ADHS gibt es NICHT - außer als PHARMA-Markt!
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ADHS gibt es NICHT - außer als PHARMA-Markt!
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Ort : Braunschweig
Warum so viele Kinder in Deutschland ADHS haben
Nie zuvor wurden in Deutschland so viele ADHS-Fälle diagnostiziert. Würzburg bildet die Spitze. Warum ist das so? Wird mit dem Medikament Ritalin eine Krankheit bekämpft oder Doping betrieben?
Christina Sanchez ist gebürtige Spanierin, da muss Temperament nicht überraschen. Doch als ihr Sohn vier Jahre alt war, dachte sie, dass sein Verhalten nicht mit angeborener Vitalität zu erklären sei. Er war sehr stürmisch und redete und redete, alles was ihm in den Kopf kam: "Mama, ich will malen, auf einem grünen Blatt, nein, auf einem roten doch lieber; Mama, ich kann nicht mehr malen; Mama, jetzt ist der Stuhl kaputt, ich will Fußball spielen…"
Ständig ging etwas zu Bruch. Von Erzieherinnen im Kindergarten kamen Vorwürfe. "Ich will ja lieb sein, Mama, aber ich kann nicht", sagte David.
"David war ein sehr unglücklicher kleiner Junge", sagt Sanchez, Lehrerin an einem Würzburger Gymnasium. Sie sagt von sich selbst, dass sie relativ autoritär erziehe. "Ich handle nicht alles aus mit meinen Söhnen. Um halb neun wird das Licht ausgemacht, mehr als eine halbe Stunde Computerspielen am Tag gibt es nicht."
David und sein jüngerer Bruder Tim sind heute 13 und zwölf. Bei beiden wurde nach langer Diagnose, die rund sechs Monate dauerte, das Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom (ADS) diagnostiziert. David ist zusätzlich hyperaktiv, hat ADHS, während Tim "nur" ADS hat.
Leben in der Parallelwelt
"David ist der Zappelphilipp und Tim der Hans Guckindieluft", sagt Sanchez. "David fing als Kind sofort an zu weinen, wenn etwas nicht klappte, er war und ist sehr extrovertiert. Tim ist sehr schusselig. Auf dem Weg ins Kinderzimmer vergisst er, dass er seine Brotbox aus dem Schulranzen holen wollte, kommt zurück und sagt, Mama, was wollte ich noch mal? Wenn im Kindergarten alle malten, zog er sich zurück und las. Und heute noch, wenn ich in sein Zimmer komme, und er sitzt mit dem Rücken zur Wand, dann erschrickt er zu Tode, weil er sich in einer Parallelwelt befindet."
Eine Auffälligkeit aber gibt es bei David und Tim noch in einer anderen Hinsicht: Sie leben in einer Region – Unterfranken –, die bei diesem Thema selbst auffällig ist. Nirgends sonst in Deutschland wird laut einer neuen Studie so oft ADHS diagnostiziert wie hier.
Der neueste Arztreport der Krankenkasse Barmer GEK – erfasst wurden nur deren Versicherte – ergab, dass in Unterfranken jene Diagnose bei 18,8 Prozent der Jungen zwischen zehn und zwölf Jahren gestellt wurde, während dies im Bundesdurchschnitt nur bei knapp zwölf Prozent der Fall war.
Zur "Welthauptstadt der ADHS-Fälle" wurde Würzburg in der Lokalpresse ausgerufen. Zappeln Würzburger Kinder besonders viel?
Eine andere Erklärung führt die Barmer Krankenkasse selbst an: Es könnte mit dem Diagnoseverhalten der Ärzte zu tun haben. Es liege "die Vermutung nahe", so Barmer-Sprecher Kai Behrens, "dass die Universitätsmedizin in Würzburg mit einem ADHS-Schwerpunkt, einige Kinderpsychiater sowie damit vernetzte oder dort fortgebildete Kinder- und Hausärzte für die überdurchschnittlichen Anteile bei Diagnosen und Verordnungen mit ursächlich sind".
