Vorhängeschloss wird 5
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Vorhängeschloss wird 5
Vor fünf Jahren wurde der Wiederaufbau des Braunschweiger Schlosses gefeiert – am Sonntag wird von 11 Uhr an mit einem bunten Fest daran erinnert.
Es ist das umstrittenste Thema der Stadtgeschichte, es ist ein Kampf ums Schloss.
Wie in einem politischen Labor werden bis in die heutigen Tage die Konfliktlinien sichtbar: Wie in kaum einer anderen Stadt machen sich die Widersprüche in Braunschweig an einem einzigen Gebäude fest: dem Schloss!
Und während das so ist, lassen Zehntausende auch an diesem Wochenende wieder die ganze Diskussion Diskussion sein – und gehen einfach rein. Sie gehen hin – in ihr Schloss!
Wie das kommt und wie das gekommen ist, das ist eine Braunschweig-Story der ganz besonderen Art. Es ist ein politisches Lehrstück und eine Eulenspiegelei zugleich. Am Ende – so schaut es heute aus – gibt es nur Gewinner. Wie die Bilanz in 5, 10 oder 30 Jahren ausfällt, wird man sehen.
An diesem ersten Mai-Wochenende des Jahres 2012, dem diese Sonderbeilage gewidmet ist, feiert das neue Schloss nach seinem Wiederaufbau das fünfjährige Bestehen. Das sagen die einen.
Und die anderen sagen, dass ein Kaufhaus fünf Jahre alt wird, ein Einkaufszentrum mit einer Fassade, die wie ein Schloss ausschaut. Und manche ätzen: Vorhänge-Schloss.
Die Fakten sehen so aus:
•Ende März 2007 eröffnete ECE die Schloss-Arkaden mit 150 Läden auf 30 000 Quadratmetern Fläche.
•Anfang Mai 2007 wurde der Schloss-Teil eröffnet – mit Kultureinrichtungen der Stadt auf 13 300 Quadratmetern Fläche.
Doch beide Komplexe sind nicht voneinander zu trennen. Sie sind eine Einheit, sie sind schicksalhaft miteinander verwoben: Ohne Einkaufszentrum kein Schloss, ohne Schloss kein Einkaufszentrum.
Man muss, um die Sache zu beurteilen, einfach ein wenig Abstand nehmen.
Die Lösung ist – zugegeben – radikal: Wer ins Braunschweiger Schloss geht, der wird von einer großartigen Fassade angelockt – und er landet gleich hinterm Eingang in einer beliebigen, verwechselbaren Einkaufswelt.
Wer Luftaufnahmen studiert, die rasante Innenstadtentwicklung verfolgt und anschwellende Kunden- und Besucherströme analysiert, kann indes zu folgendem Ergebnis kommen: Hier ist offensichtlich eine Radikal-Operation am Herzen der Stadt vorgenommen worden, die vitalisiert und brachliegende Kräfte freigelegt hat.
Mehr noch: Diese Stadt diskutiert wieder über ihre Geschichte – und sie hat einen Ort zurückgewonnen, an dem sich jegliche Stadtgeschichte manifestiert, bricht und bündelt.
•Hier schlug das Herz der hiesigen Welfenlinie, hier wurde das letzte deutsche Residenzschloss gebaut.
•Hier zündeten zornige Bürger es prompt an – und verjagten die Herzöge aus der Stadt.
•Hier versöhnten sich Hohenzollern und Welfen, hier residierte mit Viktoria Luise die Kaisertochter.
•Hier verjagte der Arbeiter August Merges den Herzog Ernst August und rief die Republik aus – früher als anderswo in Deutschland.
•Hier marschierte Adolf Hitler auf, hier probten die Nationalsozialisten Gleichschaltung und Machtergreifung – früher als anderswo in Deutschland.
•Hier residierte die SS und bildete ihre Eliten für Vertreibung, Mord und Völkermord aus.
•Hier wurde angesichts der Kriegszerstörungen erbittert um die Schloss-Ruine gerungen. Die Mentalität der Nachkriegszeit wurde im Abrissbeschluss, im Bau der Stadthalle an anderer Stelle und der Errichtung eines Parks sichtbar.
