solche Versuche kaum Interesse fanden, eine „Volksgeschichte“, die sich Fragen der ethnischen Zugehörigkeit von „Volksdeutschen“ widmete und damit aktiv an der Revisionspolitik bereits der Weimarer Zeit teilnahm. Hier wurden Konzepte von „Volkstum“ mit „Volksboden“ und „Lebensraum“ verbunden, „Umsiedlungs“- und „Eindeutschungs“-Pläne entwickelt.
Seit 1929 traten dieser Forscherkreis auch offen für die „Nationale Revolution“ und für einen Politikwechsel zur ethnischen Neuordnung Europas ein. Dabei bestimmten sie – auch auf zwei Historikertagen – weite Teile Osteuropas als Zone germanisch-deutscher Kulturausstrahlung.
Zeit des Nationalsozialismus
Im Nationalsozialismus wurde Volkstum aggressiv gedeutet. Adolf Hitler setzte in Mein Kampf Volkstum mit Rasse gleich, „da das Volkstum, besser die Rasse, eben nicht in der Sprache liegt, sondern im Blute.“[7]
Nach der „Machtergreifung“ verbanden sich verschiedene völkisch und volkstumspolitisch orientierte inner- und außeruniversitäre Fachbereiche zu fächerübergreifenden „Forschungsgemeinschaften“. Besonders die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), in der auch die „Volksgeschichte“ und die „Ostforschung“ integriert waren, verband sich eng mit NS-Staat und NSDAP. Ihre zuvor als Spezialdisziplinen betrachteten Programme bekamen staatliche Rückendeckung und Entfaltungsmöglichkeiten. Der Begriff des „eigenständigen Volkstums“ wurde in „Volksgenossen“ und zu entfernende „Volksfeinde“ unterteilt; damit wurde die zuvor konzipierte Revisionspolitik stärker auf rassistische und kriegerische Lösungen hin orientiert. Nationalsozialisten schalteten die wichtigen Organisationen Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland und Deutsches Ausland-Institut in Stuttgart gleich.
Vor allem der preußische Archivar Albert Brackmann befürwortete und leitete die Gleichschaltung der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Diese lenkte zentral die ostdeutsche Geschichtswissenschaft und kontrollierte zahlreiche Projekte zu Fragen der Grenzziehung und Bevölkerungspolitik. Die Königsberger Nachwuchshistoriker unterstützten die Ostpolitik der NSDAP, die selber noch keine akademische Elite herausgebildet hatte. Nach 1937 wurde die vereinte Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft endgültig als Großforschungseinrichtung staatlich gefördert. Denn für die nationalsozialistische „Volkstumspolitik“ in den ab 1939 eroberten Gebieten Osteuropas waren die Fachkenntnisse der Volkstumshistoriker über „Volksgruppen“ maßgebend. Diese verfassten in staatlichem Auftrag zahlreiche Karten und Statistiken, die dem NS-Planungsstab als Grundlage seiner Siedlungs- und Bevölkerungspolitik in Polen, dem Baltikum, der Ukraine und Weißrussland dienten.
Die von den Volkstumshistorikern propagierte und legitimierte Politik der „Eindeutschung“, die sogenannte Deutschstämmige als kulturell und ethnisch überlegen ansah, begünstigte auch den Holocaust, auch wenn sie diesen nicht konzipierten und daran nicht direkt beteiligt waren.[8][9]
Seit 1945
Nach 1945 wurde der Begriff in seinem politischen Sinn in Deutschland als Ausdruck nationalistischer Ideologie vermieden und durch Begriffe wie „Bevölkerung“ ersetzt. In Gesetzen zur Volkszugehörigkeit findet der Begriff allerdings nach wie vor Verwendung. Nach § 6 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ist das Bekenntnis zum deutschen Volkstum Voraussetzung für die Zurechnung der deutschen Volkszugehörigkeit.[10] Bertolt Brecht formulierte die Abkehr vom Begriff des Volkstums so: Das Volk ist nicht tümlich. In der DDR sollte der Begriff „Volk“ – ohne „-tum“ – die angebliche Übereinstimmung der Bevölkerung mit der SED und dem Staat ausdrücken, etwa in den Wortkombinationen Volksdemokratie, Volkspolizei, Volksarmee. Dagegen richtete sich später die Parole der Opposition „Wir sind das Volk“.
In Österreich ist der Begriff nur noch in einzelnen juristischen Texten gebräuchlich, etwa im Volksgruppengesetz 1976[11] zur Definition des Begriffs Volksgruppe im Sinne von nationale Minderheit, entsprechend dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats. In der Alltagssprache kommt er nicht mehr vor.