Wann liegt eine reale Krankheit vor?
In der Tat fällt es bei diesem Thema schwer, zwischen realer Krankheit und jugendpsychiatrischer Diagnose-Neigung genau zu unterscheiden, wenn man verstehen will, warum die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahren bundesweit in fünf Jahren um 42 Prozent gestiegen ist. Wurde ADHS vor fünf Jahren bei 2,92 Prozent jener Kinder und Jugendlichen festgestellt, so liegt der Anteil heute bei 4,14 Prozent.
Insgesamt galten 750.000 Deutsche im Jahr 2011 als ADHS-krank, davon waren 620.000 Kinder und Jugendliche. In ähnlichem Ausmaß wie die Diagnose ADHS nahm auch die Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat zu, enthalten im Medikament Ritalin.
Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die es einnehmen, stieg von 2006 bis 2011 um 39 Prozent. Was mag für all das der Grund sein?
Einerseits häufen sich in der Tat die Berichte von Lehrern, Erziehern und Eltern über Kinder außer Rand und Band, was man mit Bewegungsmangel, Reizüberflutung und Problemen der Jungen mit Selbstbetätigung erklären könnte.
Andererseits ist das Thema derzeit in Mode. Ärzte sind nicht gefeit gegen Konjunkturen der Aufmerksamkeit. Und dann gibt es eben das ansonsten eher unproblematische Würzburg mit seiner besonderen Versorgung an Kinderpsychiatern in der Uni-Klinik.
Spezialambulanz für Hyperaktive
In dem Häuserblock im Stadtteil Grombühl suchen Eltern aus ganz Süddeutschland Hilfe in einer ADHS-Spezialambulanz. Zudem gibt es in keinem anderen bayerischen Regierungsbezirk so viele niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater wie hier. Derzeit sind es 30, hingegen in Oberfranken nur acht, in der Oberpfalz 16.
Spricht man mit Betroffenen in Würzburg, so kann man durchaus hören, dass die hohe Präsenz der Ärzte in Würzburg etwas mit den Diagnose-Zahlen zu tun hat. Angeführt wird auch, dass manche Mediziner dort schnell bei der Hand seien, wenn es um Ritalin geht. "Es gibt Ärzte in Würzburg, von denen wir wissen, dass sie schnell verschreiben", sagt eine 37-Jährige, bei der vor Jahren ADHS diagnostiziert wurde und die sich mit anderen Betroffenen austauscht.
Sie kenne Fälle, wo die Gründe nicht medizinischer Natur seien, sondern im Elternhaus zu suchen seien.
Die Eltern verlangten von ihren Kindern sehr viel, "und so ein Pillchen hat ja bei vielen schon gute Leistungen gebracht", sagt die Frau. Auch im Internet-Forum der Würzburger "Main-Post" finden sich Mutmaßungen, dass man sich mal die Ärzte-Dichte in Unterfranken ansehen müsste. Man könne "kritisch hinterfragen, was zuerst da war", kommentiert ein Nutzer, "der Bedarf an medizinischer Versorgung oder eher der Bedarf an diagnostizierter Kundschaft".
Gesteigerte Wahrnehmung
Doch Professor Marcel Romanos, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Würzburg, verwahrt sich gegen Vorwürfe, Ärzte in Unterfranken diagnostizierten das Syndrom zu oft.
"Erkrankungen mit einer starken genetischen Komponente wie Autismus, Schizophrenie oder auch ADHS nehmen per se nicht zu. ADHS tritt bei etwa fünf Prozent der Menschen auf, in der Verwandtschaft von Betroffenen fünf- bis sechsmal häufiger als in der restlichen Bevölkerung."
Dass die Wahrnehmung dafür gewachsen sei, liege vor allem daran, dass man heute über das Phänomen Bescheid wisse. Deshalb würden Kinder, deren Auffälligkeiten früher nicht eindeutig bestimmt werden konnten, jetzt entsprechend diagnostiziert. "Wir sind als Experten auf diesem Gebiet bekannt", sagt Romanos, "die Patienten kommen aus ganz Deutschland zu uns – daher besteht natürlich eine gewisse Häufung der Fälle."
