Der Edle Wilde
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Der Edle Wilde
Der Edle Wilde ist ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen. Das Konzept drückt die Vorstellung aus, dass der Mensch ohne Bande der Zivilisation von Natur aus gut sei. Er ist bis heute ein beliebter Topos kulturkritischer Autoren. In der modernen Ethnologie gilt der Begriff der Edlen Wilden als längst überholte These.[1]
Nach der europäischen Entdeckung und Eroberung Amerikas hatte dieser Gedanke einigen Zulauf, den besonders Alonso de Ercilla y Zúñiga in seinem Epos La Araucana (um 1570) ausdrückte. Hundert Jahre später griff John Dryden diese Idee wieder auf, und insbesondere in der Romantik fand diese Vorstellung erneut Anklang. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau ist einer ihrer prominenten Vertreter.
Bezüge finden sich im Unschuldszustand im biblischen Garten Eden vor dem Sündenfall, im griechischen Mythos des goldenen Zeitalters sowie der Insel der Seligen der griechischen Mythologie. Anders als die Vorstellung vom „edlen Wilden“ verorten diese mythologischen Überlieferungen das prä–zivilisatorische „goldene Zeitalter“ jedoch in einem vergangenen Weltzeitalter und nicht bei heute existierenden sogenannten „Naturvölkern“. Während in traditionellen mythologischen Weltbildern die Abfolge der Weltzeitalter gewöhnlich als Abstieg und eine Verschlechterung gesehen wird, verwarfen die Entwickler des modernen aufklärerisch-evolutionistischen Weltbilds diese traditionelle Sicht der Dinge und kehrten sie um, indem sie Geschichte als permanente Höherentwicklung aus einem keineswegs paradiesischen, sondern „rohen“ Urzustand beschrieben.
Oroonoko ersticht Imoinda – Illustration für eine Inszenierung von Aphra Behns Roman Oroonoko oder Der königliche Sklave von Thomas Southerne im Jahre 1776
Entwicklung
Die Vorstellung vom „Edlen Wilden“ setzt das Aufeinandertreffen einer „Zivilisations-“ mit einer „Naturgesellschaft“ voraus. Eine solche Situation bestand während der Expansionszeit europäischer Mächte (Spanien, Portugal, Frankreich, England, Niederlande) seit Ende des 15. Jahrhunderts. Die entstehende Kolonialisierung in Afrika, Asien, Amerika und im Pazifik führte zur Vereinnahmung der dortigen Kulturen in den Machtbereich der Eroberer.
Trotz Anerkennung der kolonialisierten Völker als Menschen gab es keinerlei Bestreben, ihnen gleiche politische oder wirtschaftliche Rechte zu gewähren. Es entstand eine Klassifizierung dieser Menschen als „primitiv“ oder „wild“, die indirekt eine Ungleichbehandlung (Zwei-Klassen-Gesellschaft), Unterdrückung (Sklaverei) oder kulturelle oder physische Ausrottung rechtfertigte.
Die Idee des „Edlen Wilden“ mag einerseits einen Versuch zur Aufhebung der Ungleichbehandlung darstellen. Der wirtschaftlichen und politischen Unterlegenheit wurde eine moralische Überlegenheit gegenübergestellt. Andererseits mag der „Edle Wilde“ als Gegenentwurf zur eigenen korrupten Gesellschaft gedient haben (vgl. Tacitus Germania). Auch blieb er trotz Allem ein „Wilder“, der in seiner ihm zugeschriebenen „Ursprünglichkeit“ als auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als der europäische „Kulturmensch“ stehend betrachtet wurde.
Auch heute beeinflusst die Vorstellung vom „Edlen Wilden“ die politische Auseinandersetzung, wie etwa beim Umgang der Industriegesellschaft mit dem Lebensraum indigener Völker (Tropischer Regenwald, Aborigines in Australien). Steven Pinker kritisierte die Vorstellung in Das Unbeschriebene Blatt (2002).
In der Literatur
Der von Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk Discours sur l'inégalité postulierte Naturzustand des Menschen wird im Allgemeinen als Ursprung dieses idealisierten Menschenbildes gewertet.
