Preußische Verfassung
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Preußische Verfassung
Die Preußische Verfassung von 1848 wurde im Rahmen des Konstitutionalismus am 5. Dezember 1848 als Reaktion auf die Märzrevolution in Berlin von König Friedrich Wilhelm IV. für den gesamten preußischen Staat oktroyiert. Obwohl nicht, wie vorgesehen, zwischen König und Nationalversammlung vereinbart, übernahm die Verfassung erstmals auf deutschem Boden viele liberale Positionen, einen großen Grundrechte-Katalog sowie die Einführung von Schwurgerichten verbunden mit dem Auftrag zur Sicherstellung von Rechtssicherheit und Kontrolle des Monarchen.
Karikatur über Friedrich Wilhelm zur Einführung der Verfassung; dem König hilft sein Bruder, der Prinz von Preußen, der spätere Wilhelm I. (Deutsches Reich)
Weder die Akzeptanz der Verfassung noch die späteren Reformen dürfen aber darüber hinwegtäuschen, dass in Preußen weiterhin deutliche Einschränkungen hin zu einer demokratischen Staatsordnung bestanden. Die Gesetzesentscheidungskompetenz der Kammern und die meisten Grundrechte durften im Falle eines Kriegs oder Aufruhrs außer Kraft gesetzt werden, auch ein absolutes Veto des König blieb erhalten. Eine Gewaltenteilung war sehr eingeschränkt vorhanden, es bestand Zensuswahl, die Rechtsprechung konnte vom Monarchen umgangen werden und das Militär musste als Staat im Staate bezeichnet werden. Diese Kritikpunkte an der Verfassung müssen aber auch vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Situation nach der Märzrevolution betrachtet werden, und so ist es durchaus verständlich, dass für viele Bürger eine „halbliberale“ Verfassung dem weiteren Ausnahmezustand durch Revolution vorzuziehen war.
Geschichtliche Rahmenhandlung
Der Artikel 13 der Deutschen Bundesakte des Deutschen Bundes von 1815 bestimmte, dass jeder Mitgliedsstaat des Bundes über eine eigene Verfassung verfügen müsse ("In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung Statt finden."). Dies galt auch für Preußen. Die Ausarbeitung einer Verfassungsurkunde für den preußischen Staat verzögerte sich jedoch aufgrund der ablehnenden Haltung der preußischen Könige Friedrich Wilhelm III. (Verfassungsversprechen von 1810 und 1815 waren uneingelöst geblieben[1]) und Friedrich Wilhelm IV., welcher sich auf sein Gottesgnadentum berief.
Die Verfassung muss hingegen als Reaktion auf die revolutionären Ereignisse in Deutschland im Allgemeinen und in Berlin im Besonderen betrachtet werden. Bis Mitte März 1848 war Preußen im Gegensatz zu anderen deutschen Staaten und ganz besonders im Gegensatz zu Frankreich „nur in Teilregionen [...] von der revolutionären Bewegung erfasst“[2] Der König verfolgte bis zu dieser Zeit eine Politik der kleinen Zugeständnisse an den liberalen Zeitgeist, um eine Revolution zu verhindern. In diesen Zusammenhang lässt sich beispielsweise das Versprechen der periodischen Einberufung des Landtags am 6. März 1848 einordnen, wenn auch diese Zusage erst kam, „als es schon zu spät war“[3] und auch ihre Wirkung nicht mehr die erhoffte war.
Nach dem Sturz Metternichs riefen die Berliner Demokraten am 18. März in Berlin zu einer Großdemonstration auf. Unter dem Druck der Ereignisse gewährte Friedrich Wilhelm IV die Pressefreiheit, erließ ein Patent wegen „beschleunigter Einberufung des vereinigten Landtags“[4] und verlangte weitreichende liberale Reformen. Trotzdem geriet die Demonstration außer Kontrolle, Soldaten schritten ein, Schüsse fielen, ein Barrikadenkampf begann. Der König war gezwungen, am 19. März zu verkünden, dass nach Entfernung der Barrikaden „alle Straßen und Plätze sogleich von den Truppen geräumt werden sollen“.[5]
Eine Proklamation des Königs in der Allgemeinen Preußischen Zeitung vom 22. März versprach weitreichende Zugeständnisse an den Zeitgeist. Die nach demselben Wahlgesetz wie die preußischen Vertreter der Frankfurter Nationalversammlung indirekt gewählte Nationalversammlung[6] wurde von Friedrich Wilhelm IV. dazu beauftragt, eine Verfassung zur Vereinbarung vorzulegen. Die angestrebte Zusammenarbeit zwischen der Preußischen Nationalversammlung und dem königlich-preußischen Ministerium scheiterte jedoch an den unterschiedlichen Vorstellungen des Königs bzw. des Ministeriums und den Mitgliedern der Nationalversammlung. Am 26. Juli legte diese einen Verfassungsentwurf, die sogenannte „Charte Waldeck“ vor, die unter anderem die Abschaffung des königlichen Vetorechts forderte, den Übergang Preußens in eine konstitutionelle Monarchie bedeutet hätte und die er, wie „der König dem Ministerpräsidenten erklärt[e] […] 'niemals und unter keiner Bedingung annehmen würde'“.[7]
Parallel zur vergangenen Zeit seit der Märzrevolution erstarkten die reaktionären Kräfte um den König, was sich bereits anhand der Ernennung des konservativen Grafen Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg als Nachfolger des Ministerpräsidenten Ernst von Pfuel gegen den Willen der Nationalversammlung zeigte.[8] Am 9. November wurde die Nationalversammlung gar „zu ihrer eigenen Sicherheit“ vertagt und nach Brandenburg verlegt.[9]
Einen knappen Monat später, am 5. Dezember, erließ der König nach intensiver Überarbeitung der bisherigen Verfassungsentwürfe durch seine Regierung, vor allem durch Otto Theodor von Manteuffel, eine Verfassung, die, zur Überraschung der Bevölkerung, viele liberale Positionen übernahm und die sich eng an der Charte Waldeck anlehnte. Die Nationalversammlung wurde aufgelöst. Diese Verfassung wurde von ihm Anfang 1850 in Teilen abgeändert.
Bestimmungen im Verfassungstext
Grundrechte
Die Grundrechte der preußischen Verfassung von 1848 sind, wie sich bereits aus der Überschrift („Von den Rechten der Preußen“[10] ) ergibt, ausschließlich Bürgerrechte. Die Bedingungen zu Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft bestimmt ein Gesetz.[10] Auch wird in Artikel 9 der Verlust der staatsbürgerlichen Rechte durch Richterspruch nach einer begangenen Straftat (bürgerlicher Tod) ausgeschlossen.[10]
Bereits in Artikel 4 wird den preußischen Staatsbürgern pro forma Gleichheit vor dem Gesetz und Verbot der Standesvorrechte versichert. Inwiefern dieser Artikel mit der späteren Wahlrechtsreform der zweiten Kammer kollidiert, wird in einem eigenen Punkt zu klären sein.
Die Verfassung gewährleistet die persönliche Freiheit,[10] jedoch wird diese durch das „Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit“ im Bezug auf Verhaftungen untergraben, da im betreffenden Gesetz die Möglichkeit einer „Schutzhaft“ [11] ohne konkrete Beweise einer Straftat eröffnet wird.
Sehr progressiv ist die Gesetzgebung betreffend der Unverletzlichkeit der Wohnung. Den preußischen Staatsbürgern wird die Wohnung als Privatsphäre zugesichert, die nur durch Gesetze, beispielsweise in Fällen einer Hausdurchsuchung, eingeschränkt werden kann. Eingriffe in das Grundrecht des Briefgeheimnisses, das ebenfalls in Artikel 6 behandelt wird, sind, vergleichbar mit dem heutigen bundesdeutschen Artikel 10,[12] nur auf richterlichen Befehl, bei Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen zulässig. Ein Widerspruch hierzu findet sich jedoch in Artikel 33 der Verfassung: Hier werden strafrechtliche Untersuchungen als Ausnahmefall des Briefgeheimnisses festgelegt, des Weiteren existieren in „Kriegsfällen notwendige[..] Beschränkungen“.[10] Der Status des Krieges als „Ausnahmezustand“ für die preußische Demokratie zeigt sich hier deutlich, wie auch später in Artikel 111.