Pillen wirken nicht gegen Erziehungsprobleme
Hingegen hält Rolf-Ulrich Schlenker, Vize-Chef der Barmer, den Anstieg der Diagnosen für "inflationär". Man müsse "aufpassen, dass die ADHS-Diagnostik nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren". Pillen gegen Erziehungsprobleme seien der falsche Weg.
Nach Ansicht von Schlenker schlägt sich in den steigenden Zahlen die Sorge vieler Eltern nieder, dass ihre Kinder den Anforderungen in Schule und Gesellschaft nicht gerecht werden könnten. "Ich glaube nicht, dass in unserer Region ADHS zu häufig diagnostiziert und Ritalin zu häufig verschrieben wird", widerspricht Psychiater Romanos. "Wir ersparen ADHS-Kindern durch eine Behandlung, zu der auch Medikamente gehören, viele Probleme im Erwachsenenalter."
Ein halbes Jahr hat die Anamnese bei der Kinderpsychiaterin bei David und Tim gedauert, bis die Diagnose ADHS feststand. "Ich wollte nicht mehr, dass er ständig gemaßregelt wird, und entschied mich, es mit Medikamenten zu versuchen", sagt Christina Sanchez. Mit fünf Jahren nahm David das erste Mal "Concerta" mit dem Wirkstoff Methylphenidat, die Firma Novartis vertreibt das Medikament unter dem Namen Ritalin. Es reguliert die Zufuhr des Botenstoffs Dopamin und setzt "Korken" in einige Rezeptoren, sodass nicht mehr alle Reize auf das Kind einströmen, sondern es sich auf etwas fokussieren kann.
Nach der ersten Woche fragte die Psychiaterin David, wie es ihm gehe. "Prima, ich kann endlich das machen, was ich will!" sagte er. Heute, mit 13, nimmt David das Medikament noch immer einmal am Tag. Gegen 18 Uhr lässt die Wirkung nach. "Dann merkt man, wie die innere Unruhe aufwallt, er spricht lauter, mehr, er muss alles äußern, was ihm durch den Kopf geht, wirkt wie gejagt", sagt seine Mutter. "Ohne Medikamente wäre ein normales Leben für David und Tim nicht möglich."
David besucht das Gymnasium und kommt gut mit, Tim geht auf die Realschule, er hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Sanchez sagt, sie wolle ihm den Lerndruck im Gymnasium nicht zumuten.
Neurologische Beeinträchtigung
"ADHS ist eine Krankheit, keine gesellschaftliche Fehlentwicklung", sagt Maik Herberhold, Kinder- und Jugendpsychiater in Bochum und Vorsitzender des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Kinder mit ADHS haben eine neurologische Beeinträchtigung. Im Vorderhirn, hinter der Stirn, wird die Arbeitsplanung vollzogen. Dieser Teil des Gehirns ist unterversorgt. Die Impulssteuerung funktioniert nicht, alle Reize werden ungefiltert wahrgenommen, eine Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig ist nicht möglich."
Christopher Lauer, Fraktionschef der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus, beschreibt das Syndrom, unter dem er selbst leidet: "Wenn man in einem Restaurant sitzt, nimmt man jedes Gespräch im Raum genauso wahr wie das Gespräch mit dem Gegenüber." Auch Lauer nimmt Methylphenidat.
Seit Anfang der 90er-Jahre hat sich die in Deutschland verschriebene Menge von Methylphenidat vervielfacht: von 34 Kilo 1993 auf fast 1,8 Tonnen 2000. Sechs Konzerne bieten das Medikament unter diversen Namen auf dem deutschen Markt an.
Novartis machte mit Ritalin 2010 weltweit einen Umsatz von 464 Millionen Dollar. Wird da zur Freude der Pharmafirmen "Doping" betrieben, statt dass eine Krankheit geheilt würde?