Der Gesetzgeber der Schweiz erklärt Volkstum bei der Ratifikation des Rahmenübereinkommens als „von dem Willen beseelt […], zusammen das zu bewahren, was ihre gemeinsame Identität ausmacht, insbesondere ihre Kultur, ihre Traditionen, ihre Religion oder ihre Sprache.“[12] In Sinne dieser gesetzlichen Regelungen wird Volkstum heute primär als Ausdruck der Selbstwahrnehmung einer Bevölkerungsgruppe verwendet.
Im volkskundlichen Sinn erscheint der Begriff gelegentlich auch in Deutschland weiterhin zur Beschreibung regionalen Brauchtums (Volkstum der Donauschwaben, Sorben, Friesen u. ä.).
Siehe auch
Völkische Bewegung
Quelle
Herkunft
Im Zeitalter der Aufklärung bezeichnete das Adjektiv volkstümlich meist die Kulturleistungen ungebildeter Deutscher sowie das Populäre. Die „Volksdichtung“ wurde damit von „gehobener“ Literatur, von der Kultur der Gebildeten unterschieden und teils elitär abgewertet, teils idealisiert. Der Begriff war also noch nicht an eine bestimmte Nation und bestimmte, ihr zugeschriebene Eigenarten gekoppelt.
Bei Justus Möser (1720–1794), Johann Gottfried von Herder (1744–1803), Johann Georg Hamann (1730–1788) und anderen deutschen Romantikern wurde der Begriff allmählich immer stärker mit Vorstellungen von einem urwüchsigen, organischen, personhaft geschlossenen und ewigen „Volkscharakter“ aufgeladen und gegen die Monarchien gewandt, die Deutschland beherrschten. Dabei grenzte schon Möser als „Vater der Volkskunde“ das Deutschtum gegen den Kosmopolitismus der Aufklärung und gegen die Französische Revolution ab.
Friedrich Ludwig Jahn („Deutsches Volksthum“[1]) gilt als Erfinder des Substantivs. Er übersetzte das Fremdwort Nation damit und bezog es auf ein „unnennbares Etwas“ in jedem Volk. Das deutsche Volkstum galt ihm wie auch Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) nun als revolutionäre Quelle der Erneuerung gegen die napoleonische Fremdherrschaft von Franzosen, aber auch gegen Dynasten und Kirche. Dies hatte mit dem aufklärerischen Wortgebrauch immer weniger gemein.[2]
Kaiserreich
Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 erfüllte als Kleindeutsche Lösung unter Vorherrschaft Preußens nur einen Teil der Ziele deutscher Nationalisten, die sich die Einigung aller Deutschsprachigen in einem gemeinsamen Nationalstaat gewünscht und dafür gekämpft hatten.
Umso mehr wurde der Volkstumsbegriff nun Bestandteil einer nationalistischen Ideologie und politischen Propaganda. Er diente vielfach als patriotisches Bindemittel, um die realen Gegensätze innerhalb wie außerhalb des Deutschen Kaiserreichs zu überdecken oder visionär zu überwinden: etwa indem ein Volkstumskampf, ein agrarisch-korporativer Volkskörper oder eine ideale Volksgemeinschaft als entscheidende Merkmale des Volkstums beschworen wurden, die es tatsächlich nicht gab. Damit wurde der Begriff zum einen zu einem begrifflich unbestimmbaren irrationalen, vorbewussten Einheitsgefühl, zum anderen konnte er so nicht nur gegen äußere, sondern auch „innere Reichsfeinde“ gewendet werden.[3]
Während die Brüder Grimm Gemeinschaft und Gesellschaft noch nicht unterschieden hatten, stellte Ferdinand Tönnies (1855–1936) sie in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft 1887 einander ausschließend gegenüber: Er definierte die „Gemeinschaft“ als eine Form gegenseitiger Bejahung der Menschen, in der sie sich selber als ihr Mittel, ihre jeweilige Gemeinschaften (z. B. ihre Familie) aber als Zweck verstünden – gegenüber der gegenseitigen Bejahungsform „Gesellschaft“, bei der der Einzelne sich selbst als Zweck, die jeweilige Gesellschaft (z. B. eine Aktiengesellschaft) aber als sein Mittel ansehe. Ersteres werde von Kind auf als „das dauernde und echte“ gegenüber dem „vorübergehenden und scheinbaren Zusammenleben“ der Gesellschaft empfunden. Dies richtete sich auch gegen den Marxismus der Sozialdemokratie, deren „wissenschaftlich“ begründetes Ideal der klassenlosen Gesellschaft er für in der Wirklichkeit undurchführbar hielt. Einem Konzept wie „Volksgemeinschaft“ stand er äußerst skeptisch gegenüber, im politischen Bereich hielt er die antike Polis bzw. die mittelalterliche Hansestadt für die ausgeprägteste Form eines vergemeinschafteten Volkes, in der fortgeschrittenen Neuzeit kaum mehr für erwartbar.[4]
Während des Krieges wurde das „deutsche Volkstum“ bzw. „Deutschtum“ dann besonders an den Hochschulen nochmals im Sinne eines Chauvinismus übersteigert. In den Deutschen Reden in schwerer Zeit von 35 Berliner Professoren war viel von „Entartung“ und „Ausländerei“ die Rede; der Weltkrieg wurde als „Reinigungsbad“ und „Brunnenstube einer neuen Kultur“ gedeutet. Gustav Roethe z. B. sah aus dem Massenmorden die „Flamme heiligen Glaubens an die weltgeschichtliche Sendung des deutschen Volkes gegen Barbarei und Überkultur“ aufsteigen.