Die Verfassung gewährleistet das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit mit einigen Einschränkungen in den Artikeln 24 bis 26. So ist es jedem preußischen Staatsbürger erlaubt, sich „durch Wort Schrift, Druck und bildliche Darstellung [..] frei zu äußern“,[10] jegliche Zensur oder Hemmung des Rechts der freien Meinungsäußerung ist verboten. Die Strafbarkeit von Meinungs- und Pressevergehen erfolgt auf der Grundlage eines „besondere[n] vorläufige[n] Gesetz[es]“.[10] Den Verlegern, Druckern und Verteilern eines jeden Textes, dessen Inhalte gegen Gesetze verstoßen, wird, falls keine weitere Mitschuld besteht, Straffreiheit zugesichert. Diese Rechtslage begünstigt die politische und gesellschaftliche Opposition in der Presse, da im Regelfall nur der Autor verantwortlich und des Pressevergehens schuldig ist und damit polizeiliche Verfolgung befürchten muss. Der Verleger hingegen kann kritische Schriften publizieren, ohne dabei selbst ein großes Risiko einzugehen.
Versammlungsfreiheit, also das Recht auf friedliche Versammlungen in geschlossenen Räumen ohne Anmeldung, wird in Artikel 27 gewährleistet. Einschränkungen bezüglich Versammlungen unter freiem Himmel unterliegen einem Gesetz. Bis zu dessen Inkrafttreten müssen Versammlungen unter freiem Himmel mindestens einen Tag zuvor angemeldet werden. Sie dürfen mit Verweis auf Gefährlichkeit für die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ [10] abgewiesen werden. Damit ist die Organisation, beispielsweise einer Demonstration im Freien, stark von der Auslegung der Behörden abhängig, gleichwohl der so Abgewiesene durch eine Petition gegen diese Entscheidung vorgehen kann, denn „das Petitionsrecht steht allen Preußen zu.“[10] Nähere Angaben, beispielsweise betreffend der Art der Petition und an welche Kammer sie gerichtet werden kann, fehlen im Verfassungstext gänzlich.[10]
Jeder Preuße hat gemäß Artikel 7 der Verfassung das unbedingte Recht auf einen „gesetzlichen Richter“,[10] nur ordentliche Gerichte dürfen Strafen gemäß einem Gesetz verhängen.
In Artikel 8 wird den preußischen Staatsbürgern der Eigentumsschutz gewährleistet. Die Unverletzlichkeit des Eigentums ist nur durch Entzug oder Beschränkung aus Gründen des öffentlichen Wohles eingeschränkt. Eine verpflichtende Entschädigung ist an den Geschädigten zu zahlen. Damit gleicht der Eigentumsschutz in der preußischen Verfassung von 1848 aktuellen Regelungen.[13]
Die freie Religionswahl und -ausübung ebenso wie das Recht, sich in religiösen oder anderen Gesellschaften zu vereinigen, sind gewährleistet. Des Weiteren beschäftigen sich die Artikel 11 bis 16 mit der Koexistenz von Religion und Staat. Der preußische Staat gewährleistet alle staatsbürgerlichen Rechte unabhängig von der Religion des Einzelnen, gleichzeitig darf die Religionsausübung jedoch die staatsbürgerlichen Pflichten nicht behindern. Alle Religionsgesellschaften (mit besonderer Betonung der „evangelischen und römisch-katholischen Kirche“[10] im Verfassungstext) üben ihre Rechte (beispielsweise die Besetzung kirchlicher Stellen) autonom aus, für die Veröffentlichung ihrer Anordnungen gelten dieselben Regeln wie für normale Veröffentlichungen. Eine obligatorische Zivilehe existiert als Voraussetzung einer religiösen Eheschließung, die religiöse Eheschließung ist aber für die rechtliche Gültigkeit der Ehe unbedeutend.[10]
Der preußische Staat gewährleistet die Unabhängigkeit der Wissenschaft und der Lehre.[10] Jeder preußische Jugendliche hat ein Grundrecht auf allgemeine, kostenfreie[10] Bildung an öffentlichen Volksschulen; eine Schulpflicht besteht. Die Gründung von privaten Unterrichtsanstalten ist gewährleistet, die Voraussetzung für die Arbeit als Lehrer an öffentlichen oder privaten Schulen ist der Nachweis der „sittlichen, wissenschaftlichen und technischen Befähigung“[10] bei den zuständigen Staatsbehörden. Der Religionsunterricht an Volksschulen unterliegt den Religionsgesellschaften. Die Lehrer an öffentlichen Schulen sind Staatsdiener, ihnen wird vom Staat ein ausreichendes Gehalt gewährt. Die Leitung öffentlicher Schulen und die Auswahl der Lehrer sowie die finanzielle Verpflichtung für die Unterhaltung der Schulen obliegt den Gemeinden.[10]
Die persönliche Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, das Recht auf einen gesetzlichen Richter, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Bestrafung von Pressevergehen, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Vereinigung in Gesellschaften dürfen auf der Basis des Artikels 110 der preußischen oktroyierten Verfassung von 1848 im Falle eines „Krieges oder Aufruhrs [...] zeit- und distriktweise außer Kraft gesetzt werden“.[10] Damit werden die Grundlagen des demokratischen Staates untergraben, weil weder Kontrolle der Regierung (durch Presse, Demonstrationen oder Gesellschaften) noch Rechtssicherheit (durch das Recht auf einen gesetzlichen Richter) gewährleistet ist.
Gesetzgebung und Kammern
Die Legislative obliegt dem König und beiden Kammern, wie auch aus dem Verfassungsschema ersichtlich wird, in dem die gleichen Anteile an der Legislative (in der Abbildung rot) durch drei Pfeile verdeutlicht werden. Durch die Aufteilung der Gesetzgebung ist das Prinzip der Gewaltenteilung stark eingeschränkt verwirklicht, da dem König allein gleichzeitig die exekutive Gewalt und das Bestimmungsrecht der Judikative zusteht.[10]
Gewaltenverschränkung zwischen Legislative und Exekutive findet nur sehr eingeschränkt statt, da die Minister wenn auch dem Parlament gegenüber verantwortlich, so aber nicht durch Ernennung oder Entlassung abhängig sind.[10] Der König kann aber, was die Gewaltenteilung und das parlamentarische Prinzip vollends untergräbt, „in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des gesamten Staatsministeriums [das durch Entlassung vom König abhängig ist], Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen“, die „aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt [den der König durch Auflösung der Kammer um 60 Tage aufschieben kann] zur Genehmigung vorzulegen“ sind.[10]
Die Gesetzesinitiative liegt beim König und den beiden Kammern gleichermaßen.[10] Ein und derselbe Gesetzesantrag kann nur einmal pro Sitzungsperiode vorgeschlagen werden.[10] Am Anfang eines Gesetzesantrags durch eine Kammer steht deren Einberufung durch den König, die immer bei beiden Kammern gleichzeitig stattfinden muss. Die Kammern werden allein durch den König „eröffnet, vertagt (für 30 Tage und nur einmal pro Sitzungsperiode) und geschlossen“, außerdem kann der König beide oder eine Kammer jederzeit auflösen, um sie nach maximal 40 Tagen wiederwählen zu lassen und nach maximal 60 Tagen erneut zu versammeln,[10] ein Mittel für ihn, die Legislative zu lähmen. Im November jeden Jahres müssen die Kammern einberufen werden.[10] Nach der Einberufung entscheiden sie über eigene Gesetzesanträge auf Initiative des Präsidenten oder mindestens 10 Mitgliedern in einer geheimen Sitzung oder stimmen über Gesetzesanträge des Königs oder der anderen Kammer nach dem Prinzip der absoluten Mehrheit ab. Um eine Abstimmung durchzuführen, muss die Mehrheit der Mitglieder einer Kammer anwesend sein.[10] Zum Erlass eines Gesetzes müssen alle drei Parteien zustimmen,[10] sie sind so im Gesetzgebungsprozess völlig gleichberechtigt. Folglich fällt beiden Kammern und natürlich dem König ein Vetorecht auf neue Gesetze zu. Die Verfassung selbst ist „auf dem ordentlichen Weg der Gesetzgebung“[10] änderbar. Ein unveränderlicher Verfassungskern existiert nicht. Damit kommt der Status der Verfassung, zumindest was die Beständigkeit und Möglichkeiten der Änderung anbelangt, dem eines normalen Gesetzes gleich. Zumindest subjektiv entsteht der Eindruck, die Verfassung habe gegenüber einem Gesetzes keine höhere Relevanz.
