Der Animismus
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Der Animismus
Der Begriff Animismus (von griechisch ἄνεμος ‚Wind‘, ‚Hauch‘ wie lateinisch animus,[1] als anima später in religiösen Zusammenhängen auch Seele[2] oder Geist) hat bzw. hatte in den Religionswissenschaften und der Ethnologie drei unterschiedliche Bedeutungen:
Grundsätzlich steht der unscharfe Fachbegriff Animismus für die spirituell-religiösen Vorstellungen einer Allbeseeltheit, die vor allem in den ethnischen Religionen eine große Rolle spielt: Jeglichen oder bestimmten Objekten der Natur wird eine „persönliche“ Seele oder ein innewohnender Geist zugesprochen.[3]
In Zusammenhang mit dem heute überholten Evolutionismus war der Animismus eine religionswissenschaftliche Theorie, nach der dieser Glaube entweder das älteste oder zumindest eines der ältesten Phänomene religiöser Vorstellungen des Menschen sei.[3]
Im umgangssprachlichen und im theologischen Gebrauch wird der Begriff Animismus als Synonym für alle ethnischen Religionen verwandt. Kritiker betrachten diesen Sprachgebrauch als pejorativ (abwertend)[3] und weisen auf die Verwechslungsgefahr mit der überholten Animismus-Theorie hin.[4][5]
Die Bezeichnung Animismus wurde im Rahmen der Forschungen von Edward Burnett Tylor 1871 in seinem Werk Primitive Culture, Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom zur Bezeichnung bestimmter Geister- und Seelenvorstellungen bestimmter Völker (angeblich) früher gesellschaftlicher Entwicklungsstufen eingeführt.
Animistische Religiosität und Spiritualität („Allbeseeltheit“)
„Flüstere zu den Felsen, in dem versteckten lauscht etwas, nimmt das Wort entgegen, führt es weiter und vollendet es.“
– Ailo Gaup (Same)[6]
Werden Objekte der Natur – Tiere (bisweilen auch ganzen Tierarten), Pflanzen, Quellen, Felsen, Berge uvm. – als beseelt betrachtet, so spricht man im ethnoreligiösen Fachjargon von animistischen Auffassungen.[3] In vielen Kulturen werden solche „inneren Wesen“ der Menschenseele gleichgesetzt, während die äußere Erscheinung nicht mehr ist als das real Wahrgenommene. In Reinform sind solche Ideen vor allem bei Jäger-Sammler-Kulturen verbreitet.
„Animisten“ betrachten jeden noch so kleinen Teil der Welt, der von ihnen als beseelt aufgefasst wird, als einen Ehrfurcht gebietenden Kosmos, der der Seele der mosaischen Religionen vergleichbar ist. Für sie ist die spirituelle Welt die eigentliche Realität.
Obwohl es keine einheitlichen animistischen Vorstellungen gibt, lassen sich doch einige wesentliche Merkmale aufzeigen, die im Allgemeinen vorkommen. So ist dem animistischen Denken jeder religiöse Überbau fremd. „Heilig“ im Sinne von „respektgebietend“, aber auch „respektfordernd“, sind Erscheinungen der natürlichen Umwelt in den meisten Ausprägungen: In jedem beseelten Stein, jeder -Pflanze, jedem -Tier und jedem -Menschen, auch an jedem -Ort entwickelt „Lebenskraft“ einen eigenen Willen, der natürlichen Regeln folgt.
Die Vorstellung der Beseeltheit der Objektwelt ist auch im japanischen Volksglauben noch zu finden: Gebrauchs- und Alltagsgegenstände und vor allem weggeworfene Dinge können zum Leben erwachen und dann als Tsukumogami mehr oder weniger harmlose Verwirrung anrichten.
Typische Kennzeichen von Glaubenssystemen mit einer animistischen Basis sind:
das Fehlen von allmächtigen, monotheistischen Göttern, obgleich es meist ein „höchstes Wesen“ (oftmals einen Herren der Tiere) gibt.[7]
das Fehlen von Metaphysik: Es sind gerade unmittelbare Naturerscheinungen, die selbst beseelt sind, und mit denen der Mensch auf verschiedene Weise kommunizieren kann.
die Diesseitsorientierung und das daraus resultierende Verhalten hat in erster Linie die Sicherung der Existenz im Diesseits zum Ziel.
die Vorstellung, dass der Mensch einen Körper und mindestens eine Seele hat, die in gewisser Unabhängigkeit vom Menschen existiert. Sie ist ein zweites Ich des Menschen in der geistigen Welt. Verlässt dieses geistige Doppel den Menschen dauerhaft, wird er krank, schwach und kann sterben. Der Mensch lebt also in zwei Welten gleichzeitig, nach dem Tod des Körpers nur noch in der jenseitigen Welt.[8]
Die religionswissenschaftliche Animismus-Theorie
Die Theorie vom Animismus als umfassender „Urreligion“ ist heute nur noch ein wissenschaftshistorisch relevantes Konzept.