Weimarer Republik
Nach der Kriegsniederlage und der mit blutigem Bürgerkrieg beendeten Novemberrevolution gewann der Volkstumsbegriff den Charakter einer Utopie, die die Sehnsucht nach einer vermeintlichen ursprünglichen, nun zerstörten Einheit ausdrückte. Paul de Lagarde, der deutsches Volkstum bereits seit 1890 mit einer angeblichen arischen Rasse verknüpft hatte, klagte nach 1918: Das deutsche Volk, „welches wir lieben und zu sehen begehren, hat nie existiert und wird vielleicht nie existieren.“
So trauerte auch der Österreicher Hugo von Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen darüber, dass das deutsche Volkstum „seine Ganzheit und die Geisteselite ihre Nähe zum Volk ebenso endgültig verloren habe wie das Paradies.“
In der Jugendbewegung der 1920er Jahre fand das Volkstumsideal einen apolitischen Ausdruck unter Rückgriff auf romantische Traditionen. Das Gemeinschaftserlebnis sollte die Zerrissenheit und Differenzierung der industriellen Massengesellschaft und ihrer anonymen Staatsinstitutionen, auf die man kaum Einfluss zu haben glaubte, kompensieren.
Im entstehenden deutschen Faschismus wurde das einheitliche, die individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung aufhebende Volkstum dann erneut zur politischen Aktionsforderung mit dem Ziel einer Nationalen Revolution. Hans Freyer schrieb 1925 in Revolution von Rechts:[5]
„Hier wird Volk mehr als das große unmittelbare Dasein, aus dem die Bildungen der Geschichte aufsteigen, mehr als der geheimnisvolle Grund, in dem wir alle wurzeln. Hier wird Volk zu einer Auslese und zu einem kategorischen Imperativ. Es wird zur Front aller wahrhaft revolutionären Kräfte, zur Front gegen das Prinzip der industriellen Gesellschaft.“
Er verband dies mit dem Ruf nach dem Führerprinzip:
„Der Führer schafft das eine klassenlose, aber vielschichtige, herrschaftsfreie, aber streng gefügte Gebilde des Volkes. Volk sein heißt Volk werden, unter des Führers Hand.“
Wilhelm Stapel erklärte die Ansicht Hegels, wonach die Menschen ihr Volkstum allmählich zugunsten der Einigung in der gemeinsamen Menschheit überwinden müssten, in Antisemitismus und Antigermanismus 1928 für „wunderliches Fehldenken, vor welchem nur der gesichert ist, der Sinn für Wirklichkeit hat“.[6]
Der Friedensvertrag von Versailles schloss deutsche Ansprüche auf durch den Krieg verlorene Gebiete zunächst aus. Doch in der Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung fanden „völkische“ Nachwuchshistoriker wie Walter Frank, Hermann Aubin, Hans Rothfels, Werner Conze, Theodor Schieder, der Agrar- und Bevölkerungswissenschaftler Theodor Oberländer u.a. ein Betätigungsfeld. Sie konstruierten abseits der Universitäten, wo solche Versuche kaum Interesse fanden, eine „Volksgeschichte“, die sich Fragen der ethnischen Zugehörigkeit von „Volksdeutschen“ widmete und damit aktiv an der Revisionspolitik bereits der Weimarer Zeit teilnahm. Hier wurden Konzepte von „Volkstum“ mit „Volksboden“ und „Lebensraum“ verbunden, „Umsiedlungs“- und „Eindeutschungs“-Pläne entwickelt.
Seit 1929 traten dieser Forscherkreis auch offen für die „Nationale Revolution“ und für einen Politikwechsel zur ethnischen Neuordnung Europas ein. Dabei bestimmten sie – auch auf zwei Historikertagen – weite Teile Osteuropas als Zone germanisch-deutscher Kulturausstrahlung.
