Kinodoku über Künstler Ai Weiwei: Störenfried von Weltklasse
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Kinodoku über Künstler Ai Weiwei: Störenfried von Weltklasse
Marketing-Genie oder ernsthafter Dissident? Das bewegende Kinoporträt "Ai Weiwei - Never Sorry" zeigt, warum bei Chinas berühmtestem Künstler Event und Engagement zusammengehören - und welch großes Risiko das für ihn bedeutet.
"FUCK" steht in großen Lettern auf der Innenseite der Mauer um Ai Weiweis Anwesen in Peking, und FUCK ist auch sein künstlerischer Ansatz. Ausgestreckter Mittelfinger vor dem Tiananmen Platz, ausgestreckter Mittelfinger vor dem Weißen Haus, ausgestreckter Mittelfinger beim Gruppenfoto mit Fans, ausgestreckter Mittelfinger vom Krankenbett nach der Notoperation aus. Pubertär würden sich diese Gesten und Posen ausnehmen - ginge es Ai Weiwei dabei nicht um seine Autonomie als Künstler, um seine Menschenrechte und auch um sein Leben.
Zwei Jahre lang hat die US-Amerikanerin Alison Klayman Ai Weiwei, den berühmtesten Künstler Chinas, wenn nicht gar der Welt, mit der Kamera begleitet. Sie ist dabei, als er zwei seiner spektakulärsten Ausstellungen eröffnet: 2009 bei "So Sorry" im Münchner Haus der Kunst und 2010 bei der Bespielung der Turbine Hall der Londoner Tate Modern. Als Ai im April 2011 von der chinesischen Geheimpolizei verhaftet und für 81 Tage verschleppt wird, hat Klayman die Dreharbeiten bereits abgeschlossen. Eine Lücke entsteht in dem Film dadurch aber nicht, denn die Risiken, die Ai mit seiner Kunst, besonders aber mit seinem politischen Aktivismus eingeht, sind auch so eindringlich präsent.
Drei Antriebsfedern für Ais künstlerisch-politische Aktionen - und mittelbar auch für seinen Ruhm in der westlichen Welt - lassen sich in "Never Sorry" ausmachen. Da ist zum einen das Schicksal des Vaters, der zwar überzeugter Kommunist war, als Dichter während der Kulturrevolution aber als verdächtig galt und ins Arbeitslager musste. Historische Aufnahmen davon, wie der Vater von propagandistisch aufgepeitschten Kindern in aller Öffentlichkeit beschimpft und gedemütigt wird, gehören zu den erschütterndsten Bildern der Dokumentation.
Immer weiter twittern
Zum anderen spürt Autorin Klayman Ais Zeit im Ausland nach. Von 1981 bis 1993 studierte und arbeitete Ai in den USA, hauptsächlich in New York City. Ganz im Geiste der frühen Postpunk-Jahre nutzt Ai als Teil der ersten Generation junger Chinesen, die zur Ausbildung ins Ausland dürfen, den Aufenthalt zum persönlichen rip it up and start again. Was er in der Heimat gelernt hat, wirft er über Bord und fängt an, sich durch die Ostküsten-Kunstszene zu graben. Ob Ais radikaler Individualismus hier entsteht, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass er hier zu seiner Zuspitzung findet, denn auch von seiner vorübergehenden Wahlheimat und ihren klischierten Vorstellungen von China grenzt sich Ai deutlich ab - man denke an den Mittelfinger vor dem Weißen Haus. "Ich bin eine Marke für liberales Denken und für Individualismus", sagt er später im Film.
Aus seinem radikalen Individualismus speist sich schließlich auch sein Umgang mit den neuen Medien, speziell mit Twitter und Digitalkameras. Ebenso medientheoretisch geschult wie aufmerksamkeitsökonomisch versiert, dokumentiert Ai minutiös seine Aktionen. Er weiß um seine Popularität in China, vor allem aber im Westen, und nährt diese gezielt mit Info-Häppchen und Netz-affinen Aphorismen wie "Never retreat, retweet" (in etwa "Nie aufgeben, immer weiter twittern").