Eingeführt wurde der Begriff 1871 von dem Anthropologen Edward Burnett Tylor. Nach Tylor ist Animismus die früheste von Menschen entwickelte Form der Religion. Grundvoraussetzung war nach seiner Vorstellung die Idee einer persönlichen, leibunabhängigen, frei beweglichen Seele (→ Freiseele), die zwangsläufig auch den Glauben an eine Weiterexistenz nach dem Tod, Wiedergeburt u. ä. einschloss. Obwohl die Ethnographie ein breites Spektrum an voneinander abweichenden Darstellungen belegt, vereinheitlichte Tylor diese Ideen und schrieb zudem auch leblosen Geräten und Gütern prinzipiell eine „Gegenstandsseele“ zu. Er schlussfolgerte, dass sich daraus zuerst noch objektgebundene, später freie, übergeordnete Geister und schließlich die Götter entwickelt haben sollen, um zuletzt in der zentralen Gestalt eines einzigen Gottes oder in einem allgemeinen Pantheismus aufzugehen.[3]
Die Menschen hätten nach Tylor ihre frühesten Gesellschaftssysteme auf den Animismus gebaut, um zu erklären, warum Dinge geschehen. Als er dies veröffentlichte, galt seine Theorie als politisch radikal, weil sie Völkern ohne Buchreligion zugestand, tatsächlich eine Religion zu haben.
Neben Tylor entwickelten Herbert Spencer und John Lubbock die Theorie, der Glaube an Seelen und Geister sei die Vorstellung aller ursprünglichen religiösen Vorstellungen: Der „primitive“ Mensch in einer relativ frühen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufe habe aus den Erfahrungen in seiner Umwelt abgeleitet, dass er etwas habe, das seinen Leib bei Krankheit, Traum und Schlaf zeitweilig und im Tod endgültig verlasse: die Seele.
Spätere Abstraktionsstufen hätten daraus Geister entwickelt, Seelen von Toten, von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, die in relativer Selbständigkeit auf das Leben des Menschen einwirken und deren Verhalten der Mensch durch rituelle Kontaktaufnahme beeinflussen können. Weitere Abstraktion habe daraus die Vorstellung von Göttern und schließlich von einer monistischen Gottesvorstellung hervorgebracht. Diese evolutionistische Theorie der Entstehung religiöser Vorstellungen, der zufolge der Glaube an Geister das unbedingt notwendige Durchgangsstadium aller religionsphilosophischen Entwicklungen – sozusagen das „Minimum der Religionsvorstellung“ – sei, wurde zwischen 1905 und 1909 mit philosophischen und psychologischen Argumenten von Wilhelm Wundt untermauert: durch Einfühlung projiziere der Mensch das eigene Ich auf die Objekte (Leib-Seele, wobei die Seelenvorstellung das Prinzip des Lebens sei).
Die Hoffnung des zunächst unter dem Einfluss der Romantik, später unter dem der Evolutionismus stehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, durch die Erforschung der sogenannten „Naturvölker“ zur „Urreligion“ der Menschheit vorzudringen, gilt heute allerdings als begraben. Diese Ethnien sind keine „Urvölker“ oder Vertreter einer „Urkultur“ der Menschheit, sondern Zeitgenossen, deren Geschichte im Vergleich zu Industriegesellschaften anders verlaufen ist und verläuft. Dem Inhalt nach ist uns diese Entwicklung meist unbekannt – mit Ausnahme der rezenten Perioden, also z. B. dem Niedergang von Indianerkulturen unter europäischem Einfluss –, darf aber als sehr langfristiger Wandel e silentio angenommen werden.