Im Jahr 1771 erschien Louis Antoine de Bougainville ausführlicher Reisebericht seiner Weltumsegelung, Voyage autour du monde par la frégate du roi La Boudeuse et la flûte L'Étoile. In diesem Bericht stellte der Aufenthalt in Tahiti seine interessanteste Station dar, hier treffen die europäische Zivilisation mit der Kultur der Tahitianer zusammen, den edlen oder guten Wilden. Friedrich Melchior Grimm, damals federführend für die Correspondance littéraire, philosophique et critique verantwortlich, bat Denis Diderot, eine Buchbesprechung des Bougainville´schen Reisebericht zu verfassen. Diderot entsprach diesem Wunsch, arbeitete aber die Rezension noch weiter aus zu einem Essay, Supplément au voyage de Bougainville 1771.[2]
Die Lederstrumpfromane von James Fenimore Cooper sind eines der ersten bekannten Werke, die das Konzept des edlen Wilden literarisch verarbeiteten. In ihnen wird es unter anderem durch die beiden Mohikaner Chingachgook und seinen Sohn Uncas verkörpert. Insbesondere letzterer gilt als klassisches Beispiel des edlen Wilden in der Literatur.[3][4]
In Mary Shelleys Frankenstein verkörpert das Monster das Idealbild. Der Wilde Westen Karl Mays sieht die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse vielfach als die Auseinandersetzung des edlen Wilden (v.a. verkörpert in der Figur des Apatschen-Häuptlings Winnetou) mit dem von der Zivilisation korrumpierten Wilden (etwa dessen Gegenspieler Tangua). In seiner Reiseerzählung "Am Rio de la Plata" (Bd. 12 der Gesammelten Werke des Bamberger Karl-May-Verlags) breitet der Verfasser durch eine quasi-wissenschaftliche Argumentation das Gegensatzpaar des edlen (nordamerikanischen) und des durch ethnische "Vermischung" verdorbenen, unedlen südamerikanischen Indianers aus.
Schöne neue Welt (1932) von Aldous Huxley ist eine modernere Bearbeitung des Themas.[5]
Assoziierte Eigenschaften
Die Vorstellung des „Edlen Wilden“ ist idealisiert und nicht durch gesellschaftswissenschaftliche Studien bestätigt. Gleichwohl werden „Naturmenschen“ und „-völkern“ aus einer exotistischen Haltung heraus oft folgende Eigenschaften zugeschrieben:
Ein Leben im Einklang mit der Natur;
Eine Gesellschaft ohne Verbrechen;
Vollständige Autonomie;
Unschuld und Idylle;
Abwesenheit des Lügens;
Gesundheit;
Ethische Integrität;
Sexuelle Freizügigkeit.
Quelle
Nach der europäischen Entdeckung und Eroberung Amerikas hatte dieser Gedanke einigen Zulauf, den besonders Alonso de Ercilla y Zúñiga in seinem Epos La Araucana (um 1570) ausdrückte. Hundert Jahre später griff John Dryden diese Idee wieder auf, und insbesondere in der Romantik fand diese Vorstellung erneut Anklang. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau ist einer ihrer prominenten Vertreter.
Bezüge finden sich im Unschuldszustand im biblischen Garten Eden vor dem Sündenfall, im griechischen Mythos des goldenen Zeitalters sowie der Insel der Seligen der griechischen Mythologie. Anders als die Vorstellung vom „edlen Wilden“ verorten diese mythologischen Überlieferungen das prä–zivilisatorische „goldene Zeitalter“ jedoch in einem vergangenen Weltzeitalter und nicht bei heute existierenden sogenannten „Naturvölkern“. Während in traditionellen mythologischen Weltbildern die Abfolge der Weltzeitalter gewöhnlich als Abstieg und eine Verschlechterung gesehen wird, verwarfen die Entwickler des modernen aufklärerisch-evolutionistischen Weltbilds diese traditionelle Sicht der Dinge und kehrten sie um, indem sie Geschichte als permanente Höherentwicklung aus einem keineswegs paradiesischen, sondern „rohen“ Urzustand beschrieben.
Oroonoko ersticht Imoinda – Illustration für eine Inszenierung von Aphra Behns Roman Oroonoko oder Der königliche Sklave von Thomas Southerne im Jahre 1776
Entwicklung
Die Vorstellung vom „Edlen Wilden“ setzt das Aufeinandertreffen einer „Zivilisations-“ mit einer „Naturgesellschaft“ voraus. Eine solche Situation bestand während der Expansionszeit europäischer Mächte (Spanien, Portugal, Frankreich, England, Niederlande) seit Ende des 15. Jahrhunderts. Die entstehende Kolonialisierung in Afrika, Asien, Amerika und im Pazifik führte zur Vereinnahmung der dortigen Kulturen in den Machtbereich der Eroberer.