Der Frage, ob Ai Weiweis Selbstdarstellung nicht längst seine Kunst überlagert hat, entwindet sich der Film. Vielleicht reichen aber auch schon die Aufnahmen von der Installation in der Tate Modern aus, um sie zu beantworten. Für die Show "Sunflower Seeds" hat Ai 150 Tonnen Sonnenblumenkerne aus Porzellan in seiner Heimat herstellen lassen, jeder einzelne wurde handbemalt. Die Kerne verweisen auf die zum Teil prekäre Ernährungslage in China, wo sie zu den wichtigsten Nahrungsmitteln gehören. Gleichzeitig sind sie ein bissiger Kommentar zum China-Bild des Westens, der in dem Land vor allem eine riesige Kopiermaschine sieht. Nicht zuletzt sind die Massen an Porzellan-Kernen aber auch einfach ein haptisches Erlebnis, dem sich weder Kinder noch Kunstkritiker entzíehen können. Mehr Gehalt kann man von einem Kunstwerk kaum fordern.
Einsatz für die Opfer
Entscheidender für die leise Heldenverehrung, die den Film trägt, ist aber Ais unermüdlicher Einsatz für die Opfer, die während des großen Erdbebens von Sichuan 2008 sterben. Rund 70.000 Tote sind zu beklagen, viele von ihnen Kinder, die von den Trümmern ihrer mangelhaft gebauten Schulen begraben werden. Mit Hilfe zahlloser Freiwilliger macht sich Ai auf, die Namen der Kinder zu dokumentieren. Zum Schluss haben sie über 5300 Namen zusammengetragen - für die chinesischen Behörden, die nicht auf die Einhaltung von Baustandards beharrt haben, eine beschämende Liste. Als Ai sie wenige Tage vor dem ersten Jahrestag des Erdbebens online stellt, wird seine Website kurze Zeit später gesperrt.
Schlimmer noch: Als Ai nach Chengdu reist, um im Prozess gegen den Menschenrechtsaktivisten Tan Zuoren auszusagen, der sich ebenfalls für die Opfer des Erdbebens eingesetzt hat, wird Ai nachts von der örtlichen Polizei angegriffen und so lange festgehalten, bis sein Termin für die Zeugenaussage verstrichen ist. Während des Übergriffs schlägt ein Polizist Ai dessen Angaben zufolge auf den Kopf - die Spätfolgen, eine schmerzhafte und gefährliche Gehirnschwellung, kann später nur eine Notoperation in München beheben.
Zurück in Peking besucht ihn seine besorgte Mutter, die er nur schwer beruhigen kann. "Was können sie mir antun?", hatte Ai noch auf seinem Blog geschrieben, bevor er vom Netz genommen wurde. "Nichts anders als mich zu deportieren, zu entführen und einzusperren oder mich vollständig verschwinden zu lassen." Am 3. April wird er von der chinesischen Geheimpolizei deportiert, entführt und eingesperrt.
Quelle
"FUCK" steht in großen Lettern auf der Innenseite der Mauer um Ai Weiweis Anwesen in Peking, und FUCK ist auch sein künstlerischer Ansatz. Ausgestreckter Mittelfinger vor dem Tiananmen Platz, ausgestreckter Mittelfinger vor dem Weißen Haus, ausgestreckter Mittelfinger beim Gruppenfoto mit Fans, ausgestreckter Mittelfinger vom Krankenbett nach der Notoperation aus. Pubertär würden sich diese Gesten und Posen ausnehmen - ginge es Ai Weiwei dabei nicht um seine Autonomie als Künstler, um seine Menschenrechte und auch um sein Leben.
Zwei Jahre lang hat die US-Amerikanerin Alison Klayman Ai Weiwei, den berühmtesten Künstler Chinas, wenn nicht gar der Welt, mit der Kamera begleitet. Sie ist dabei, als er zwei seiner spektakulärsten Ausstellungen eröffnet: 2009 bei "So Sorry" im Münchner Haus der Kunst und 2010 bei der Bespielung der Turbine Hall der Londoner Tate Modern. Als Ai im April 2011 von der chinesischen Geheimpolizei verhaftet und für 81 Tage verschleppt wird, hat Klayman die Dreharbeiten bereits abgeschlossen. Eine Lücke entsteht in dem Film dadurch aber nicht, denn die Risiken, die Ai mit seiner Kunst, besonders aber mit seinem politischen Aktivismus eingeht, sind auch so eindringlich präsent.
Drei Antriebsfedern für Ais künstlerisch-politische Aktionen - und mittelbar auch für seinen Ruhm in der westlichen Welt - lassen sich in "Never Sorry" ausmachen. Da ist zum einen das Schicksal des Vaters, der zwar überzeugter Kommunist war, als Dichter während der Kulturrevolution aber als verdächtig galt und ins Arbeitslager musste. Historische Aufnahmen davon, wie der Vater von propagandistisch aufgepeitschten Kindern in aller Öffentlichkeit beschimpft und gedemütigt wird, gehören zu den erschütterndsten Bildern der Dokumentation.