Das Wissen über die Anfänge religiöser Vorstellungen ist in der Religionshistorie, also der anthropologisch-prähistorischen Forschung, sehr begrenzt. Demgemäß muss auch die Hypothese eines einstmals reineren Gottesglaubens der „Urvölker“ (Urmonotheismus) als eine neben vielen anderen spekulative Option verstanden werden, ebenso alle älteren evolutionistischen Konstruktionen über Präanimismus, Animismus und Manismus. Auf Grund des Mangels von Nachweisen ist eine signifikante Weiterentwicklung von Hypothesen hin zu echtem, gefestigtem Wissen nicht zu erwarten.
Ethnologisch, religionshistorisch und entwicklungspsychologisch stehen „animistische“ und andere ethnisch-religiöse Vorstellungen nicht am Anfang der Entwicklung, sondern sie sind jüngere und abgeleitete Phänomene. Bereits der Ethnologe Wilhelm Schmidt erkannte dies und stellte die Theorie auf, nach der es gerade umgekehrt sei: Am Anfang stand der Monotheismus, wie er im Judentum, Christentum und im Islam gelehrt wird. Daraus entwickelte sich ein Oligotheismus (der Glaube an die Alleinherrschaft eines Gottes unter Vielen), aus dem wiederum ein Polytheismus hervorging, der sich schließlich zu einem Animismus wandelte. In der einschlägigen Literatur ist dieser Ansatz als Degenerationshypothese bekannt.[9] Jedoch auch diese Theorie wird heute als viel zu stark abstrahiert abgelehnt.
Auch von klerikaler Seite wurde die Animismustheorie kritisiert, da man in ihr einen Angriff auf den Ausschließlichkeitsanspruch der übernatürlichen christlichen Offenbarungslehre sah. Diese Kritik formulierte zunächst vor allem Andrew Lang,[10] später besonders Wilhelm Schmidt mit seiner Theorie des Urmonotheismus.[11]
Präanimismus
→ Hauptartikel: Präanimismus
Die Kritik an den Animismustheorien (im Sinne einer "Urreligion") durch die Philosophie, Teile der Religionswissenschaften und der Ethnographie führte auch zur Formulierung präanimistischer Auffassungen, also der Annahme einer magischen Kraft (bei J. Frazer, 1890), einer unpersönlichen Kraft (bei J. Hewitt, 1902), eines Glaubens des „primitiven“ Menschen an die Beseeltheit der gesamten Natur (bei Wladimir Germanowitsch Bogoras, 1904), die erst vorhanden gewesen sein müsse, um die vom Animismus skizzierte Entwicklung der religiösen Vorstellungen auszulösen und zu ermöglichen. Obwohl diese Kritik keine eigene weitergehende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der religiösen Vorstellung gab, wurden doch dabei auch Emotionen, Affekte, unbewusste Impulse mit in die Betrachtung einbezogen, soweit sie zu Gewohnheiten und rituellen Handlungen geworden waren und obwohl ihnen erst viel später eine religiöse Deutung unterlegt wurde.
Vertreten wurde diese Auffassung vor allem von K. Preuss (1904), A. Vierkandt (1907) und R. Marett (1899), der den Begriff Präanimismus prägte, ferner von Ernst Cassirer und Rudolf Otto, der bereits 1910 die Wundtsche Version des Animismus einer prinzipiellen Kritik unterzogen hatte.
Auch diese Theorien sind heute obsolet.
Animismus als Synonym für ethnische Religion
→ Hauptartikel: Ethnische Religion
„Animismus ist keine ‚Religion‘, keine ‚Kirche‘, keine ‚Sekte‘, keine ‚Bewegung‘. Es ist Richtung, eine Tendenz, ein Aufzeigen, ein Gefühl, und das ist gut so, denn sobald eine ‚Religion‘ einen Namen, eine Struktur, ein festes Glaubensbekenntnis hat, ist sie wahrscheinlich gar keine Religion mehr.“
– Jack D. Forbes, indigener US-amerikanischer Historiker[12]
Heute wird der Begriff Animismus umgangssprachlich und vor allem in Zusammenhang mit theologischen Schriften häufig als synonyme Bezeichnung für die schriftlosen ethnischen Religionen verwendet. Die meisten Autoren, die den Begriff in dieser Weise verwenden, weisen jedoch Tylors Animismustheorie zurück. In den meisten Fällen stellen sie ihren Arbeiten daher eine eigene Definition ihres Animismus voran. So etwa der evangelische Theologe Rainer Neu[13] oder der evangelikale Religionsethnologe Lothar Käser.[14]
Weltlich orientierte Ethnologen hingegen sehen auch diese Verwendung kritisch, da Animismus nur ein Teilaspekt ethnischer (und anderer) Religionen ist und eine Verallgemeinerung zu Missverständnissen führen würde. Zudem stelle sich der Animismus gleichermaßen als religiöser Aspekt wie als Regelwerk des Aufbaus der Soziokultur und auch als mythische Welterklärung in jeder Kultur anders dar.[3][4] Überdies könne er durch den Bezug zur überholten Animismustheorie als Relikt evolutionistischer Sichtweisen aufgefasst werden.[5] Eine „-ismus-Bildung“ kann daher zur falschen Assoziation einer tatsächlich nicht vorhandenen Einheitlichkeit führen.