Trotz Anerkennung der kolonialisierten Völker als Menschen gab es keinerlei Bestreben, ihnen gleiche politische oder wirtschaftliche Rechte zu gewähren. Es entstand eine Klassifizierung dieser Menschen als „primitiv“ oder „wild“, die indirekt eine Ungleichbehandlung (Zwei-Klassen-Gesellschaft), Unterdrückung (Sklaverei) oder kulturelle oder physische Ausrottung rechtfertigte.
Die Idee des „Edlen Wilden“ mag einerseits einen Versuch zur Aufhebung der Ungleichbehandlung darstellen. Der wirtschaftlichen und politischen Unterlegenheit wurde eine moralische Überlegenheit gegenübergestellt. Andererseits mag der „Edle Wilde“ als Gegenentwurf zur eigenen korrupten Gesellschaft gedient haben (vgl. Tacitus Germania). Auch blieb er trotz Allem ein „Wilder“, der in seiner ihm zugeschriebenen „Ursprünglichkeit“ als auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als der europäische „Kulturmensch“ stehend betrachtet wurde.
Auch heute beeinflusst die Vorstellung vom „Edlen Wilden“ die politische Auseinandersetzung, wie etwa beim Umgang der Industriegesellschaft mit dem Lebensraum indigener Völker (Tropischer Regenwald, Aborigines in Australien). Steven Pinker kritisierte die Vorstellung in Das Unbeschriebene Blatt (2002).
In der Literatur
Der von Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk Discours sur l'inégalité postulierte Naturzustand des Menschen wird im Allgemeinen als Ursprung dieses idealisierten Menschenbildes gewertet.
Im Jahr 1771 erschien Louis Antoine de Bougainville ausführlicher Reisebericht seiner Weltumsegelung, Voyage autour du monde par la frégate du roi La Boudeuse et la flûte L'Étoile. In diesem Bericht stellte der Aufenthalt in Tahiti seine interessanteste Station dar, hier treffen die europäische Zivilisation mit der Kultur der Tahitianer zusammen, den edlen oder guten Wilden. Friedrich Melchior Grimm, damals federführend für die Correspondance littéraire, philosophique et critique verantwortlich, bat Denis Diderot, eine Buchbesprechung des Bougainville´schen Reisebericht zu verfassen. Diderot entsprach diesem Wunsch, arbeitete aber die Rezension noch weiter aus zu einem Essay, Supplément au voyage de Bougainville 1771.[2]
Die Lederstrumpfromane von James Fenimore Cooper sind eines der ersten bekannten Werke, die das Konzept des edlen Wilden literarisch verarbeiteten. In ihnen wird es unter anderem durch die beiden Mohikaner Chingachgook und seinen Sohn Uncas verkörpert. Insbesondere letzterer gilt als klassisches Beispiel des edlen Wilden in der Literatur.[3][4]
In Mary Shelleys Frankenstein verkörpert das Monster das Idealbild. Der Wilde Westen Karl Mays sieht die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse vielfach als die Auseinandersetzung des edlen Wilden (v.a. verkörpert in der Figur des Apatschen-Häuptlings Winnetou) mit dem von der Zivilisation korrumpierten Wilden (etwa dessen Gegenspieler Tangua). In seiner Reiseerzählung "Am Rio de la Plata" (Bd. 12 der Gesammelten Werke des Bamberger Karl-May-Verlags) breitet der Verfasser durch eine quasi-wissenschaftliche Argumentation das Gegensatzpaar des edlen (nordamerikanischen) und des durch ethnische "Vermischung" verdorbenen, unedlen südamerikanischen Indianers aus.
Schöne neue Welt (1932) von Aldous Huxley ist eine modernere Bearbeitung des Themas.[5]
Assoziierte Eigenschaften
Die Vorstellung des „Edlen Wilden“ ist idealisiert und nicht durch gesellschaftswissenschaftliche Studien bestätigt. Gleichwohl werden „Naturmenschen“ und „-völkern“ aus einer exotistischen Haltung heraus oft folgende Eigenschaften zugeschrieben:
Ein Leben im Einklang mit der Natur;
Eine Gesellschaft ohne Verbrechen;
Vollständige Autonomie;
Unschuld und Idylle;
Abwesenheit des Lügens;
Gesundheit;
Ethische Integrität;
Sexuelle Freizügigkeit.
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