Geschäftsgang und Geschäftsordnung sowie Wahl des (Vize-)Präsidenten, ihres Schriftführers und Entscheidungen betreffend ihrer Mitglieder fällen die Kammern autonom. Sie dürfen außerdem Schriften an den König richten und Untersuchungskommissionen bilden.[10]
Ein beschlossenes Gesetz muss, um Gültigkeit zu erlangen, „in der vom Gesetz vorgeschriebenen Form bekannt gemacht worden“ sein.[10] Die Verkündigung des Gesetzes ist Aufgabe des Königs.[10] Theoretisch kann der König durch Verzögerung der Verkündigung eines Gesetzes dessen Verbindlichkeit aufschieben.[10]
Die 180 Mitglieder der ersten Kammer, preußische Staatsbürger seit mindestens fünf Jahren im Alter von über 40 Jahren, werden von den Wählern indirekt auf 6 Jahre gewählt, als Wahlmänner fungieren Provinzial-, Bezirks- und Kreisvertreter.[10] Wahlberechtigt zur Wahl der ersten Kammer ist jeder preußische Staatsbürger, der mindestens dreißig Jahre alt ist und einen „jährlichen Klassensteuersatz von mindestens acht Thalern zahlt, oder einen Grundbesitz im Werthe von mindestens 5000 Thalern oder ein reines jährliches Einkommen von fünfhundert Thalern nachweist“.[14] Damit handelt es sich bei der ersten Kammer um ein indirekt durch Zensuswahlrecht gewähltes Parlament.
Die zweite Kammer, bestehend aus 350 Mitgliedern, die mindestens 30 Jahre alt und seit mindestens einem Jahr preußische Staatsbürger sein müssen, wird über Wahlmänner gewählt. Zu deren Wahl ist jeder „selbstständige“[10] preußische Staatsbürger, der keine Armenunterstützung erhält, berechtigt. Ein „Wahlausführungsgesetz“[10] bestimmt weitere Einzelheiten der Wahl. Das daraus essenzielle Änderungen der Wahlordnung hervorgingen, wird in einem eigenen Kapitel beschrieben. Die Legislaturperiode der zweiten Kammer dauert drei Jahre.[10] Auch hier lässt sich nicht von einer allgemeinen Wahl sprechen, da auf staatliche Hilfe angewiesene Bürger kein Wahlrecht besitzen. Auch die Mitglieder der zweiten Kammer können ergo nicht als „Vertreter des ganzen Volkes“[10] bezeichnet werden. Die Mitglieder beider Kammern besitzen ein freies Mandat, stimmen also „nach ihrer freien Überzeugung“.[10] Gleichzeitig sind sie aber verpflichtet, „dem König und der Verfassung Treue und Gehorsam zu schwören“.[10]
Den Parlamentariern stehen Indemnität und eingeschränkte Politische Immunität zu.[10] Die Immunität der Abgeordneten gilt nur während der Sitzungsperiode und für den Fall, dass der Parlamentarier nicht innerhalb eines Tages nach Begehen der Straftat gefasst wird.[10] Auf Verlangen der betroffenen Kammer muss jedoch das Strafverfahren gegen deren Mitglied kurzfristig ausgesetzt und die Haft für die Zeit der Sitzung der Kammer beendet werden.[10] Die Mitglieder der zweiten Kammer erhalten Reisekosten und Diäten, die der ersten erhalten keine.[10]
Exekutive und Verwaltung
Als oberstes Exekutivorgan fungiert der König, der bei Antritt der Regentschaft einen Eid auf die Verfassung schwört.[10] Unter anderem dieser Verfassungseid kennzeichnet das Preußen nach 1848 als konstitutionellen Monarchie, die aber, widersprüchlicherweise in der Nachfolge des absolutistischen Machtanspruchs steht, wie sich aus der Präambel ergibt: „Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden“.[10] Der König genießt Immunität, abgeleitet aus dem Satz: „Die Person des Königs ist unverletzlich“.[10] Er kann in vielen Punkten von den Kammern ungehindert regieren; so hat der König das Recht, ohne Einbezug einer Kammer, „Krieg zu erklären, Frieden zu schließen und Verträge mit fremden Regierungen zu errichten“[10] gleichwohl er zum Abschluss von Handelsverträgen oder anderen Verträgen, die den Staat oder die Staatsbürger belasten oder verpflichten[10] und für die Herrschaft über ein fremdes Land die Zustimmung der Kammern benötigt. Er übt also außenpolitische Macht weitestgehend ohne parlamentarische Kontrolle aus. Des Weiteren obliegt allein dem König das Münzrecht.[10] Die Regentschaft geht jeweils an den ältesten Sohn des Königs weiter.[10] Falls nicht zuvor „durch ein besonders Gesetz für Beides Vorsorge getroffen“[10] worden ist, bestimmen beide Kammern die Regentschaft und Vormundschaft des Königs im Falle dessen Minderjährigkeit (im Alter unter 18 Jahren)[10] oder Regierungsunfähigkeit.[10]
Dem König untergeordnet sind seine Minister, über deren Ernennung, Entlassung und Anzahl er frei bestimmen darf. Die Minister sind den Kammern gegenüber verantwortlich[10] und auskunftspflichtig über eingehende Beschwerden, die sie erhalten.[10] Außerdem kann ihre Gegenwart von einer Kammer jederzeit verlangt werden.[10] Die Minister müssen aber auch von den Kammern gehört werden, wenn sie es selbst verlangen.[10] Eine Immunität der Minister (für den Fall, dass sie nicht Mitglied einer Kammer sind) ist im Verfassungstext nicht spezifisch geregelt, sie können aber „durch Beschluss einer Kammer wegen des Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Bestechung und des Verrathes angeklagt werden.“,[10] worüber der oberste Gerichtshof entscheidet. Ob dieser Artikel zusätzliche Straftatbestände für Minister anspricht, oder hingegen still deren Immunität voraussetzt und diese drei Straftatbestände als Ausnahme zur Immunität der Minister nennt, geht aus der Verfassung nicht hervor.
Die Finanzverwaltung und der Etat des Staates unterliegen weitreichender parlamentarischer Kontrolle. Der Etat wird ein Jahr im Voraus durch ein Gesetz bestimmt. Alle Stellen im Staatsdienst werden vom König besetzt.[10] Da Steuern und Abgaben nur durch Aufnahme in den Staatshaushalt oder durch ein Gesetz erhoben werden dürfen,[10] ist deren Erhebung nur durch Zustimmung des Königs und beider Kammern verfassungskonform. Auch die Aufnahme von Staatsanleihen und Staatsgarantien bedarf der Zustimmung der drei legislativen Organe.[10] „Bevorzugungen“ im Steuerwesen sind nach der Verfassung nicht erlaubt.[10]
Die Ober-Rechnungskammer prüft den Etat des vergangenen Jahres und legt ihn den Kammern vor, die die Regierung entlasten und im Falle einer Etatsüberschreitung nachträglich zustimmen müssen.[10] Zu allen wichtigen staatshaushaltlichen Entscheidungen ist nach der preußischen Verfassung von 1848 die Zustimmung beider Kammern erforderlich, was zweifellos ein großer Machtgewinn für die Demokratie bedeutete.
Die Gebietskörperschaften Preußens sind Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden.[10] Damit sind die Grundlagen für die Subsidiarität im preußischen Staat gelegt, wie auch daraus hervorgeht, dass die „aus gewählten Vertretern bestehende[n] Versammlungen“ „über die inneren und besonderen Angelegenheiten der Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden beschließen“,[10] also ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig entscheiden dürfen. Die Grenzen der vertikalen Gewaltenteilung, also wann „die Beschlüsse der Gemeinden-, Kreis-, Bezirks-, und Provinzialvertretung der Genehmigung einer höheren Vertretung oder der Staatsregierung unterworfen sind“ bestimmt ein Gesetz.[10] Die Gebietskörperschaften müssen des Weiteren über ihren Etat gegenüber der Staatsregierung Rechenschaft ablegen.[10] Auch die Verwaltung der Ortspolizei in Städten unter 30.000 Einwohnern unterliegt der Gemeinde.[10]
Wie auch die Vorsteher der Gebietskörperschaften, mit Ausnahme der Gemeinden (deren Vorsteher „von den Gemeindemitgliedern gewählt“ werden[10]), werden allgemein alle Stellen im Staatsdienst vom König besetzt.[10] Die Staatsbeamten „haben dem König und der Verfassung Treue und Gehorsam zu schwören“.[10] Sicherlich eher formaler Natur, deutet der Eid aber an, dass im Selbstverständnis des Königs Beamten nicht nur der Verfassung, sondern in gleichem Maße auch seiner Person gegenüber verantwortlich sind. Es soll Rücksicht auf den Beamtenstatus der Staatsdiener genommen werden, ihnen soll „gegen willkürliche Entziehung von Amt und Einkommen angemessener Schutz gewährt“ werden.[10] Auch die Beamten, die vor der Verfassungsgebung angestellt waren, sollen hierbei berücksichtigt werden.[10] Alle Beamten sind aufgrund von „durch Überschreitung ihrer Amtsbefugnisse verübten Rechtsverletzungen gerichtlich zu belangen“. Dafür ist keine „vorgängige Genehmigung der Behörden“ notwendig,[10] Beamten sind damit jedem Bürger in Fällen gerichtlicher Verfolgung gleichgestellt.