Immer weiter twittern
Zum anderen spürt Autorin Klayman Ais Zeit im Ausland nach. Von 1981 bis 1993 studierte und arbeitete Ai in den USA, hauptsächlich in New York City. Ganz im Geiste der frühen Postpunk-Jahre nutzt Ai als Teil der ersten Generation junger Chinesen, die zur Ausbildung ins Ausland dürfen, den Aufenthalt zum persönlichen rip it up and start again. Was er in der Heimat gelernt hat, wirft er über Bord und fängt an, sich durch die Ostküsten-Kunstszene zu graben. Ob Ais radikaler Individualismus hier entsteht, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass er hier zu seiner Zuspitzung findet, denn auch von seiner vorübergehenden Wahlheimat und ihren klischierten Vorstellungen von China grenzt sich Ai deutlich ab - man denke an den Mittelfinger vor dem Weißen Haus. "Ich bin eine Marke für liberales Denken und für Individualismus", sagt er später im Film.
Aus seinem radikalen Individualismus speist sich schließlich auch sein Umgang mit den neuen Medien, speziell mit Twitter und Digitalkameras. Ebenso medientheoretisch geschult wie aufmerksamkeitsökonomisch versiert, dokumentiert Ai minutiös seine Aktionen. Er weiß um seine Popularität in China, vor allem aber im Westen, und nährt diese gezielt mit Info-Häppchen und Netz-affinen Aphorismen wie "Never retreat, retweet" (in etwa "Nie aufgeben, immer weiter twittern").
Der Frage, ob Ai Weiweis Selbstdarstellung nicht längst seine Kunst überlagert hat, entwindet sich der Film. Vielleicht reichen aber auch schon die Aufnahmen von der Installation in der Tate Modern aus, um sie zu beantworten. Für die Show "Sunflower Seeds" hat Ai 150 Tonnen Sonnenblumenkerne aus Porzellan in seiner Heimat herstellen lassen, jeder einzelne wurde handbemalt. Die Kerne verweisen auf die zum Teil prekäre Ernährungslage in China, wo sie zu den wichtigsten Nahrungsmitteln gehören. Gleichzeitig sind sie ein bissiger Kommentar zum China-Bild des Westens, der in dem Land vor allem eine riesige Kopiermaschine sieht. Nicht zuletzt sind die Massen an Porzellan-Kernen aber auch einfach ein haptisches Erlebnis, dem sich weder Kinder noch Kunstkritiker entzíehen können. Mehr Gehalt kann man von einem Kunstwerk kaum fordern.
Einsatz für die Opfer
Entscheidender für die leise Heldenverehrung, die den Film trägt, ist aber Ais unermüdlicher Einsatz für die Opfer, die während des großen Erdbebens von Sichuan 2008 sterben. Rund 70.000 Tote sind zu beklagen, viele von ihnen Kinder, die von den Trümmern ihrer mangelhaft gebauten Schulen begraben werden. Mit Hilfe zahlloser Freiwilliger macht sich Ai auf, die Namen der Kinder zu dokumentieren. Zum Schluss haben sie über 5300 Namen zusammengetragen - für die chinesischen Behörden, die nicht auf die Einhaltung von Baustandards beharrt haben, eine beschämende Liste. Als Ai sie wenige Tage vor dem ersten Jahrestag des Erdbebens online stellt, wird seine Website kurze Zeit später gesperrt.
Schlimmer noch: Als Ai nach Chengdu reist, um im Prozess gegen den Menschenrechtsaktivisten Tan Zuoren auszusagen, der sich ebenfalls für die Opfer des Erdbebens eingesetzt hat, wird Ai nachts von der örtlichen Polizei angegriffen und so lange festgehalten, bis sein Termin für die Zeugenaussage verstrichen ist. Während des Übergriffs schlägt ein Polizist Ai dessen Angaben zufolge auf den Kopf - die Spätfolgen, eine schmerzhafte und gefährliche Gehirnschwellung, kann später nur eine Notoperation in München beheben.
Zurück in Peking besucht ihn seine besorgte Mutter, die er nur schwer beruhigen kann. "Was können sie mir antun?", hatte Ai noch auf seinem Blog geschrieben, bevor er vom Netz genommen wurde. "Nichts anders als mich zu deportieren, zu entführen und einzusperren oder mich vollständig verschwinden zu lassen." Am 3. April wird er von der chinesischen Geheimpolizei deportiert, entführt und eingesperrt.
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