"Mit Sicherheit geht nicht bei jeder ADHS-Diagnose eine so genaue Ursachenforschung voraus", sagt Rüdiger Stier, Chefarzt der Helios-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Berlin-Buch. "Häufig kommen Kinder zu uns mit der Diagnose ADHS vom Kinderarzt, und im Laufe unserer Untersuchungen bestätigt sich die Diagnose nicht. Wir setzen oft schon zu Beginn der Behandlung das Ritalin ab, das der Kinderarzt in manchen Fällen verordnet hat, und schauen, ob es Störungen im Sozialverhalten gibt, erzieherische Mängel, Verhaltensauffälligkeiten."
Viele Fachleute stellten die Diagnose ADHS zu schnell – auch auf den Druck verzweifelter Eltern, die sagen, es müsse etwas passieren.
Ursachen: Gene, soziales Umfeld, Leistungsdruck
Stier glaubt nicht, dass ADHS zunimmt. "Alle renommierten Forscher, auch international, sind sich einig, dass es sich bei dem Phänomen ADHS um ein Störungsbild handelt, das sowohl biologische als auch genetische und soziale Ursachen hat, also auch von der Umwelt beeinflusst wird", sagt Stier. "Es handelt sich also um ein multifaktorelles Geschehen."
Leistung spiele in unserer Gesellschaft eine große Rolle. "Dieses Prinzip trägt natürlich auch dazu bei, dass bestimmte Andersartigkeiten heute viel stärker auffallen."
Das bestätigt Kinderpsychiater Maik Herberhold: Vor 50 Jahren hätten die Kinder in den Schulen klare Anweisungen bekommen "und mussten nicht im Diskurs die Aufgabe herausarbeiten, die es zu lösen galt. Das mag für gesunde Kinder nicht besonders schön gewesen sein, für Kinder mit ADHS aber war es gut, sie brauchen eine klare Struktur."
Auch Herberhold mahnt, mit der Diagnose vorsichtig umzugehen: Es müsse einen bindenden Vertrag zur Verbesserung der Diagnostik durch eine stärkere Zusammenarbeit von Psychiatern, Kinderärzten und Psychotherapeuten geben. Doch bislang haben nur zwei Krankenkassen einen solchen Vertrag unterschrieben.
Quelle
Christina Sanchez ist gebürtige Spanierin, da muss Temperament nicht überraschen. Doch als ihr Sohn vier Jahre alt war, dachte sie, dass sein Verhalten nicht mit angeborener Vitalität zu erklären sei. Er war sehr stürmisch und redete und redete, alles was ihm in den Kopf kam: "Mama, ich will malen, auf einem grünen Blatt, nein, auf einem roten doch lieber; Mama, ich kann nicht mehr malen; Mama, jetzt ist der Stuhl kaputt, ich will Fußball spielen…"
Ständig ging etwas zu Bruch. Von Erzieherinnen im Kindergarten kamen Vorwürfe. "Ich will ja lieb sein, Mama, aber ich kann nicht", sagte David.
"David war ein sehr unglücklicher kleiner Junge", sagt Sanchez, Lehrerin an einem Würzburger Gymnasium. Sie sagt von sich selbst, dass sie relativ autoritär erziehe. "Ich handle nicht alles aus mit meinen Söhnen. Um halb neun wird das Licht ausgemacht, mehr als eine halbe Stunde Computerspielen am Tag gibt es nicht."
David und sein jüngerer Bruder Tim sind heute 13 und zwölf. Bei beiden wurde nach langer Diagnose, die rund sechs Monate dauerte, das Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom (ADS) diagnostiziert. David ist zusätzlich hyperaktiv, hat ADHS, während Tim "nur" ADS hat.
