Nachrufe auf Marcel Reich-Ranicki
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Nachrufe auf Marcel Reich-Ranicki
Marcel Reich-Ranicki war ein Gigant. Die nachrufenden Lobeshymen sind berechtigt, verfehlen aber den Kern seines deutsch-jüdischen Seins und sein Exildasein. Sie verstehen nicht das Exildasein schlechthin und noch weniger die Rückkehrgründe von Exilanten.
Alle danken dem verstorbenen Marcel Reich-Ranicki ehrfürchtig und zu Recht, dass er den Mut und die Größe hatte, „nach allem und trotz allem“ nach Deutschland zurückzukehren. Der Tenor: Was für eine Größe, dass jemand mit dieser von Deutschen bedingten individuellen, familiären und kollektiven Leidensgeschichte bereit war, ins „Land der Mörder“ zurückzukehren, die Liebe zur deutschen Literatur und zur deutschen Kultur zu bewahren.
Das ist nur die halbe Wahrheit
Das alles stimmt und ist doch nur die halbe Wahrheit. Übersehen wird die Grundwahrheit, bescheidener: Grundwirklichkeit des Exildaseins, sei es jüdisch oder nicht: Wer ins Exil verjagt wurde und im Exil lebt, lebt wurzellos, muttersprachlos, ortslos, heimatlos.
Nicht nur Reich-Ranicki, alle aus Deutschland und der deutschen Kultur vertriebenen Juden, die im Exil lebten, waren im Exil eben wurzellos, muttersprachlos, ortslos. Sie lebten körperlich in ihrer neuen Umwelt, die ihr Überleben garantierte. Aber ihre Umwelt war nicht ihre eigentliche Geisteswelt, nicht ihre wirkliche Innenwelt. Innenwelt und Außenwelt waren ganz und gar verschieden. Das ist die Grundtragik jeglichen Exils.
Körperlich in Jerusalem, im Herzen in Goethes Weimar
Ich habe das in meiner eigenen israelischen Familie erlebt, auch der nordamerikanischen, der südamerikanischen, der afrikanischen. Wer sich wissenschaftlich oder auch nur halbwegs ernsthaft mit der Exilsituation an sich befasst hat, weiß, dass jener Bruch zwischen Innen- und Außenwelt die Grundtragik aller Exilanten ist.
Wer liest, was zum Beispiel Else Lasker-Schüler über ihr Leben in Palästina/Israel schrieb, wird bis ins kleinste Alltagsdetail verstehen, was mit jener These verbunden ist. Sie und andere Geistesgrößen, die aus Deutschland vertrieben wurden, befassten sich in Jerusalem wehmütig mit deutscher Kultur und Literatur. Sie waren körperlich in Jerusalem und mit ihrem Herzen im Weimar Goethes und Schillers. Und sie wussten, dass gerade Weimar damals eine NS-Hochburg war. Doch ihr Weimar war das Weimar der deutschen Klassik.
Meine Großeltern spielten in Israel Deutschland
Die meisten der gebildeten Exilanten lernten Hebräisch, aber es war nicht ihre Muttersprache. Nur in dieser erreicht man, wenn überhaupt, Sprachakrobatik. Vom Akzent der jeweils erlernten Sprache reden wir lieber nicht. Die aus Berlin stammenden Neubürger Jerusalems oder Tel Avivs sprachen berlinisches Hebräisch, die aus Sachsen stammenden sächsisches und so weiter und so weiter. Marcel Reich-Ranicki, heißt es, habe hervorragendes, akzentfreies Polnisch beherrscht. Mag sein. Aber seine Mutter- und damit Herzenssprache war eben Deutsch. NS-Deutschland hatte ihm und den seinen alles geraubt, NS-Deutschland war nicht zu ertragen, doch die deutsche Literatur und Kultur waren tragbar und als deutsche Gegenwelt nicht nur erträglich, sondern zugleich Leitstern. Leitstern aus Deutschland und gegen das damals reale NS-Deutschland.
Ich sehe meine bürgerlichen Großeltern im Tel-Aviv der frühen 1950er-Jahre oder Fotos aus den 1940ern: Im knallheißen nahöstlichen Hochsommer stolzierte Großmutter Wolffsohn im schwarzen Kostüm ins Kaffee“haus“ am Tel Aviver Strand. Das Kaffeehaus glich eher einer Hütte mit Kaffeeausschank und Möchte-gern-Torten. Wie fast alle anderen Exilanten spielten meine Großeltern Deutschland in Israel. Ähnlich war das deutsche Als-Ob der nach New York geflohenen deutschen Juden. Dort waren die Cafés ansehnlicher, aber auch dort wurde Deutschland gespielt, wenn, zu bestimmten Stunden an bestimmten Tagen, das Café fest in deutschjüdischer Hand war.