Weiter geht es in Teil 2
Karikatur über Friedrich Wilhelm zur Einführung der Verfassung; dem König hilft sein Bruder, der Prinz von Preußen, der spätere Wilhelm I. (Deutsches Reich)
Weder die Akzeptanz der Verfassung noch die späteren Reformen dürfen aber darüber hinwegtäuschen, dass in Preußen weiterhin deutliche Einschränkungen hin zu einer demokratischen Staatsordnung bestanden. Die Gesetzesentscheidungskompetenz der Kammern und die meisten Grundrechte durften im Falle eines Kriegs oder Aufruhrs außer Kraft gesetzt werden, auch ein absolutes Veto des König blieb erhalten. Eine Gewaltenteilung war sehr eingeschränkt vorhanden, es bestand Zensuswahl, die Rechtsprechung konnte vom Monarchen umgangen werden und das Militär musste als Staat im Staate bezeichnet werden. Diese Kritikpunkte an der Verfassung müssen aber auch vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Situation nach der Märzrevolution betrachtet werden, und so ist es durchaus verständlich, dass für viele Bürger eine „halbliberale“ Verfassung dem weiteren Ausnahmezustand durch Revolution vorzuziehen war.
Geschichtliche Rahmenhandlung
Der Artikel 13 der Deutschen Bundesakte des Deutschen Bundes von 1815 bestimmte, dass jeder Mitgliedsstaat des Bundes über eine eigene Verfassung verfügen müsse ("In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung Statt finden."). Dies galt auch für Preußen. Die Ausarbeitung einer Verfassungsurkunde für den preußischen Staat verzögerte sich jedoch aufgrund der ablehnenden Haltung der preußischen Könige Friedrich Wilhelm III. (Verfassungsversprechen von 1810 und 1815 waren uneingelöst geblieben[1]) und Friedrich Wilhelm IV., welcher sich auf sein Gottesgnadentum berief.
Die Verfassung muss hingegen als Reaktion auf die revolutionären Ereignisse in Deutschland im Allgemeinen und in Berlin im Besonderen betrachtet werden. Bis Mitte März 1848 war Preußen im Gegensatz zu anderen deutschen Staaten und ganz besonders im Gegensatz zu Frankreich „nur in Teilregionen [...] von der revolutionären Bewegung erfasst“[2] Der König verfolgte bis zu dieser Zeit eine Politik der kleinen Zugeständnisse an den liberalen Zeitgeist, um eine Revolution zu verhindern. In diesen Zusammenhang lässt sich beispielsweise das Versprechen der periodischen Einberufung des Landtags am 6. März 1848 einordnen, wenn auch diese Zusage erst kam, „als es schon zu spät war“[3] und auch ihre Wirkung nicht mehr die erhoffte war.
Nach dem Sturz Metternichs riefen die Berliner Demokraten am 18. März in Berlin zu einer Großdemonstration auf. Unter dem Druck der Ereignisse gewährte Friedrich Wilhelm IV die Pressefreiheit, erließ ein Patent wegen „beschleunigter Einberufung des vereinigten Landtags“[4] und verlangte weitreichende liberale Reformen. Trotzdem geriet die Demonstration außer Kontrolle, Soldaten schritten ein, Schüsse fielen, ein Barrikadenkampf begann. Der König war gezwungen, am 19. März zu verkünden, dass nach Entfernung der Barrikaden „alle Straßen und Plätze sogleich von den Truppen geräumt werden sollen“.[5]
Eine Proklamation des Königs in der Allgemeinen Preußischen Zeitung vom 22. März versprach weitreichende Zugeständnisse an den Zeitgeist. Die nach demselben Wahlgesetz wie die preußischen Vertreter der Frankfurter Nationalversammlung indirekt gewählte Nationalversammlung[6] wurde von Friedrich Wilhelm IV. dazu beauftragt, eine Verfassung zur Vereinbarung vorzulegen. Die angestrebte Zusammenarbeit zwischen der Preußischen Nationalversammlung und dem königlich-preußischen Ministerium scheiterte jedoch an den unterschiedlichen Vorstellungen des Königs bzw. des Ministeriums und den Mitgliedern der Nationalversammlung. Am 26. Juli legte diese einen Verfassungsentwurf, die sogenannte „Charte Waldeck“ vor, die unter anderem die Abschaffung des königlichen Vetorechts forderte, den Übergang Preußens in eine konstitutionelle Monarchie bedeutet hätte und die er, wie „der König dem Ministerpräsidenten erklärt[e] […] 'niemals und unter keiner Bedingung annehmen würde'“.[7]
Parallel zur vergangenen Zeit seit der Märzrevolution erstarkten die reaktionären Kräfte um den König, was sich bereits anhand der Ernennung des konservativen Grafen Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg als Nachfolger des Ministerpräsidenten Ernst von Pfuel gegen den Willen der Nationalversammlung zeigte.[8] Am 9. November wurde die Nationalversammlung gar „zu ihrer eigenen Sicherheit“ vertagt und nach Brandenburg verlegt.[9]
Einen knappen Monat später, am 5. Dezember, erließ der König nach intensiver Überarbeitung der bisherigen Verfassungsentwürfe durch seine Regierung, vor allem durch Otto Theodor von Manteuffel, eine Verfassung, die, zur Überraschung der Bevölkerung, viele liberale Positionen übernahm und die sich eng an der Charte Waldeck anlehnte. Die Nationalversammlung wurde aufgelöst. Diese Verfassung wurde von ihm Anfang 1850 in Teilen abgeändert.
Bestimmungen im Verfassungstext
Grundrechte
Die Grundrechte der preußischen Verfassung von 1848 sind, wie sich bereits aus der Überschrift („Von den Rechten der Preußen“[10] ) ergibt, ausschließlich Bürgerrechte. Die Bedingungen zu Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft bestimmt ein Gesetz.[10] Auch wird in Artikel 9 der Verlust der staatsbürgerlichen Rechte durch Richterspruch nach einer begangenen Straftat (bürgerlicher Tod) ausgeschlossen.[10]
Bereits in Artikel 4 wird den preußischen Staatsbürgern pro forma Gleichheit vor dem Gesetz und Verbot der Standesvorrechte versichert. Inwiefern dieser Artikel mit der späteren Wahlrechtsreform der zweiten Kammer kollidiert, wird in einem eigenen Punkt zu klären sein.
Die Verfassung gewährleistet die persönliche Freiheit,[10] jedoch wird diese durch das „Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit“ im Bezug auf Verhaftungen untergraben, da im betreffenden Gesetz die Möglichkeit einer „Schutzhaft“ [11] ohne konkrete Beweise einer Straftat eröffnet wird.
Sehr progressiv ist die Gesetzgebung betreffend der Unverletzlichkeit der Wohnung. Den preußischen Staatsbürgern wird die Wohnung als Privatsphäre zugesichert, die nur durch Gesetze, beispielsweise in Fällen einer Hausdurchsuchung, eingeschränkt werden kann. Eingriffe in das Grundrecht des Briefgeheimnisses, das ebenfalls in Artikel 6 behandelt wird, sind, vergleichbar mit dem heutigen bundesdeutschen Artikel 10,[12] nur auf richterlichen Befehl, bei Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen zulässig. Ein Widerspruch hierzu findet sich jedoch in Artikel 33 der Verfassung: Hier werden strafrechtliche Untersuchungen als Ausnahmefall des Briefgeheimnisses festgelegt, des Weiteren existieren in „Kriegsfällen notwendige[..] Beschränkungen“.[10] Der Status des Krieges als „Ausnahmezustand“ für die preußische Demokratie zeigt sich hier deutlich, wie auch später in Artikel 111.