Für die ethnischen Religionen nord- und zentralasiatischer Völker wird der Begriff noch recht häufig verwendet (etwa Sibirischer Animismus).
Animismus in der Entwicklungspsychologie
→ Hauptartikel: Animismus (Psychologie)
Jean Piaget übernahm den Begriff Animismus aus der Ethnologie zur Klassifizierung einer kindlichen Geisteshaltung, die sich grundlegend vom Egozentrismus ableitet. Die Übernahme ist gut begründet. Auch viele Kinder besitzen ein implizites Weltverständnis solcher Art, dass sie die Welt mit Seele, Intentionen und Bewusstsein ausgestattet sehen. Animistische Kinder nehmen an, dass alles was in der Welt geschieht, aufgrund moralischer Prinzipien geschieht. Kausal-physikalische Zusammenhänge werden zu großen Teilen ausgeblendet; nicht weil das Kind sie nicht akzeptieren will, sondern es kognitiv nicht in der Lage ist, seine psychische Identität von der Außenwelt zu trennen.[15]
Die neuere Entwicklungspsychologie hat gezeigt, dass Beseelung bzw. Beseeltheit ein primäres Erlebnis der kindlichen Psyche ist, wohingegen die Abstraktion „toter“ Dinge von „lebendigen“ erst eine Leistung des herangewachsenen Menschen auf Grund des Lernens ist. Diese Entdeckung steht im Widerspruch zu Wilhelm Wundts psychologischer Begründung des Animismus, nicht das Kind, sondern der Erwachsene sei „Animist“.
Siehe auch
Animalismus
Animatismus
Hauch- oder Atemseele
Neopaganismus
Pantheismus
Totemismus
Quelle
Grundsätzlich steht der unscharfe Fachbegriff Animismus für die spirituell-religiösen Vorstellungen einer Allbeseeltheit, die vor allem in den ethnischen Religionen eine große Rolle spielt: Jeglichen oder bestimmten Objekten der Natur wird eine „persönliche“ Seele oder ein innewohnender Geist zugesprochen.[3]
In Zusammenhang mit dem heute überholten Evolutionismus war der Animismus eine religionswissenschaftliche Theorie, nach der dieser Glaube entweder das älteste oder zumindest eines der ältesten Phänomene religiöser Vorstellungen des Menschen sei.[3]
Im umgangssprachlichen und im theologischen Gebrauch wird der Begriff Animismus als Synonym für alle ethnischen Religionen verwandt. Kritiker betrachten diesen Sprachgebrauch als pejorativ (abwertend)[3] und weisen auf die Verwechslungsgefahr mit der überholten Animismus-Theorie hin.[4][5]
Die Bezeichnung Animismus wurde im Rahmen der Forschungen von Edward Burnett Tylor 1871 in seinem Werk Primitive Culture, Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom zur Bezeichnung bestimmter Geister- und Seelenvorstellungen bestimmter Völker (angeblich) früher gesellschaftlicher Entwicklungsstufen eingeführt.
Animistische Religiosität und Spiritualität („Allbeseeltheit“)
„Flüstere zu den Felsen, in dem versteckten lauscht etwas, nimmt das Wort entgegen, führt es weiter und vollendet es.“
– Ailo Gaup (Same)[6]
Werden Objekte der Natur – Tiere (bisweilen auch ganzen Tierarten), Pflanzen, Quellen, Felsen, Berge uvm. – als beseelt betrachtet, so spricht man im ethnoreligiösen Fachjargon von animistischen Auffassungen.[3] In vielen Kulturen werden solche „inneren Wesen“ der Menschenseele gleichgesetzt, während die äußere Erscheinung nicht mehr ist als das real Wahrgenommene. In Reinform sind solche Ideen vor allem bei Jäger-Sammler-Kulturen verbreitet.