•Hier wurde die Erinnerung an das Schloss über Jahrzehnte wachgehalten – und letztlich in einem beispiellosen Experiment die Abrissentscheidung rückgängig gemacht.
Schwerlich kann man sich vorstellen, wie der Wiederaufbau des Schlosses – wenn man ihn denn überhaupt will – mit öffentlichen Mitteln hätte realisiert werden können. Mindestens 50 Millionen Euro, vermutlich 100 Millionen Euro hätte man aus Steuergeldern aufbringen müssen. Aussichtslos.
Die Braunschweiger Lösung sah so aus:
•Die Stadt macht den Weg frei für eine 200-Millionen-Euro-Investition durch ECE für ein gigantisches Einkaufszentrum in der Innenstadt und stellt das Grundstück (Schlosspark) zur Verfügung.
•Sie erhält im Zuge der Errichtung des Einkaufszentrums durch ECE mit 30 000 Quadratmetern Verkaufsfläche u.a. eine Rekonstruktion der Schlossfassade (13,3 Millionen Euro) und Mittel für erforderliche Baumaßnahmen im öffentlichen Bereich (11,5 Millionen Euro).
•Sie mietet den Schlossteil mit 13 300 Quadratmetern komplett auf 30 Jahre für 1,2 Millionen Euro im Jahr und bündelt dort ihre kulturellen Institutionen.
Auch Letzteres ist umstritten – Schloss-Gegner bei Grünen und Linken etwa kritisieren die Höhe der Miete. Oberbürgermeister Gert Hoffmann kontert: „Die Top-Lage rechtfertigt den Mietzins.“ Die Stadt konnte nicht mehr benötigte Gebäude verkaufen – oder sparte teure Sanierungen.
Wie auch immer – die Meinungen gehen natürlich weiterhin auseinander. Das Publikum ficht das nicht an. Es beschert ECE Rekord-Verlaufserlöse – und ein Erreichen aller gesteckten Ziele in Braunschweig weit vor der Zeit.
Die Kultureinrichtungen der Stadt melden größeren Zulauf als zuvor. Allein in der Stadtbibliothek haben sich Besucher- und Ausleihzahlen sowie Neuanmeldungen durchweg verdoppelt. Mit Schlossmuseum und Rotem Saal entstanden neue Orte für Kultur und Kunst.
Und das Schloss? Ist es das wiedererrichtete Residenzschloss? Wird an diesem Wochenende tatsächlich der fünfte Jahrestag einer Art Wiedergeburt gefeiert? Eher nicht.
Zu wenig vom Schloss hat der Schloss-Teil in seinem Inneren – trotz kultureller Nutzung.
Dazu reichte das Geld nicht – trotz der hiesigen privaten Förderer und Stiftungen. Und das alte Schloss wird es erst wieder, wenn es nicht nur von der Quadriga gekrönt wird, sondern auch von ihrem Wahrzeichen, der Rotunde.
Schließlich der Sündenfall – der Shopping-Eingang im Portikus. Oberbürgermeister Gert Hoffmann sagt in dieser Beilage erstmals öffentlich, dass das ein Fehler war. Man hätte das Schloss für Kultur reservieren müssen. „Also gar keinen Kommerz dort und dann auch der Eingangsbereich unter dem Portikus schlossartig gestaltet. Das hätte die Stadt noch einmal viel Geld gekostet, wäre es aber rückblickend wert gewesen.“
So sind die Dinge im Fluss – und wer weiß schon wirklich, was noch kommt. Stadtplaner Professor Walter Ackers hat mit seinem Gutachten 2003 der Schloss-Renaissance in Braunschweig mit den Weg gewiesen. Im Interview in dieser Beilage sagt er zur Frage des Sündenfalls im Portikus: „Das sehe ich als eine Zwischenlösung an. Das wird sich gewiss einmal ändern.“
An diesem Wochenende wird wieder viel los sein im Schloss und drumherum. Längst ist die Bezeichnung keine Frage mehr, der Name für die Leute klar: Schloss!
Der Kampf ums Schloss ist entschieden. Den meisten sind gute Parkplätze und ein ordentlicher Haupteingang ohnehin wichtiger als die reine Lehre der Geschichte.
Und für die anderen bietet sich ein spannender Ort für Streit, Erinnerungen und produktive Diskussionen. So oder so.