Die schwere Rückkehr war Rückkehr zu den Wurzeln
Wieder und immer wieder gilt: Selbst das sicherste und schönste Exil ersetzt die Heimat, die Heimatkultur und die Muttersprache nicht. Exil – das ist lebenslange Wurzellosigkeit. Das alles bedeutet: „Die“ Deutschen (schreckliche Kollektiv-Schablone) haben tatsächlichen allen Grund, Reich-Ranicki zu danken: Für seine Leistungen auf seinem Gebiet. Ob jüdisch oder nicht, er war der mit Riesenabstand Beste der Besten.
Natürlich fiel ihm, wie allen Rückkehrern (es waren nur wenige) der Rückweg ins „Land der Mörder“ schwer, sehr schwer. Dennoch: So schwer die Rückkehr war, es war die Rückkehr in die Heimat, zu den Wurzeln, zur Muttersprache, zur eigenen Kultur, zum eigenen Sein, zur authentischen Um- und Außenwelt.
Es liegt an uns, die „Symbiose“ zu sichern
Die authentische Um- und Außenwelt kann manchmal, zeitweise, teilweise die Hölle sein. Es bleibt aber die eigene Um- und Außenwelt. Das ist Tragödie und Trost zugleich. Trost und Tatsache ist auch dies: Die Bundesrepublik war und ist keine Hölle. Sie ist gewiss nicht der Himmel auf Erden. Sie ist, wie alles Reale, kein Ideal. Aber sie ist das mit Abstand beste Deutschland, das es je gab und einer der menschlichsten Staaten dieser Welt. Reich-Ranicki hat das gewusst und auch immer wieder gesagt. Reich-Ranicki hat dem neuen Deutschland viel gegeben. Umgekehrt hat das neue Deutschland Reich-Ranicki viel gegeben. Man nennt so etwas „Symbiose“. Es liegt an uns allen, sie dauerhaft zu sichern. Gelingt es uns, erweisen wir uns Marcel Reich-Ranickis Vermächtnis würdig.
Quelle
Alle danken dem verstorbenen Marcel Reich-Ranicki ehrfürchtig und zu Recht, dass er den Mut und die Größe hatte, „nach allem und trotz allem“ nach Deutschland zurückzukehren. Der Tenor: Was für eine Größe, dass jemand mit dieser von Deutschen bedingten individuellen, familiären und kollektiven Leidensgeschichte bereit war, ins „Land der Mörder“ zurückzukehren, die Liebe zur deutschen Literatur und zur deutschen Kultur zu bewahren.
Das ist nur die halbe Wahrheit
Das alles stimmt und ist doch nur die halbe Wahrheit. Übersehen wird die Grundwahrheit, bescheidener: Grundwirklichkeit des Exildaseins, sei es jüdisch oder nicht: Wer ins Exil verjagt wurde und im Exil lebt, lebt wurzellos, muttersprachlos, ortslos, heimatlos.
Nicht nur Reich-Ranicki, alle aus Deutschland und der deutschen Kultur vertriebenen Juden, die im Exil lebten, waren im Exil eben wurzellos, muttersprachlos, ortslos. Sie lebten körperlich in ihrer neuen Umwelt, die ihr Überleben garantierte. Aber ihre Umwelt war nicht ihre eigentliche Geisteswelt, nicht ihre wirkliche Innenwelt. Innenwelt und Außenwelt waren ganz und gar verschieden. Das ist die Grundtragik jeglichen Exils.
Körperlich in Jerusalem, im Herzen in Goethes Weimar
Ich habe das in meiner eigenen israelischen Familie erlebt, auch der nordamerikanischen, der südamerikanischen, der afrikanischen. Wer sich wissenschaftlich oder auch nur halbwegs ernsthaft mit der Exilsituation an sich befasst hat, weiß, dass jener Bruch zwischen Innen- und Außenwelt die Grundtragik aller Exilanten ist.