Die Verfassung gewährleistet das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit mit einigen Einschränkungen in den Artikeln 24 bis 26. So ist es jedem preußischen Staatsbürger erlaubt, sich „durch Wort Schrift, Druck und bildliche Darstellung [..] frei zu äußern“,[10] jegliche Zensur oder Hemmung des Rechts der freien Meinungsäußerung ist verboten. Die Strafbarkeit von Meinungs- und Pressevergehen erfolgt auf der Grundlage eines „besondere[n] vorläufige[n] Gesetz[es]“.[10] Den Verlegern, Druckern und Verteilern eines jeden Textes, dessen Inhalte gegen Gesetze verstoßen, wird, falls keine weitere Mitschuld besteht, Straffreiheit zugesichert. Diese Rechtslage begünstigt die politische und gesellschaftliche Opposition in der Presse, da im Regelfall nur der Autor verantwortlich und des Pressevergehens schuldig ist und damit polizeiliche Verfolgung befürchten muss. Der Verleger hingegen kann kritische Schriften publizieren, ohne dabei selbst ein großes Risiko einzugehen.
Versammlungsfreiheit, also das Recht auf friedliche Versammlungen in geschlossenen Räumen ohne Anmeldung, wird in Artikel 27 gewährleistet. Einschränkungen bezüglich Versammlungen unter freiem Himmel unterliegen einem Gesetz. Bis zu dessen Inkrafttreten müssen Versammlungen unter freiem Himmel mindestens einen Tag zuvor angemeldet werden. Sie dürfen mit Verweis auf Gefährlichkeit für die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ [10] abgewiesen werden. Damit ist die Organisation, beispielsweise einer Demonstration im Freien, stark von der Auslegung der Behörden abhängig, gleichwohl der so Abgewiesene durch eine Petition gegen diese Entscheidung vorgehen kann, denn „das Petitionsrecht steht allen Preußen zu.“[10] Nähere Angaben, beispielsweise betreffend der Art der Petition und an welche Kammer sie gerichtet werden kann, fehlen im Verfassungstext gänzlich.[10]
Jeder Preuße hat gemäß Artikel 7 der Verfassung das unbedingte Recht auf einen „gesetzlichen Richter“,[10] nur ordentliche Gerichte dürfen Strafen gemäß einem Gesetz verhängen.
In Artikel 8 wird den preußischen Staatsbürgern der Eigentumsschutz gewährleistet. Die Unverletzlichkeit des Eigentums ist nur durch Entzug oder Beschränkung aus Gründen des öffentlichen Wohles eingeschränkt. Eine verpflichtende Entschädigung ist an den Geschädigten zu zahlen. Damit gleicht der Eigentumsschutz in der preußischen Verfassung von 1848 aktuellen Regelungen.[13]
Die freie Religionswahl und -ausübung ebenso wie das Recht, sich in religiösen oder anderen Gesellschaften zu vereinigen, sind gewährleistet. Des Weiteren beschäftigen sich die Artikel 11 bis 16 mit der Koexistenz von Religion und Staat. Der preußische Staat gewährleistet alle staatsbürgerlichen Rechte unabhängig von der Religion des Einzelnen, gleichzeitig darf die Religionsausübung jedoch die staatsbürgerlichen Pflichten nicht behindern. Alle Religionsgesellschaften (mit besonderer Betonung der „evangelischen und römisch-katholischen Kirche“[10] im Verfassungstext) üben ihre Rechte (beispielsweise die Besetzung kirchlicher Stellen) autonom aus, für die Veröffentlichung ihrer Anordnungen gelten dieselben Regeln wie für normale Veröffentlichungen. Eine obligatorische Zivilehe existiert als Voraussetzung einer religiösen Eheschließung, die religiöse Eheschließung ist aber für die rechtliche Gültigkeit der Ehe unbedeutend.[10]
Der preußische Staat gewährleistet die Unabhängigkeit der Wissenschaft und der Lehre.[10] Jeder preußische Jugendliche hat ein Grundrecht auf allgemeine, kostenfreie[10] Bildung an öffentlichen Volksschulen; eine Schulpflicht besteht. Die Gründung von privaten Unterrichtsanstalten ist gewährleistet, die Voraussetzung für die Arbeit als Lehrer an öffentlichen oder privaten Schulen ist der Nachweis der „sittlichen, wissenschaftlichen und technischen Befähigung“[10] bei den zuständigen Staatsbehörden. Der Religionsunterricht an Volksschulen unterliegt den Religionsgesellschaften. Die Lehrer an öffentlichen Schulen sind Staatsdiener, ihnen wird vom Staat ein ausreichendes Gehalt gewährt. Die Leitung öffentlicher Schulen und die Auswahl der Lehrer sowie die finanzielle Verpflichtung für die Unterhaltung der Schulen obliegt den Gemeinden.[10]
Die persönliche Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, das Recht auf einen gesetzlichen Richter, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Bestrafung von Pressevergehen, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Vereinigung in Gesellschaften dürfen auf der Basis des Artikels 110 der preußischen oktroyierten Verfassung von 1848 im Falle eines „Krieges oder Aufruhrs [...] zeit- und distriktweise außer Kraft gesetzt werden“.[10] Damit werden die Grundlagen des demokratischen Staates untergraben, weil weder Kontrolle der Regierung (durch Presse, Demonstrationen oder Gesellschaften) noch Rechtssicherheit (durch das Recht auf einen gesetzlichen Richter) gewährleistet ist.
Gesetzgebung und Kammern
Die Legislative obliegt dem König und beiden Kammern, wie auch aus dem Verfassungsschema ersichtlich wird, in dem die gleichen Anteile an der Legislative (in der Abbildung rot) durch drei Pfeile verdeutlicht werden. Durch die Aufteilung der Gesetzgebung ist das Prinzip der Gewaltenteilung stark eingeschränkt verwirklicht, da dem König allein gleichzeitig die exekutive Gewalt und das Bestimmungsrecht der Judikative zusteht.[10]
Gewaltenverschränkung zwischen Legislative und Exekutive findet nur sehr eingeschränkt statt, da die Minister wenn auch dem Parlament gegenüber verantwortlich, so aber nicht durch Ernennung oder Entlassung abhängig sind.[10] Der König kann aber, was die Gewaltenteilung und das parlamentarische Prinzip vollends untergräbt, „in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des gesamten Staatsministeriums [das durch Entlassung vom König abhängig ist], Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen“, die „aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt [den der König durch Auflösung der Kammer um 60 Tage aufschieben kann] zur Genehmigung vorzulegen“ sind.[10]
Die Gesetzesinitiative liegt beim König und den beiden Kammern gleichermaßen.[10] Ein und derselbe Gesetzesantrag kann nur einmal pro Sitzungsperiode vorgeschlagen werden.[10] Am Anfang eines Gesetzesantrags durch eine Kammer steht deren Einberufung durch den König, die immer bei beiden Kammern gleichzeitig stattfinden muss. Die Kammern werden allein durch den König „eröffnet, vertagt (für 30 Tage und nur einmal pro Sitzungsperiode) und geschlossen“, außerdem kann der König beide oder eine Kammer jederzeit auflösen, um sie nach maximal 40 Tagen wiederwählen zu lassen und nach maximal 60 Tagen erneut zu versammeln,[10] ein Mittel für ihn, die Legislative zu lähmen. Im November jeden Jahres müssen die Kammern einberufen werden.[10] Nach der Einberufung entscheiden sie über eigene Gesetzesanträge auf Initiative des Präsidenten oder mindestens 10 Mitgliedern in einer geheimen Sitzung oder stimmen über Gesetzesanträge des Königs oder der anderen Kammer nach dem Prinzip der absoluten Mehrheit ab. Um eine Abstimmung durchzuführen, muss die Mehrheit der Mitglieder einer Kammer anwesend sein.[10] Zum Erlass eines Gesetzes müssen alle drei Parteien zustimmen,[10] sie sind so im Gesetzgebungsprozess völlig gleichberechtigt. Folglich fällt beiden Kammern und natürlich dem König ein Vetorecht auf neue Gesetze zu. Die Verfassung selbst ist „auf dem ordentlichen Weg der Gesetzgebung“[10] änderbar. Ein unveränderlicher Verfassungskern existiert nicht. Damit kommt der Status der Verfassung, zumindest was die Beständigkeit und Möglichkeiten der Änderung anbelangt, dem eines normalen Gesetzes gleich. Zumindest subjektiv entsteht der Eindruck, die Verfassung habe gegenüber einem Gesetzes keine höhere Relevanz.