Leben in der Parallelwelt
"David ist der Zappelphilipp und Tim der Hans Guckindieluft", sagt Sanchez. "David fing als Kind sofort an zu weinen, wenn etwas nicht klappte, er war und ist sehr extrovertiert. Tim ist sehr schusselig. Auf dem Weg ins Kinderzimmer vergisst er, dass er seine Brotbox aus dem Schulranzen holen wollte, kommt zurück und sagt, Mama, was wollte ich noch mal? Wenn im Kindergarten alle malten, zog er sich zurück und las. Und heute noch, wenn ich in sein Zimmer komme, und er sitzt mit dem Rücken zur Wand, dann erschrickt er zu Tode, weil er sich in einer Parallelwelt befindet."
Eine Auffälligkeit aber gibt es bei David und Tim noch in einer anderen Hinsicht: Sie leben in einer Region – Unterfranken –, die bei diesem Thema selbst auffällig ist. Nirgends sonst in Deutschland wird laut einer neuen Studie so oft ADHS diagnostiziert wie hier.
Der neueste Arztreport der Krankenkasse Barmer GEK – erfasst wurden nur deren Versicherte – ergab, dass in Unterfranken jene Diagnose bei 18,8 Prozent der Jungen zwischen zehn und zwölf Jahren gestellt wurde, während dies im Bundesdurchschnitt nur bei knapp zwölf Prozent der Fall war.
Zur "Welthauptstadt der ADHS-Fälle" wurde Würzburg in der Lokalpresse ausgerufen. Zappeln Würzburger Kinder besonders viel?
Eine andere Erklärung führt die Barmer Krankenkasse selbst an: Es könnte mit dem Diagnoseverhalten der Ärzte zu tun haben. Es liege "die Vermutung nahe", so Barmer-Sprecher Kai Behrens, "dass die Universitätsmedizin in Würzburg mit einem ADHS-Schwerpunkt, einige Kinderpsychiater sowie damit vernetzte oder dort fortgebildete Kinder- und Hausärzte für die überdurchschnittlichen Anteile bei Diagnosen und Verordnungen mit ursächlich sind".
Wann liegt eine reale Krankheit vor?
In der Tat fällt es bei diesem Thema schwer, zwischen realer Krankheit und jugendpsychiatrischer Diagnose-Neigung genau zu unterscheiden, wenn man verstehen will, warum die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahren bundesweit in fünf Jahren um 42 Prozent gestiegen ist. Wurde ADHS vor fünf Jahren bei 2,92 Prozent jener Kinder und Jugendlichen festgestellt, so liegt der Anteil heute bei 4,14 Prozent.
Insgesamt galten 750.000 Deutsche im Jahr 2011 als ADHS-krank, davon waren 620.000 Kinder und Jugendliche. In ähnlichem Ausmaß wie die Diagnose ADHS nahm auch die Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat zu, enthalten im Medikament Ritalin.
Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die es einnehmen, stieg von 2006 bis 2011 um 39 Prozent. Was mag für all das der Grund sein?
Einerseits häufen sich in der Tat die Berichte von Lehrern, Erziehern und Eltern über Kinder außer Rand und Band, was man mit Bewegungsmangel, Reizüberflutung und Problemen der Jungen mit Selbstbetätigung erklären könnte.
Andererseits ist das Thema derzeit in Mode. Ärzte sind nicht gefeit gegen Konjunkturen der Aufmerksamkeit. Und dann gibt es eben das ansonsten eher unproblematische Würzburg mit seiner besonderen Versorgung an Kinderpsychiatern in der Uni-Klinik.
Spezialambulanz für Hyperaktive
In dem Häuserblock im Stadtteil Grombühl suchen Eltern aus ganz Süddeutschland Hilfe in einer ADHS-Spezialambulanz. Zudem gibt es in keinem anderen bayerischen Regierungsbezirk so viele niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater wie hier. Derzeit sind es 30, hingegen in Oberfranken nur acht, in der Oberpfalz 16.
Spricht man mit Betroffenen in Würzburg, so kann man durchaus hören, dass die hohe Präsenz der Ärzte in Würzburg etwas mit den Diagnose-Zahlen zu tun hat. Angeführt wird auch, dass manche Mediziner dort schnell bei der Hand seien, wenn es um Ritalin geht. "Es gibt Ärzte in Würzburg, von denen wir wissen, dass sie schnell verschreiben", sagt eine 37-Jährige, bei der vor Jahren ADHS diagnostiziert wurde und die sich mit anderen Betroffenen austauscht.