Wer liest, was zum Beispiel Else Lasker-Schüler über ihr Leben in Palästina/Israel schrieb, wird bis ins kleinste Alltagsdetail verstehen, was mit jener These verbunden ist. Sie und andere Geistesgrößen, die aus Deutschland vertrieben wurden, befassten sich in Jerusalem wehmütig mit deutscher Kultur und Literatur. Sie waren körperlich in Jerusalem und mit ihrem Herzen im Weimar Goethes und Schillers. Und sie wussten, dass gerade Weimar damals eine NS-Hochburg war. Doch ihr Weimar war das Weimar der deutschen Klassik.
Meine Großeltern spielten in Israel Deutschland
Die meisten der gebildeten Exilanten lernten Hebräisch, aber es war nicht ihre Muttersprache. Nur in dieser erreicht man, wenn überhaupt, Sprachakrobatik. Vom Akzent der jeweils erlernten Sprache reden wir lieber nicht. Die aus Berlin stammenden Neubürger Jerusalems oder Tel Avivs sprachen berlinisches Hebräisch, die aus Sachsen stammenden sächsisches und so weiter und so weiter. Marcel Reich-Ranicki, heißt es, habe hervorragendes, akzentfreies Polnisch beherrscht. Mag sein. Aber seine Mutter- und damit Herzenssprache war eben Deutsch. NS-Deutschland hatte ihm und den seinen alles geraubt, NS-Deutschland war nicht zu ertragen, doch die deutsche Literatur und Kultur waren tragbar und als deutsche Gegenwelt nicht nur erträglich, sondern zugleich Leitstern. Leitstern aus Deutschland und gegen das damals reale NS-Deutschland.
Ich sehe meine bürgerlichen Großeltern im Tel-Aviv der frühen 1950er-Jahre oder Fotos aus den 1940ern: Im knallheißen nahöstlichen Hochsommer stolzierte Großmutter Wolffsohn im schwarzen Kostüm ins Kaffee“haus“ am Tel Aviver Strand. Das Kaffeehaus glich eher einer Hütte mit Kaffeeausschank und Möchte-gern-Torten. Wie fast alle anderen Exilanten spielten meine Großeltern Deutschland in Israel. Ähnlich war das deutsche Als-Ob der nach New York geflohenen deutschen Juden. Dort waren die Cafés ansehnlicher, aber auch dort wurde Deutschland gespielt, wenn, zu bestimmten Stunden an bestimmten Tagen, das Café fest in deutschjüdischer Hand war.
Die schwere Rückkehr war Rückkehr zu den Wurzeln
Wieder und immer wieder gilt: Selbst das sicherste und schönste Exil ersetzt die Heimat, die Heimatkultur und die Muttersprache nicht. Exil – das ist lebenslange Wurzellosigkeit. Das alles bedeutet: „Die“ Deutschen (schreckliche Kollektiv-Schablone) haben tatsächlichen allen Grund, Reich-Ranicki zu danken: Für seine Leistungen auf seinem Gebiet. Ob jüdisch oder nicht, er war der mit Riesenabstand Beste der Besten.
Natürlich fiel ihm, wie allen Rückkehrern (es waren nur wenige) der Rückweg ins „Land der Mörder“ schwer, sehr schwer. Dennoch: So schwer die Rückkehr war, es war die Rückkehr in die Heimat, zu den Wurzeln, zur Muttersprache, zur eigenen Kultur, zum eigenen Sein, zur authentischen Um- und Außenwelt.
Es liegt an uns, die „Symbiose“ zu sichern
Die authentische Um- und Außenwelt kann manchmal, zeitweise, teilweise die Hölle sein. Es bleibt aber die eigene Um- und Außenwelt. Das ist Tragödie und Trost zugleich. Trost und Tatsache ist auch dies: Die Bundesrepublik war und ist keine Hölle. Sie ist gewiss nicht der Himmel auf Erden. Sie ist, wie alles Reale, kein Ideal. Aber sie ist das mit Abstand beste Deutschland, das es je gab und einer der menschlichsten Staaten dieser Welt. Reich-Ranicki hat das gewusst und auch immer wieder gesagt. Reich-Ranicki hat dem neuen Deutschland viel gegeben. Umgekehrt hat das neue Deutschland Reich-Ranicki viel gegeben. Man nennt so etwas „Symbiose“. Es liegt an uns allen, sie dauerhaft zu sichern. Gelingt es uns, erweisen wir uns Marcel Reich-Ranickis Vermächtnis würdig.
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