„Animisten“ betrachten jeden noch so kleinen Teil der Welt, der von ihnen als beseelt aufgefasst wird, als einen Ehrfurcht gebietenden Kosmos, der der Seele der mosaischen Religionen vergleichbar ist. Für sie ist die spirituelle Welt die eigentliche Realität.
Obwohl es keine einheitlichen animistischen Vorstellungen gibt, lassen sich doch einige wesentliche Merkmale aufzeigen, die im Allgemeinen vorkommen. So ist dem animistischen Denken jeder religiöse Überbau fremd. „Heilig“ im Sinne von „respektgebietend“, aber auch „respektfordernd“, sind Erscheinungen der natürlichen Umwelt in den meisten Ausprägungen: In jedem beseelten Stein, jeder -Pflanze, jedem -Tier und jedem -Menschen, auch an jedem -Ort entwickelt „Lebenskraft“ einen eigenen Willen, der natürlichen Regeln folgt.
Die Vorstellung der Beseeltheit der Objektwelt ist auch im japanischen Volksglauben noch zu finden: Gebrauchs- und Alltagsgegenstände und vor allem weggeworfene Dinge können zum Leben erwachen und dann als Tsukumogami mehr oder weniger harmlose Verwirrung anrichten.
Typische Kennzeichen von Glaubenssystemen mit einer animistischen Basis sind:
das Fehlen von allmächtigen, monotheistischen Göttern, obgleich es meist ein „höchstes Wesen“ (oftmals einen Herren der Tiere) gibt.[7]
das Fehlen von Metaphysik: Es sind gerade unmittelbare Naturerscheinungen, die selbst beseelt sind, und mit denen der Mensch auf verschiedene Weise kommunizieren kann.
die Diesseitsorientierung und das daraus resultierende Verhalten hat in erster Linie die Sicherung der Existenz im Diesseits zum Ziel.
die Vorstellung, dass der Mensch einen Körper und mindestens eine Seele hat, die in gewisser Unabhängigkeit vom Menschen existiert. Sie ist ein zweites Ich des Menschen in der geistigen Welt. Verlässt dieses geistige Doppel den Menschen dauerhaft, wird er krank, schwach und kann sterben. Der Mensch lebt also in zwei Welten gleichzeitig, nach dem Tod des Körpers nur noch in der jenseitigen Welt.[8]
Die religionswissenschaftliche Animismus-Theorie
Die Theorie vom Animismus als umfassender „Urreligion“ ist heute nur noch ein wissenschaftshistorisch relevantes Konzept.
Eingeführt wurde der Begriff 1871 von dem Anthropologen Edward Burnett Tylor. Nach Tylor ist Animismus die früheste von Menschen entwickelte Form der Religion. Grundvoraussetzung war nach seiner Vorstellung die Idee einer persönlichen, leibunabhängigen, frei beweglichen Seele (→ Freiseele), die zwangsläufig auch den Glauben an eine Weiterexistenz nach dem Tod, Wiedergeburt u. ä. einschloss. Obwohl die Ethnographie ein breites Spektrum an voneinander abweichenden Darstellungen belegt, vereinheitlichte Tylor diese Ideen und schrieb zudem auch leblosen Geräten und Gütern prinzipiell eine „Gegenstandsseele“ zu. Er schlussfolgerte, dass sich daraus zuerst noch objektgebundene, später freie, übergeordnete Geister und schließlich die Götter entwickelt haben sollen, um zuletzt in der zentralen Gestalt eines einzigen Gottes oder in einem allgemeinen Pantheismus aufzugehen.[3]
Die Menschen hätten nach Tylor ihre frühesten Gesellschaftssysteme auf den Animismus gebaut, um zu erklären, warum Dinge geschehen. Als er dies veröffentlichte, galt seine Theorie als politisch radikal, weil sie Völkern ohne Buchreligion zugestand, tatsächlich eine Religion zu haben.
Neben Tylor entwickelten Herbert Spencer und John Lubbock die Theorie, der Glaube an Seelen und Geister sei die Vorstellung aller ursprünglichen religiösen Vorstellungen: Der „primitive“ Mensch in einer relativ frühen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufe habe aus den Erfahrungen in seiner Umwelt abgeleitet, dass er etwas habe, das seinen Leib bei Krankheit, Traum und Schlaf zeitweilig und im Tod endgültig verlasse: die Seele.