Geschäftsgang und Geschäftsordnung sowie Wahl des (Vize-)Präsidenten, ihres Schriftführers und Entscheidungen betreffend ihrer Mitglieder fällen die Kammern autonom. Sie dürfen außerdem Schriften an den König richten und Untersuchungskommissionen bilden.[10]
Ein beschlossenes Gesetz muss, um Gültigkeit zu erlangen, „in der vom Gesetz vorgeschriebenen Form bekannt gemacht worden“ sein.[10] Die Verkündigung des Gesetzes ist Aufgabe des Königs.[10] Theoretisch kann der König durch Verzögerung der Verkündigung eines Gesetzes dessen Verbindlichkeit aufschieben.[10]
Die 180 Mitglieder der ersten Kammer, preußische Staatsbürger seit mindestens fünf Jahren im Alter von über 40 Jahren, werden von den Wählern indirekt auf 6 Jahre gewählt, als Wahlmänner fungieren Provinzial-, Bezirks- und Kreisvertreter.[10] Wahlberechtigt zur Wahl der ersten Kammer ist jeder preußische Staatsbürger, der mindestens dreißig Jahre alt ist und einen „jährlichen Klassensteuersatz von mindestens acht Thalern zahlt, oder einen Grundbesitz im Werthe von mindestens 5000 Thalern oder ein reines jährliches Einkommen von fünfhundert Thalern nachweist“.[14] Damit handelt es sich bei der ersten Kammer um ein indirekt durch Zensuswahlrecht gewähltes Parlament.
Die zweite Kammer, bestehend aus 350 Mitgliedern, die mindestens 30 Jahre alt und seit mindestens einem Jahr preußische Staatsbürger sein müssen, wird über Wahlmänner gewählt. Zu deren Wahl ist jeder „selbstständige“[10] preußische Staatsbürger, der keine Armenunterstützung erhält, berechtigt. Ein „Wahlausführungsgesetz“[10] bestimmt weitere Einzelheiten der Wahl. Das daraus essenzielle Änderungen der Wahlordnung hervorgingen, wird in einem eigenen Kapitel beschrieben. Die Legislaturperiode der zweiten Kammer dauert drei Jahre.[10] Auch hier lässt sich nicht von einer allgemeinen Wahl sprechen, da auf staatliche Hilfe angewiesene Bürger kein Wahlrecht besitzen. Auch die Mitglieder der zweiten Kammer können ergo nicht als „Vertreter des ganzen Volkes“[10] bezeichnet werden. Die Mitglieder beider Kammern besitzen ein freies Mandat, stimmen also „nach ihrer freien Überzeugung“.[10] Gleichzeitig sind sie aber verpflichtet, „dem König und der Verfassung Treue und Gehorsam zu schwören“.[10]
Den Parlamentariern stehen Indemnität und eingeschränkte Politische Immunität zu.[10] Die Immunität der Abgeordneten gilt nur während der Sitzungsperiode und für den Fall, dass der Parlamentarier nicht innerhalb eines Tages nach Begehen der Straftat gefasst wird.[10] Auf Verlangen der betroffenen Kammer muss jedoch das Strafverfahren gegen deren Mitglied kurzfristig ausgesetzt und die Haft für die Zeit der Sitzung der Kammer beendet werden.[10] Die Mitglieder der zweiten Kammer erhalten Reisekosten und Diäten, die der ersten erhalten keine.[10]
Exekutive und Verwaltung
Als oberstes Exekutivorgan fungiert der König, der bei Antritt der Regentschaft einen Eid auf die Verfassung schwört.[10] Unter anderem dieser Verfassungseid kennzeichnet das Preußen nach 1848 als konstitutionellen Monarchie, die aber, widersprüchlicherweise in der Nachfolge des absolutistischen Machtanspruchs steht, wie sich aus der Präambel ergibt: „Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden“.[10] Der König genießt Immunität, abgeleitet aus dem Satz: „Die Person des Königs ist unverletzlich“.[10] Er kann in vielen Punkten von den Kammern ungehindert regieren; so hat der König das Recht, ohne Einbezug einer Kammer, „Krieg zu erklären, Frieden zu schließen und Verträge mit fremden Regierungen zu errichten“[10] gleichwohl er zum Abschluss von Handelsverträgen oder anderen Verträgen, die den Staat oder die Staatsbürger belasten oder verpflichten[10] und für die Herrschaft über ein fremdes Land die Zustimmung der Kammern benötigt. Er übt also außenpolitische Macht weitestgehend ohne parlamentarische Kontrolle aus. Des Weiteren obliegt allein dem König das Münzrecht.[10] Die Regentschaft geht jeweils an den ältesten Sohn des Königs weiter.[10] Falls nicht zuvor „durch ein besonders Gesetz für Beides Vorsorge getroffen“[10] worden ist, bestimmen beide Kammern die Regentschaft und Vormundschaft des Königs im Falle dessen Minderjährigkeit (im Alter unter 18 Jahren)[10] oder Regierungsunfähigkeit.[10]
Dem König untergeordnet sind seine Minister, über deren Ernennung, Entlassung und Anzahl er frei bestimmen darf. Die Minister sind den Kammern gegenüber verantwortlich[10] und auskunftspflichtig über eingehende Beschwerden, die sie erhalten.[10] Außerdem kann ihre Gegenwart von einer Kammer jederzeit verlangt werden.[10] Die Minister müssen aber auch von den Kammern gehört werden, wenn sie es selbst verlangen.[10] Eine Immunität der Minister (für den Fall, dass sie nicht Mitglied einer Kammer sind) ist im Verfassungstext nicht spezifisch geregelt, sie können aber „durch Beschluss einer Kammer wegen des Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Bestechung und des Verrathes angeklagt werden.“,[10] worüber der oberste Gerichtshof entscheidet. Ob dieser Artikel zusätzliche Straftatbestände für Minister anspricht, oder hingegen still deren Immunität voraussetzt und diese drei Straftatbestände als Ausnahme zur Immunität der Minister nennt, geht aus der Verfassung nicht hervor.
Die Finanzverwaltung und der Etat des Staates unterliegen weitreichender parlamentarischer Kontrolle. Der Etat wird ein Jahr im Voraus durch ein Gesetz bestimmt. Alle Stellen im Staatsdienst werden vom König besetzt.[10] Da Steuern und Abgaben nur durch Aufnahme in den Staatshaushalt oder durch ein Gesetz erhoben werden dürfen,[10] ist deren Erhebung nur durch Zustimmung des Königs und beider Kammern verfassungskonform. Auch die Aufnahme von Staatsanleihen und Staatsgarantien bedarf der Zustimmung der drei legislativen Organe.[10] „Bevorzugungen“ im Steuerwesen sind nach der Verfassung nicht erlaubt.[10]
Die Ober-Rechnungskammer prüft den Etat des vergangenen Jahres und legt ihn den Kammern vor, die die Regierung entlasten und im Falle einer Etatsüberschreitung nachträglich zustimmen müssen.[10] Zu allen wichtigen staatshaushaltlichen Entscheidungen ist nach der preußischen Verfassung von 1848 die Zustimmung beider Kammern erforderlich, was zweifellos ein großer Machtgewinn für die Demokratie bedeutete.