Quelle
Vielleicht mal eine gute Gelegenheit nach
zu fragen,warum Max Jüdel nicht auf dem Schloss verewigt wurde?
Es ist das umstrittenste Thema der Stadtgeschichte, es ist ein Kampf ums Schloss.
Wie in einem politischen Labor werden bis in die heutigen Tage die Konfliktlinien sichtbar: Wie in kaum einer anderen Stadt machen sich die Widersprüche in Braunschweig an einem einzigen Gebäude fest: dem Schloss!
Und während das so ist, lassen Zehntausende auch an diesem Wochenende wieder die ganze Diskussion Diskussion sein – und gehen einfach rein. Sie gehen hin – in ihr Schloss!
Wie das kommt und wie das gekommen ist, das ist eine Braunschweig-Story der ganz besonderen Art. Es ist ein politisches Lehrstück und eine Eulenspiegelei zugleich. Am Ende – so schaut es heute aus – gibt es nur Gewinner. Wie die Bilanz in 5, 10 oder 30 Jahren ausfällt, wird man sehen.
An diesem ersten Mai-Wochenende des Jahres 2012, dem diese Sonderbeilage gewidmet ist, feiert das neue Schloss nach seinem Wiederaufbau das fünfjährige Bestehen. Das sagen die einen.
Und die anderen sagen, dass ein Kaufhaus fünf Jahre alt wird, ein Einkaufszentrum mit einer Fassade, die wie ein Schloss ausschaut. Und manche ätzen: Vorhänge-Schloss.
Die Fakten sehen so aus:
•Ende März 2007 eröffnete ECE die Schloss-Arkaden mit 150 Läden auf 30 000 Quadratmetern Fläche.
•Anfang Mai 2007 wurde der Schloss-Teil eröffnet – mit Kultureinrichtungen der Stadt auf 13 300 Quadratmetern Fläche.
Doch beide Komplexe sind nicht voneinander zu trennen. Sie sind eine Einheit, sie sind schicksalhaft miteinander verwoben: Ohne Einkaufszentrum kein Schloss, ohne Schloss kein Einkaufszentrum.
Man muss, um die Sache zu beurteilen, einfach ein wenig Abstand nehmen.
Die Lösung ist – zugegeben – radikal: Wer ins Braunschweiger Schloss geht, der wird von einer großartigen Fassade angelockt – und er landet gleich hinterm Eingang in einer beliebigen, verwechselbaren Einkaufswelt.
Wer Luftaufnahmen studiert, die rasante Innenstadtentwicklung verfolgt und anschwellende Kunden- und Besucherströme analysiert, kann indes zu folgendem Ergebnis kommen: Hier ist offensichtlich eine Radikal-Operation am Herzen der Stadt vorgenommen worden, die vitalisiert und brachliegende Kräfte freigelegt hat.
Mehr noch: Diese Stadt diskutiert wieder über ihre Geschichte – und sie hat einen Ort zurückgewonnen, an dem sich jegliche Stadtgeschichte manifestiert, bricht und bündelt.
•Hier schlug das Herz der hiesigen Welfenlinie, hier wurde das letzte deutsche Residenzschloss gebaut.
•Hier zündeten zornige Bürger es prompt an – und verjagten die Herzöge aus der Stadt.
•Hier versöhnten sich Hohenzollern und Welfen, hier residierte mit Viktoria Luise die Kaisertochter.
•Hier verjagte der Arbeiter August Merges den Herzog Ernst August und rief die Republik aus – früher als anderswo in Deutschland.
•Hier marschierte Adolf Hitler auf, hier probten die Nationalsozialisten Gleichschaltung und Machtergreifung – früher als anderswo in Deutschland.
•Hier residierte die SS und bildete ihre Eliten für Vertreibung, Mord und Völkermord aus.
•Hier wurde angesichts der Kriegszerstörungen erbittert um die Schloss-Ruine gerungen. Die Mentalität der Nachkriegszeit wurde im Abrissbeschluss, im Bau der Stadthalle an anderer Stelle und der Errichtung eines Parks sichtbar.
•Hier wurde die Erinnerung an das Schloss über Jahrzehnte wachgehalten – und letztlich in einem beispiellosen Experiment die Abrissentscheidung rückgängig gemacht.