Spätere Abstraktionsstufen hätten daraus Geister entwickelt, Seelen von Toten, von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, die in relativer Selbständigkeit auf das Leben des Menschen einwirken und deren Verhalten der Mensch durch rituelle Kontaktaufnahme beeinflussen können. Weitere Abstraktion habe daraus die Vorstellung von Göttern und schließlich von einer monistischen Gottesvorstellung hervorgebracht. Diese evolutionistische Theorie der Entstehung religiöser Vorstellungen, der zufolge der Glaube an Geister das unbedingt notwendige Durchgangsstadium aller religionsphilosophischen Entwicklungen – sozusagen das „Minimum der Religionsvorstellung“ – sei, wurde zwischen 1905 und 1909 mit philosophischen und psychologischen Argumenten von Wilhelm Wundt untermauert: durch Einfühlung projiziere der Mensch das eigene Ich auf die Objekte (Leib-Seele, wobei die Seelenvorstellung das Prinzip des Lebens sei).
Die Hoffnung des zunächst unter dem Einfluss der Romantik, später unter dem der Evolutionismus stehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, durch die Erforschung der sogenannten „Naturvölker“ zur „Urreligion“ der Menschheit vorzudringen, gilt heute allerdings als begraben. Diese Ethnien sind keine „Urvölker“ oder Vertreter einer „Urkultur“ der Menschheit, sondern Zeitgenossen, deren Geschichte im Vergleich zu Industriegesellschaften anders verlaufen ist und verläuft. Dem Inhalt nach ist uns diese Entwicklung meist unbekannt – mit Ausnahme der rezenten Perioden, also z. B. dem Niedergang von Indianerkulturen unter europäischem Einfluss –, darf aber als sehr langfristiger Wandel e silentio angenommen werden.
Das Wissen über die Anfänge religiöser Vorstellungen ist in der Religionshistorie, also der anthropologisch-prähistorischen Forschung, sehr begrenzt. Demgemäß muss auch die Hypothese eines einstmals reineren Gottesglaubens der „Urvölker“ (Urmonotheismus) als eine neben vielen anderen spekulative Option verstanden werden, ebenso alle älteren evolutionistischen Konstruktionen über Präanimismus, Animismus und Manismus. Auf Grund des Mangels von Nachweisen ist eine signifikante Weiterentwicklung von Hypothesen hin zu echtem, gefestigtem Wissen nicht zu erwarten.
Ethnologisch, religionshistorisch und entwicklungspsychologisch stehen „animistische“ und andere ethnisch-religiöse Vorstellungen nicht am Anfang der Entwicklung, sondern sie sind jüngere und abgeleitete Phänomene. Bereits der Ethnologe Wilhelm Schmidt erkannte dies und stellte die Theorie auf, nach der es gerade umgekehrt sei: Am Anfang stand der Monotheismus, wie er im Judentum, Christentum und im Islam gelehrt wird. Daraus entwickelte sich ein Oligotheismus (der Glaube an die Alleinherrschaft eines Gottes unter Vielen), aus dem wiederum ein Polytheismus hervorging, der sich schließlich zu einem Animismus wandelte. In der einschlägigen Literatur ist dieser Ansatz als Degenerationshypothese bekannt.[9] Jedoch auch diese Theorie wird heute als viel zu stark abstrahiert abgelehnt.
Auch von klerikaler Seite wurde die Animismustheorie kritisiert, da man in ihr einen Angriff auf den Ausschließlichkeitsanspruch der übernatürlichen christlichen Offenbarungslehre sah. Diese Kritik formulierte zunächst vor allem Andrew Lang,[10] später besonders Wilhelm Schmidt mit seiner Theorie des Urmonotheismus.[11]
Präanimismus
→ Hauptartikel: Präanimismus
Die Kritik an den Animismustheorien (im Sinne einer "Urreligion") durch die Philosophie, Teile der Religionswissenschaften und der Ethnographie führte auch zur Formulierung präanimistischer Auffassungen, also der Annahme einer magischen Kraft (bei J. Frazer, 1890), einer unpersönlichen Kraft (bei J. Hewitt, 1902), eines Glaubens des „primitiven“ Menschen an die Beseeltheit der gesamten Natur (bei Wladimir Germanowitsch Bogoras, 1904), die erst vorhanden gewesen sein müsse, um die vom Animismus skizzierte Entwicklung der religiösen Vorstellungen auszulösen und zu ermöglichen. Obwohl diese Kritik keine eigene weitergehende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der religiösen Vorstellung gab, wurden doch dabei auch Emotionen, Affekte, unbewusste Impulse mit in die Betrachtung einbezogen, soweit sie zu Gewohnheiten und rituellen Handlungen geworden waren und obwohl ihnen erst viel später eine religiöse Deutung unterlegt wurde.