Die Gebietskörperschaften Preußens sind Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden.[10] Damit sind die Grundlagen für die Subsidiarität im preußischen Staat gelegt, wie auch daraus hervorgeht, dass die „aus gewählten Vertretern bestehende[n] Versammlungen“ „über die inneren und besonderen Angelegenheiten der Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden beschließen“,[10] also ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig entscheiden dürfen. Die Grenzen der vertikalen Gewaltenteilung, also wann „die Beschlüsse der Gemeinden-, Kreis-, Bezirks-, und Provinzialvertretung der Genehmigung einer höheren Vertretung oder der Staatsregierung unterworfen sind“ bestimmt ein Gesetz.[10] Die Gebietskörperschaften müssen des Weiteren über ihren Etat gegenüber der Staatsregierung Rechenschaft ablegen.[10] Auch die Verwaltung der Ortspolizei in Städten unter 30.000 Einwohnern unterliegt der Gemeinde.[10]
Wie auch die Vorsteher der Gebietskörperschaften, mit Ausnahme der Gemeinden (deren Vorsteher „von den Gemeindemitgliedern gewählt“ werden[10]), werden allgemein alle Stellen im Staatsdienst vom König besetzt.[10] Die Staatsbeamten „haben dem König und der Verfassung Treue und Gehorsam zu schwören“.[10] Sicherlich eher formaler Natur, deutet der Eid aber an, dass im Selbstverständnis des Königs Beamten nicht nur der Verfassung, sondern in gleichem Maße auch seiner Person gegenüber verantwortlich sind. Es soll Rücksicht auf den Beamtenstatus der Staatsdiener genommen werden, ihnen soll „gegen willkürliche Entziehung von Amt und Einkommen angemessener Schutz gewährt“ werden.[10] Auch die Beamten, die vor der Verfassungsgebung angestellt waren, sollen hierbei berücksichtigt werden.[10] Alle Beamten sind aufgrund von „durch Überschreitung ihrer Amtsbefugnisse verübten Rechtsverletzungen gerichtlich zu belangen“. Dafür ist keine „vorgängige Genehmigung der Behörden“ notwendig,[10] Beamten sind damit jedem Bürger in Fällen gerichtlicher Verfolgung gleichgestellt.
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Teil 2
Judikative
„Die richterliche Gewalt wird im Namen des Königs […] ausgeübt.“[10] Mit diesem Satz lässt die Verfassung keine Zweifel daran, dass der König nicht nur exekutive und legislative Funktionen besitzt, sondern auch weitreichende judikative Macht ausüben kann. Doch welche Rechte besitzt der König in der Realität, mit denen er auf die Rechtsprechung einwirken könnte? Vor allem ist er im Besitz des Rechts, alle Richter auf Lebenszeit zu ernennen.[10] Ein Recht zur Entlassung steht ihm aber nicht zu. Damit sind die Richter, einmal im Amt, abgesehen von persönlicher Verbundenheit dem König gegenüber, unabhängig in ihren Entscheidungen. Sie können aber durch Richterspruch aufgrund gesetzlich festgelegter Gründe des Amtes ganz oder zeitweise enthoben, versetzt oder pensioniert werden.[10] Abgesehen davon, welche Gründe das betreffende Gesetz als ausreichend für eine Amtsenthebung ansieht (vielleicht ähnlich dem Modell des US- amerikanischen Impeachment nach Strafvergehen), zeichnet sich die Verfassung von 1848 bisher durch bemerkenswerte bis sehr bemerkenswerte judikative Unabhängigkeit aus. Die Voraussetzungen (beispielsweise betreffend der Ausbildung) zur Arbeit als Richter bestimmt ein Gesetz. Eine davon ist, gesetzlich geregelte Ausnahmen ausgenommen, dass der Richter kein weiteres besoldetes Staatsamt wahrnimmt.[10]
Bisher weckt die Verfassung zwar den Eindruck weitreichender judikativer Freiheit, jedoch bleibt eine große Einschränkung: Dem König obliegt das Recht, Begnadigungen und Strafmilderungen ohne Einbezug der Gerichte auszuüben.[10] Die Begnadigung oder Strafmilderung von angeklagten Ministern bedarf aber der Zustimmung der anklagenden Kammer.[10] Dieses Recht des Königs untergräbt alle gewonnenen Freiheiten der Jurisdiktion, da Richtersprüche vollständig umgangen werden können.
Die Organisation und die Regelungen der Zuständigkeit und Kompetenzen der einzelnen Gerichte wird nicht in der Verfassung selbst, sondern mit Verweis auf entsprechende Gesetze geregelt.[10] Die beiden obersten Gerichtshöfe werden zu einem einzigen vereint; das Recht der Normenkontrolle besitzt der oberste Gerichtshof nicht. Eine wichtige demokratische Kontrollfunktion und Element der Gewaltenverschränkung fehlt so gänzlich.
Grundsätzlich, wenn nicht durch ein öffentliches Urteil aufgrund von Gefahr der staatlichen Sicherheit und Ordnung anders bestimmt, verlaufen straf- und zivilrechtliche Verhandlungen öffentlich.[10] Damit unterliegen die meisten Richtersprüche der Kontrolle der öffentlichen Meinung und der „vierten Gewalt“, der Medien. Eine wichtige Forderung der demokratischen und liberalen Revolutionäre, und gleichzeitig ein wichtiger Schritt für die Demokratie, ist die Einführung von Geschworenengerichten in Fällen von schweren Straftaten, politischen Vergehen und Pressevergehen.[10] Nimmt man alle Regelungen zusammen, so zeigt sich das Gesamtbild eines überraschend liberalen Gerichtswesens, das nur durch ein, wenn auch sehr entscheidendes, Manko getrübt wird, das Recht des Königs zu Begnadigungen und Strafmilderungen.
Militär und Bürgerwehr
Als eine der wichtigsten Kräfte im Staat des 19. Jahrhunderts steht das Militär den drei Staatsgewalten nur in Wenigem nach. Und gerade betreffend des Militärs zeigt sich die Machtfülle des Königs eindeutig. „Der König führt den Oberbefehl über das Heer“,[10] heißt es in der Verfassung. Tatsächlich kommt das Heer völlig ohne parlamentarische Kontrolle aus und unterliegt „im Kriege und im Dienste […] der Militär-Kriminal-Gerichtsbarkeit“ und außer Dienst nur unter Beibehaltung dieser den „allgemeinen Strafgesetzen“.[10] Das Militär bleibt also ein Bereich im Staate, für den die allgemeine Gesetze wenig Gültigkeit haben. Die „militärischen Disziplinar-Vorschriften“ dürfen sogar laut Verfassung geltende Grundrechte brechen, so die persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, Versammlungsfreiheit und die freie Vereinigung in Gesellschaften. Der Artikel 108 der oktroyierten Verfassung schloss eine Vereidigung des Militärs auf die Verfassung aus. Der Einsatz des Heeres im Inneren zur „Unterdrückung innerer Unruhe und zur Ausführung der Gesetze“ wird in einem Gesetz geregelt, ein Einsatz muss von Behörden angeordnet werden.[10] Ohne „Berathung [der] militärischen Befehle und Anordnungen“ müssen Befehle an stehendes Heer oder Landwehr befolgt werden. Eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines Befehls kann so natürlich nicht stattfinden.
Die preußische Armee besteht aus „dem stehenden Heere, der Landwehr, der Bürgerwehr“ und dem Heer der Wehrpflichtigen.[10] Die Einrichtung einer Bürgerwehr war eine wichtige Reform des Militärs, angestoßen durch die Revolution.
Bestimmungen über Grundeigentum
Lehen und Fideikommisse, zwei Rechtsformen der Organisation von Grundeigentum, werden in der preußischen Verfassung, nachdem vor allem an Fideikommissen „mit dem Aufkommen des Liberalismus Kritik […] wach“[15] geworden war, verboten und bestehende Lehen und Fideikommisse aufgelöst.[10] Damit unterliegt das „Recht zur freien Verfügung über das Grundeigentum“ nun frei von Einschränkungen durch Lehen oder Fideikommisse „keinen Beschränkungen, als denen der allgemeinen Gesetzgebung“.[10] Gleichzeitig aber stellen die „Thronlehen“ und „das Königliche Haus- und Prinzliche Fideikommiß“ eine Ausnahme zu dem Verbot dieser Rechtsverhältnisse dar. Sie sollen „durch besondere Gesetze geordnet werden“.[10] Viele Rechte der ehemaligen Grundherren werden nun gesetzlich verboten, so die „Gerichtsherrlichkeit“ und die „gutsherrliche Polizei“ sowie „Erbunterthänigkeit“ und „Steuer- und Gewerbe-Verfassung“,[10] allesamt mit Privilegien verbundene Rechtseinrichtungen zugunsten der sozialen Oberschicht.
