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Margarete Mitscherlich ist tot

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Margarete Mitscherlich ist tot Empty Margarete Mitscherlich ist tot

Beitrag  Admin Di Jun 12, 2012 2:45 pm

Berühmt wurde die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich mit ihrer Studie "Die Unfähigkeit zu trauern", in der sie mit ihrem Mann Alexander 1967 die kollektive Verdrängung der Deutschen untersuchte. Gestern ist die gebürtige Dänin im Alter von 94 Jahren gestorben.

Der Besuch war zwar angemeldet, doch an der Wohnungstür war niemand. Stattdessen rief die Hausherrin aus den hinteren Räumen: "Kommen Sie ruhig herein und bringen Sie bitte gleich mein neues Buch mit; es liegt auf der Kommode im Flur." Das war Margarete Mitscherlich, die große Dame der Psychoanalyse: offen, ohne Arg, neugierig, stets dem Menschen zugewandt.

Und so hat man die Wohnung im Frankfurter Westend mit ihrem jüngsten Werk in der Hand betreten. Da war sie schon 93 Jahre alt – und passenderweise war es ein Buch über die Radikalität des Alters. Was auch sonst. Wobei die Radikalität ihrem Verständnis nach keine Revolte meinte, kein geriatrischer Aufstand jener Menschen, die im sehr fortgeschrittenen Alter naturgemäß mit dem Rücken zur Wand stehen und schon aus dieser Position heraus nichts mehr zu verlieren haben. Mitscherlichs Radikalität war eine andere: nämlich die der rücksichtslosen Innenschau, eine radikale Selbsterforschung also. Und die wird im Alter immer schlimmer, hat sie gesagt. "Denn man hat im Alter ja nichts anderes mehr zu tun als nachzudenken."

Das sagt sich so leicht und irgendwie fast unbekümmert. Doch das Nachdenken über sich selbst sowie die Ermunterung an Menschen, über das eigene Verhalten genaue Rechenschaft abzugeben, ist für sie nichts weniger als das Lebenswerk gewesen. Gekrönt wurde es schon früh, bereits 1967, als sie mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich die berühmte Studie von der "Unfähigkeit zu trauern" veröffentlichte. Das wissenschaftlich Neue und Aufsehenerregende daran war, dass die Mitscherlichs die Psychoanalyse jetzt vom Einzelnen lösten und auf eine ganze Nation anwandten.

Bei den beiden Psychoanalytikern lag plötzlich das Nachkriegs-Deutschland auf der Couch. Am Ende dieser imaginierten Sitzung fand sich dann dieser entlarvende Befund: Das deutsche Volk bestand aus manischen Vergangenheitsallergikern, die nach 1945 mit ebenso manischem Aufbaueifer eine Auseinandersetzung mit der vollständigen kriegerischen wie moralischen Niederlage zu umgehen hofften. Eine Nation wurde der Verdrängung bezichtigt.

Die Benennung einer kollektiven Schuld hat auch wesentlich zur Aufarbeitung des eigenen Verhaltens beigetragen; sie hat Trauer zugelassen und schließlich den Weg zu einer offenen Aufarbeitung der Vergangenheit freigemacht. Seit den Mitscherlichs ist man zu der Einsicht gelangt, dass es tatsächlich so etwas gibt wie ein kollektives Empfinden, das nicht allein die Generation der Erwachsenen umschließt, sondern auf fatale Weise auch deren Nachkommen: "Es gibt eine entliehene Schuld. Das ist eine Schuld, die wir alle irgendwo haben. Ich habe mich an keinerlei Grausamkeit beteiligt, und dennoch fühlt man sich schuldig. Man identifiziert sich als Deutscher und wird auch vom Ausland so wahrgenommen", sagte sie damals in unserem Gespräch.

Aber diese Studie sollte keine wohlfeile Anklage sein. Die Mitscherlichs wollten etwas erklären, wollten etwas anschaulich machen. Nämlich dass Hitler, der "Führer", für viele Deutschen eine Art Gott gewesen sei, unnahbar zwar und auch sehr fern. Aber er schien eben alles zu können; er übernahm kurzerhand die Verantwortung. Und plötzlich, so Mitscherlich, war dieser Gott dann einfach weg, von heute auf morgen, so, als habe es ihn nie gegeben.

Eine Aufarbeitung hat nicht stattgefunden, und ein Versuch dazu wäre, so spekuliert Mitscherlich, vielleicht auch gar nicht ratsam gewesen: "Wahrscheinlich wäre man dabei verrückt geworden." Was blieb, waren verlorene Ideale und verlorene Traditionen.

Mitscherlich selbst hat erzählt, dass sie vom Krieg eigentlich verschont geblieben ist. Man habe damals zwar von der Ermordung der Geisteskranken gewusst, aber die Vernichtung der Juden habe man allenfalls ahnen können. Sie war ehrlich genug zu sagen, dass sie auch später ein Konzentrationslager der Nazis nie besucht habe. Denn immer habe sie denken müssen: "Das halte ich nicht aus."

Die letzten 25 Jahre hat Margarete Mitscherlich, Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin, im Frankfurter Westend gewohnt. Gleich gegenüber der alten Synagoge. Die blieb in der Pogromnacht 1938 – so zynisch das klingt – wahrscheinlich aus "Sicherheitsgründen" verschont, denn ringsum steht dichte Wohnbebauung. Das Frankfurter Domizil ist für sie aber nie von symbolischer Bedeutung gewesen.

Und dass rund um die Uhr auch noch ein Mannschaftswagen der Polizei auf der anderen Straßenseite zum Schutz der Gemeinde steht, war für sie keineswegs störend. "Es ist einfach sehr angenehm, dass man so rund um die Uhr von der Polizei bewacht wird", erklärte sie lachend und mit dem ganzen Pragmatismus, der den Alltag eines alten Menschen wahrscheinlich erforderlich macht.

Die Menschen haben Margarete Mitscherlich nie vergessen. Groß und bewegend war ihr Auftritt bei der Lit.Cologne vor vier Jahren. Mit zwei Gehhilfen kam sie auf die Bühne des Kölner Schauspiels; doch im Gespräch machte sie schnell deutlich, dass ihr Denken ohne jede fremde Hilfe bestens funktionierte. Gefeiert wurde sie da als eine Vorkämpferin der Emanzipation, die mit ihrem Buch "Die friedfertige Frau" von 1985 auch Alice Schwarzer, ihrer Freundin, wichtige Impulse gegeben hat. Im besten Sigmund-Freud-Ton erklärte sie, "dass Frauen sich nicht nur gegen Männer, sondern auch gegen sich selbst durchsetzen müssen".

Gestern ist Margarete Mitscherlich, 30 Jahre nach ihrem Mann, gestorben. 94 Jahre alt ist sie geworden. Auf ein Leben nach dem Tod wird sie kaum gehofft haben. Wer daran glaubt, das sagte sie wieder herzlich lachend beim Abschied, müsse schon seinen Verstand ausschalten. Bis zum Schluss ist sie das geblieben, was sie mit ihrer psychoanalytischen Arbeit immer sein wollte – und gewesen ist: eine bedeutende Aufklärerin.

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