Schwerlich kann man sich vorstellen, wie der Wiederaufbau des Schlosses – wenn man ihn denn überhaupt will – mit öffentlichen Mitteln hätte realisiert werden können. Mindestens 50 Millionen Euro, vermutlich 100 Millionen Euro hätte man aus Steuergeldern aufbringen müssen. Aussichtslos.
Die Braunschweiger Lösung sah so aus:
•Die Stadt macht den Weg frei für eine 200-Millionen-Euro-Investition durch ECE für ein gigantisches Einkaufszentrum in der Innenstadt und stellt das Grundstück (Schlosspark) zur Verfügung.
•Sie erhält im Zuge der Errichtung des Einkaufszentrums durch ECE mit 30 000 Quadratmetern Verkaufsfläche u.a. eine Rekonstruktion der Schlossfassade (13,3 Millionen Euro) und Mittel für erforderliche Baumaßnahmen im öffentlichen Bereich (11,5 Millionen Euro).
•Sie mietet den Schlossteil mit 13 300 Quadratmetern komplett auf 30 Jahre für 1,2 Millionen Euro im Jahr und bündelt dort ihre kulturellen Institutionen.
Auch Letzteres ist umstritten – Schloss-Gegner bei Grünen und Linken etwa kritisieren die Höhe der Miete. Oberbürgermeister Gert Hoffmann kontert: „Die Top-Lage rechtfertigt den Mietzins.“ Die Stadt konnte nicht mehr benötigte Gebäude verkaufen – oder sparte teure Sanierungen.
Wie auch immer – die Meinungen gehen natürlich weiterhin auseinander. Das Publikum ficht das nicht an. Es beschert ECE Rekord-Verlaufserlöse – und ein Erreichen aller gesteckten Ziele in Braunschweig weit vor der Zeit.
Die Kultureinrichtungen der Stadt melden größeren Zulauf als zuvor. Allein in der Stadtbibliothek haben sich Besucher- und Ausleihzahlen sowie Neuanmeldungen durchweg verdoppelt. Mit Schlossmuseum und Rotem Saal entstanden neue Orte für Kultur und Kunst.
Und das Schloss? Ist es das wiedererrichtete Residenzschloss? Wird an diesem Wochenende tatsächlich der fünfte Jahrestag einer Art Wiedergeburt gefeiert? Eher nicht.
Zu wenig vom Schloss hat der Schloss-Teil in seinem Inneren – trotz kultureller Nutzung.
Dazu reichte das Geld nicht – trotz der hiesigen privaten Förderer und Stiftungen. Und das alte Schloss wird es erst wieder, wenn es nicht nur von der Quadriga gekrönt wird, sondern auch von ihrem Wahrzeichen, der Rotunde.
Schließlich der Sündenfall – der Shopping-Eingang im Portikus. Oberbürgermeister Gert Hoffmann sagt in dieser Beilage erstmals öffentlich, dass das ein Fehler war. Man hätte das Schloss für Kultur reservieren müssen. „Also gar keinen Kommerz dort und dann auch der Eingangsbereich unter dem Portikus schlossartig gestaltet. Das hätte die Stadt noch einmal viel Geld gekostet, wäre es aber rückblickend wert gewesen.“
So sind die Dinge im Fluss – und wer weiß schon wirklich, was noch kommt. Stadtplaner Professor Walter Ackers hat mit seinem Gutachten 2003 der Schloss-Renaissance in Braunschweig mit den Weg gewiesen. Im Interview in dieser Beilage sagt er zur Frage des Sündenfalls im Portikus: „Das sehe ich als eine Zwischenlösung an. Das wird sich gewiss einmal ändern.“
An diesem Wochenende wird wieder viel los sein im Schloss und drumherum. Längst ist die Bezeichnung keine Frage mehr, der Name für die Leute klar: Schloss!
Der Kampf ums Schloss ist entschieden. Den meisten sind gute Parkplätze und ein ordentlicher Haupteingang ohnehin wichtiger als die reine Lehre der Geschichte.
Und für die anderen bietet sich ein spannender Ort für Streit, Erinnerungen und produktive Diskussionen. So oder so.
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