Zeit des Nationalsozialismus
Im Nationalsozialismus wurde Volkstum aggressiv gedeutet. Adolf Hitler setzte in Mein Kampf Volkstum mit Rasse gleich, „da das Volkstum, besser die Rasse, eben nicht in der Sprache liegt, sondern im Blute.“[7]
Nach der „Machtergreifung“ verbanden sich verschiedene völkisch und volkstumspolitisch orientierte inner- und außeruniversitäre Fachbereiche zu fächerübergreifenden „Forschungsgemeinschaften“. Besonders die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), in der auch die „Volksgeschichte“ und die „Ostforschung“ integriert waren, verband sich eng mit NS-Staat und NSDAP. Ihre zuvor als Spezialdisziplinen betrachteten Programme bekamen staatliche Rückendeckung und Entfaltungsmöglichkeiten. Der Begriff des „eigenständigen Volkstums“ wurde in „Volksgenossen“ und zu entfernende „Volksfeinde“ unterteilt; damit wurde die zuvor konzipierte Revisionspolitik stärker auf rassistische und kriegerische Lösungen hin orientiert. Nationalsozialisten schalteten die wichtigen Organisationen Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland und Deutsches Ausland-Institut in Stuttgart gleich.
Vor allem der preußische Archivar Albert Brackmann befürwortete und leitete die Gleichschaltung der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Diese lenkte zentral die ostdeutsche Geschichtswissenschaft und kontrollierte zahlreiche Projekte zu Fragen der Grenzziehung und Bevölkerungspolitik. Die Königsberger Nachwuchshistoriker unterstützten die Ostpolitik der NSDAP, die selber noch keine akademische Elite herausgebildet hatte. Nach 1937 wurde die vereinte Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft endgültig als Großforschungseinrichtung staatlich gefördert. Denn für die nationalsozialistische „Volkstumspolitik“ in den ab 1939 eroberten Gebieten Osteuropas waren die Fachkenntnisse der Volkstumshistoriker über „Volksgruppen“ maßgebend. Diese verfassten in staatlichem Auftrag zahlreiche Karten und Statistiken, die dem NS-Planungsstab als Grundlage seiner Siedlungs- und Bevölkerungspolitik in Polen, dem Baltikum, der Ukraine und Weißrussland dienten.
Die von den Volkstumshistorikern propagierte und legitimierte Politik der „Eindeutschung“, die sogenannte Deutschstämmige als kulturell und ethnisch überlegen ansah, begünstigte auch den Holocaust, auch wenn sie diesen nicht konzipierten und daran nicht direkt beteiligt waren.[8][9]
Seit 1945
Nach 1945 wurde der Begriff in seinem politischen Sinn in Deutschland als Ausdruck nationalistischer Ideologie vermieden und durch Begriffe wie „Bevölkerung“ ersetzt. In Gesetzen zur Volkszugehörigkeit findet der Begriff allerdings nach wie vor Verwendung. Nach § 6 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ist das Bekenntnis zum deutschen Volkstum Voraussetzung für die Zurechnung der deutschen Volkszugehörigkeit.[10] Bertolt Brecht formulierte die Abkehr vom Begriff des Volkstums so: Das Volk ist nicht tümlich. In der DDR sollte der Begriff „Volk“ – ohne „-tum“ – die angebliche Übereinstimmung der Bevölkerung mit der SED und dem Staat ausdrücken, etwa in den Wortkombinationen Volksdemokratie, Volkspolizei, Volksarmee. Dagegen richtete sich später die Parole der Opposition „Wir sind das Volk“.
In Österreich ist der Begriff nur noch in einzelnen juristischen Texten gebräuchlich, etwa im Volksgruppengesetz 1976[11] zur Definition des Begriffs Volksgruppe im Sinne von nationale Minderheit, entsprechend dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats. In der Alltagssprache kommt er nicht mehr vor.
Der Gesetzgeber der Schweiz erklärt Volkstum bei der Ratifikation des Rahmenübereinkommens als „von dem Willen beseelt […], zusammen das zu bewahren, was ihre gemeinsame Identität ausmacht, insbesondere ihre Kultur, ihre Traditionen, ihre Religion oder ihre Sprache.“[12] In Sinne dieser gesetzlichen Regelungen wird Volkstum heute primär als Ausdruck der Selbstwahrnehmung einer Bevölkerungsgruppe verwendet.
Im volkskundlichen Sinn erscheint der Begriff gelegentlich auch in Deutschland weiterhin zur Beschreibung regionalen Brauchtums (Volkstum der Donauschwaben, Sorben, Friesen u. ä.).
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