Sie kenne Fälle, wo die Gründe nicht medizinischer Natur seien, sondern im Elternhaus zu suchen seien.
Die Eltern verlangten von ihren Kindern sehr viel, "und so ein Pillchen hat ja bei vielen schon gute Leistungen gebracht", sagt die Frau. Auch im Internet-Forum der Würzburger "Main-Post" finden sich Mutmaßungen, dass man sich mal die Ärzte-Dichte in Unterfranken ansehen müsste. Man könne "kritisch hinterfragen, was zuerst da war", kommentiert ein Nutzer, "der Bedarf an medizinischer Versorgung oder eher der Bedarf an diagnostizierter Kundschaft".
Gesteigerte Wahrnehmung
Doch Professor Marcel Romanos, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Würzburg, verwahrt sich gegen Vorwürfe, Ärzte in Unterfranken diagnostizierten das Syndrom zu oft.
"Erkrankungen mit einer starken genetischen Komponente wie Autismus, Schizophrenie oder auch ADHS nehmen per se nicht zu. ADHS tritt bei etwa fünf Prozent der Menschen auf, in der Verwandtschaft von Betroffenen fünf- bis sechsmal häufiger als in der restlichen Bevölkerung."
Dass die Wahrnehmung dafür gewachsen sei, liege vor allem daran, dass man heute über das Phänomen Bescheid wisse. Deshalb würden Kinder, deren Auffälligkeiten früher nicht eindeutig bestimmt werden konnten, jetzt entsprechend diagnostiziert. "Wir sind als Experten auf diesem Gebiet bekannt", sagt Romanos, "die Patienten kommen aus ganz Deutschland zu uns – daher besteht natürlich eine gewisse Häufung der Fälle."
Pillen wirken nicht gegen Erziehungsprobleme
Hingegen hält Rolf-Ulrich Schlenker, Vize-Chef der Barmer, den Anstieg der Diagnosen für "inflationär". Man müsse "aufpassen, dass die ADHS-Diagnostik nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren". Pillen gegen Erziehungsprobleme seien der falsche Weg.
Nach Ansicht von Schlenker schlägt sich in den steigenden Zahlen die Sorge vieler Eltern nieder, dass ihre Kinder den Anforderungen in Schule und Gesellschaft nicht gerecht werden könnten. "Ich glaube nicht, dass in unserer Region ADHS zu häufig diagnostiziert und Ritalin zu häufig verschrieben wird", widerspricht Psychiater Romanos. "Wir ersparen ADHS-Kindern durch eine Behandlung, zu der auch Medikamente gehören, viele Probleme im Erwachsenenalter."
Ein halbes Jahr hat die Anamnese bei der Kinderpsychiaterin bei David und Tim gedauert, bis die Diagnose ADHS feststand. "Ich wollte nicht mehr, dass er ständig gemaßregelt wird, und entschied mich, es mit Medikamenten zu versuchen", sagt Christina Sanchez. Mit fünf Jahren nahm David das erste Mal "Concerta" mit dem Wirkstoff Methylphenidat, die Firma Novartis vertreibt das Medikament unter dem Namen Ritalin. Es reguliert die Zufuhr des Botenstoffs Dopamin und setzt "Korken" in einige Rezeptoren, sodass nicht mehr alle Reize auf das Kind einströmen, sondern es sich auf etwas fokussieren kann.
Nach der ersten Woche fragte die Psychiaterin David, wie es ihm gehe. "Prima, ich kann endlich das machen, was ich will!" sagte er. Heute, mit 13, nimmt David das Medikament noch immer einmal am Tag. Gegen 18 Uhr lässt die Wirkung nach. "Dann merkt man, wie die innere Unruhe aufwallt, er spricht lauter, mehr, er muss alles äußern, was ihm durch den Kopf geht, wirkt wie gejagt", sagt seine Mutter. "Ohne Medikamente wäre ein normales Leben für David und Tim nicht möglich."