Vertreten wurde diese Auffassung vor allem von K. Preuss (1904), A. Vierkandt (1907) und R. Marett (1899), der den Begriff Präanimismus prägte, ferner von Ernst Cassirer und Rudolf Otto, der bereits 1910 die Wundtsche Version des Animismus einer prinzipiellen Kritik unterzogen hatte.
Auch diese Theorien sind heute obsolet.
Animismus als Synonym für ethnische Religion
→ Hauptartikel: Ethnische Religion
„Animismus ist keine ‚Religion‘, keine ‚Kirche‘, keine ‚Sekte‘, keine ‚Bewegung‘. Es ist Richtung, eine Tendenz, ein Aufzeigen, ein Gefühl, und das ist gut so, denn sobald eine ‚Religion‘ einen Namen, eine Struktur, ein festes Glaubensbekenntnis hat, ist sie wahrscheinlich gar keine Religion mehr.“
– Jack D. Forbes, indigener US-amerikanischer Historiker[12]
Heute wird der Begriff Animismus umgangssprachlich und vor allem in Zusammenhang mit theologischen Schriften häufig als synonyme Bezeichnung für die schriftlosen ethnischen Religionen verwendet. Die meisten Autoren, die den Begriff in dieser Weise verwenden, weisen jedoch Tylors Animismustheorie zurück. In den meisten Fällen stellen sie ihren Arbeiten daher eine eigene Definition ihres Animismus voran. So etwa der evangelische Theologe Rainer Neu[13] oder der evangelikale Religionsethnologe Lothar Käser.[14]
Weltlich orientierte Ethnologen hingegen sehen auch diese Verwendung kritisch, da Animismus nur ein Teilaspekt ethnischer (und anderer) Religionen ist und eine Verallgemeinerung zu Missverständnissen führen würde. Zudem stelle sich der Animismus gleichermaßen als religiöser Aspekt wie als Regelwerk des Aufbaus der Soziokultur und auch als mythische Welterklärung in jeder Kultur anders dar.[3][4] Überdies könne er durch den Bezug zur überholten Animismustheorie als Relikt evolutionistischer Sichtweisen aufgefasst werden.[5] Eine „-ismus-Bildung“ kann daher zur falschen Assoziation einer tatsächlich nicht vorhandenen Einheitlichkeit führen.
Für die ethnischen Religionen nord- und zentralasiatischer Völker wird der Begriff noch recht häufig verwendet (etwa Sibirischer Animismus).
Animismus in der Entwicklungspsychologie
→ Hauptartikel: Animismus (Psychologie)
Jean Piaget übernahm den Begriff Animismus aus der Ethnologie zur Klassifizierung einer kindlichen Geisteshaltung, die sich grundlegend vom Egozentrismus ableitet. Die Übernahme ist gut begründet. Auch viele Kinder besitzen ein implizites Weltverständnis solcher Art, dass sie die Welt mit Seele, Intentionen und Bewusstsein ausgestattet sehen. Animistische Kinder nehmen an, dass alles was in der Welt geschieht, aufgrund moralischer Prinzipien geschieht. Kausal-physikalische Zusammenhänge werden zu großen Teilen ausgeblendet; nicht weil das Kind sie nicht akzeptieren will, sondern es kognitiv nicht in der Lage ist, seine psychische Identität von der Außenwelt zu trennen.[15]
Die neuere Entwicklungspsychologie hat gezeigt, dass Beseelung bzw. Beseeltheit ein primäres Erlebnis der kindlichen Psyche ist, wohingegen die Abstraktion „toter“ Dinge von „lebendigen“ erst eine Leistung des herangewachsenen Menschen auf Grund des Lernens ist. Diese Entdeckung steht im Widerspruch zu Wilhelm Wundts psychologischer Begründung des Animismus, nicht das Kind, sondern der Erwachsene sei „Animist“.
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