David besucht das Gymnasium und kommt gut mit, Tim geht auf die Realschule, er hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Sanchez sagt, sie wolle ihm den Lerndruck im Gymnasium nicht zumuten.
Neurologische Beeinträchtigung
"ADHS ist eine Krankheit, keine gesellschaftliche Fehlentwicklung", sagt Maik Herberhold, Kinder- und Jugendpsychiater in Bochum und Vorsitzender des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Kinder mit ADHS haben eine neurologische Beeinträchtigung. Im Vorderhirn, hinter der Stirn, wird die Arbeitsplanung vollzogen. Dieser Teil des Gehirns ist unterversorgt. Die Impulssteuerung funktioniert nicht, alle Reize werden ungefiltert wahrgenommen, eine Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig ist nicht möglich."
Christopher Lauer, Fraktionschef der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus, beschreibt das Syndrom, unter dem er selbst leidet: "Wenn man in einem Restaurant sitzt, nimmt man jedes Gespräch im Raum genauso wahr wie das Gespräch mit dem Gegenüber." Auch Lauer nimmt Methylphenidat.
Seit Anfang der 90er-Jahre hat sich die in Deutschland verschriebene Menge von Methylphenidat vervielfacht: von 34 Kilo 1993 auf fast 1,8 Tonnen 2000. Sechs Konzerne bieten das Medikament unter diversen Namen auf dem deutschen Markt an.
Novartis machte mit Ritalin 2010 weltweit einen Umsatz von 464 Millionen Dollar. Wird da zur Freude der Pharmafirmen "Doping" betrieben, statt dass eine Krankheit geheilt würde?
"Mit Sicherheit geht nicht bei jeder ADHS-Diagnose eine so genaue Ursachenforschung voraus", sagt Rüdiger Stier, Chefarzt der Helios-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Berlin-Buch. "Häufig kommen Kinder zu uns mit der Diagnose ADHS vom Kinderarzt, und im Laufe unserer Untersuchungen bestätigt sich die Diagnose nicht. Wir setzen oft schon zu Beginn der Behandlung das Ritalin ab, das der Kinderarzt in manchen Fällen verordnet hat, und schauen, ob es Störungen im Sozialverhalten gibt, erzieherische Mängel, Verhaltensauffälligkeiten."
Viele Fachleute stellten die Diagnose ADHS zu schnell – auch auf den Druck verzweifelter Eltern, die sagen, es müsse etwas passieren.
Ursachen: Gene, soziales Umfeld, Leistungsdruck
Stier glaubt nicht, dass ADHS zunimmt. "Alle renommierten Forscher, auch international, sind sich einig, dass es sich bei dem Phänomen ADHS um ein Störungsbild handelt, das sowohl biologische als auch genetische und soziale Ursachen hat, also auch von der Umwelt beeinflusst wird", sagt Stier. "Es handelt sich also um ein multifaktorelles Geschehen."
Leistung spiele in unserer Gesellschaft eine große Rolle. "Dieses Prinzip trägt natürlich auch dazu bei, dass bestimmte Andersartigkeiten heute viel stärker auffallen."
Das bestätigt Kinderpsychiater Maik Herberhold: Vor 50 Jahren hätten die Kinder in den Schulen klare Anweisungen bekommen "und mussten nicht im Diskurs die Aufgabe herausarbeiten, die es zu lösen galt. Das mag für gesunde Kinder nicht besonders schön gewesen sein, für Kinder mit ADHS aber war es gut, sie brauchen eine klare Struktur."
Auch Herberhold mahnt, mit der Diagnose vorsichtig umzugehen: Es müsse einen bindenden Vertrag zur Verbesserung der Diagnostik durch eine stärkere Zusammenarbeit von Psychiatern, Kinderärzten und Psychotherapeuten geben. Doch bislang haben nur zwei Krankenkassen einen solchen Vertrag unterschrieben.
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