Übergangsbestimmungen
Einige Bestimmungen in der preußischen oktroyierten Verfassung von 1848 betreffen vor allem die Verfassung selbst, oder regeln übergangsweise die staatliche Organisation. So bleiben alle Gesetze, Verordnungen, Steuern und Abgaben sowie Behörden, die mit der Verfassung vereinbar sind, bestehen.[10] Eine Revision der Verfassung findet „sofort nach dem ersten Zusammentritt der Kammern“ auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung statt.[10] Dieser Artikel stellt nicht viel mehr als eine Absichtserklärung des Königs dar, denn auch ohne die Erwähnung des Artikels in der Verfassung wäre es den Kammern jederzeit möglich gewesen, Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen. Ein weiterer Artikel betrifft eine mögliche Verfassung ganz Deutschlands. Für den Fall, das diese Änderungen der preußischen Verfassung erfordern sollte, „wird der König dieselben anordnen und […] den Kammern [...] mittheilen“. Die Kammern sollen „Beschluss darüber fassen, ob die vorläufigen [vom König angeordneten] Abänderungen mit der deutschen Verfassung in Übereinstimmung stehen“.[10] Damit liegt die Initiative für eine Verfassungsänderung zugunsten einer deutschen Verfassung allein beim König, und nicht, wie bei jeder anderen Verfassungsänderung, bei allen drei legislativen Organen. Betreffend seines Versprechens „Preußen geht fortan in Deutschland auf“[16] kann der König also weiterhin frei walten und die Vereinigung Deutschlands so gegebenenfalls jederzeit verhindern.
Vergleich mit den Märzforderungen
Um die Frage danach zu stellen, ob und in welchem Maße die preußische oktroyierte Verfassung, wie von vielen Historikern behauptet, „modern“[17], aus der „begrenzten Sicht Preußens ein großer Fortschritt“[18] war, oder „keineswegs einen eindeutig reaktionären Charakter“[19] besitzt, muss sie aber nicht nur mit aktuell geltenden rechtsstaatlichen Vorstellungen in Verbindung gesetzt werden, wie in den vorherigen Kapiteln geschehen, sondern es gilt auch festzustellen, inwieweit sie den fortschrittlichen Gedanken ihrer Zeit genügte. Die verschiedenen Auffassungen und Definitionen der Märzforderungen allgemeingültig zu definieren, muss aber allein aufgrund der Heterogenität der revolutionären Gruppierungen als beinahe unmöglich bezeichnet werden. Gleichwohl existieren aber grundlegende Forderungen, die annähernd alle liberal und demokratisch gesinnten Revolutionäre in ihren Forderungen geführt haben. Sie sind in den „Forderungen von Mannheim“ zusammengefasst: Die Schlagworte waren Volksbewaffnung, Geschworenengerichte, ein deutsches Parlament und Pressefreiheit,[20] verbrieft in einer Verfassung. Diese Forderungen dürfen, eventuell ergänzt durch Versammlungsfreiheit, als die Kernforderungen der Märzrevolution gelten.[21] Kann aber die preußische oktroyierte Verfassung von 1848 diesen Ansprüchen genügen? Vor allem bedeutet bereits die Existenz einer Verfassung, wenn auch mit absolutistischen Herrschaftsansprüchen, einen großen Schritt Preußens in den Konstitutionalismus; die Macht des Königs war nun von der Verfassung beschränkt. Die Verfassung selbst enthielt sehr fortschrittliche Artikel betreffend der Grundrechte, beispielsweise der Presse- und Versammlungsfreiheit, die aber im Falle eines Notstandes mit einigen anderen Grundrechten zusammen außer Kraft gesetzt werden können. Der Forderung nach Geschworenengerichten kommt die Verfassung nach. Sie entscheiden in Fällen von schweren Verbrechen und politischen oder Pressedelikten. Der Wunsch nach Volksbewaffnung wird in der Verfassung so nicht übernommen. Indes entstehen Bürgerwehr und eine allgemeine Wehrpflicht, gleichwohl nicht selbstständig, sondern den militärischen Befehlen und Anordnungen unterworfen.[22] Jedoch wird durch deren Existenz der Machtfülle des stehenden Heeres zumindest ein Ausgleich entgegengesetzt. Zuletzt bleibt die Forderung nach einem nationalen Parlament für ganz Deutschland. Dieses trat zwar im Mai zusammen, als aber das Ergebnis der Bemühungen, ein Nationalstaat unter Führung Friedrich Wilhelms IV, präsentiert wurde, lehnte der preußische König ab. Auch Änderungen der preußischen Verfassung zugunsten einer deutschen Verfassung unterliegen seiner Initiative. Trotzdem muss ein positives Fazit gezogen werden. Die Verfassung zeigt in vielen Punkten ein Entgegenkommen an die liberalen Forderungen. Die demokratischen Mängel der Verfassung liegen weniger bei den Änderungen zugunsten der Märzrevolution, von dem Recht des außer Kraft Setzens der meisten Grundrechte im Falle eines Krieges oder Aufruhrs einmal abgesehen, sondern betreffen die Gewaltenteilung und -kontrolle, das Notverordnungsrecht, die Untergrabung der Judikative durch den König, Auflösung der Kammern und deren Wahlmodus.
Das Dreiklassenwahlrecht und die Konterrevolution
Der Anteil der Wählerstimmen an der Wahl nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht von 1849
Noch in der Verfassung vom 5. Dezember war von einem „Wahl-Ausführungsgesetz“ die Rede, das „Nähere[s] über die Ausführung der Wahlen zu beiden Kammern bestimmt“.[10] Im Fall der zweiten Kammer kam es nicht so. Statt auf dem Wege eines Gesetzes durch Kompromiss zwischen dem König und beiden Kammern, trat die „Verordnung betreffend die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer vom 30. Mai 1849“, vom König allein beschlossen, in Kraft. Er bezog sich dabei auf den Artikel 105 der Verfassung, der Notverordnungen mit Gesetzeskraft ohne Einbezug des Parlaments erlaubt. Begründet wurde die Einführung eines nach Steuerklassen gestaffelten Wahlrechts mit der Unterscheidung der „Kräfte der Staatsbürger“, die „teils physischer oder materieller, teils geistiger Art“ sind. Je nach staatsbürgerlicher Kraft ergibt sich dann ein höheres Gewicht der Wählerstimme. Ein weiterer Grund liegt darin begründet, dass „in den ärmeren Mitgliedern der Staatsgesellschaft die größere Summe der physischen, so in den reicheren das höhere Maß der geistigen Kräfte zu liegen pflegt, und somit dasjenige Gewicht, welches man anscheinend dem materiellen Vermögen beilegt, – in der Tat der höheren Intelligenz zugute kommt.“[23] Man erwartet sich also von einer höheren Gewichtung der reichen Wähler eine intelligentere Entscheidung über die Zusammensetzung der zweiten Kammer. Natürlich entsteht mit einem Dreiklassenwahlrecht auch eine Aufteilung in verschiedene Klassen von Staatsbürgern mit unterschiedlichen Rechten. Eine solche Verordnung kann so nur als deutliches Zeichen für das Verhältnis zwischen liberalen und reaktionären Kräften im preußischen Staat gedeutet werden, aber ob es den „Sieg“ der Konterrevolution bedeutet, bedarf eines zweiten Blickes, schließlich wurde bereits in der Verfassung von 1848 erwähnt, „ob nicht ein anderer Wahlmodus, namentlich der der Auftheilung nach bestimmten Klassen […] vorzuziehen sein möchte“.[10] Die Einführung des Dreiklassenwahlrechts 1849 zeigt jedoch ohne jeden Zweifel das neue Selbstbewusstsein der Konservativen. Abweichend von den Bestimmungen der Verfassung über die Wahl zur zweiten Kammer bestimmt also folgender Satz die Wahlordnung: „Die Urwähler werden nach Maßgaben der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern (Klassensteuer, Grundsteuer, Gewerbesteuer) in drei Abtheilungen getheilt, und zwar in der Art, daß auf jede Abtheilung ein Drittheil der Gesamtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler fällt.“[24] Was das für die tatsächliche Verteilung der Wählerstimmen und deren Gewichtung bedeutet, zeigen die Abbildungen im Anhang. Die Gewichtung der Stimmen zwischen der ersten und dritten Steuerklasse entspricht dem Faktor 20, ergo ist die Stimme eines Wählers der ersten Steuerklasse äquivalent zu den Stimmen von 20 Wählern der dritten Steuerklasse, was einer extremen Bevorzugung des Besitzbürgertums und Adels gleichkommt und geradezu eine Perversion des Grundrechts auf Gleichheit vor dem Gesetz und Verbot der Standesvorrechte darstellt.[25] Obwohl sogar überzeugte Konservative die Probleme des Dreiklassenwahlrechtes sahen – Bismarck selbst nannte es „das elendste aller Wahlrechte“[26]– überwog die „Distanz vieler mittlerer und kleinerer Bürger zum Radikalismus“[27] und es kam zu keiner neuerlichen Revolution. Die Reaktion hatte Preußen wieder in ihrer Macht, die alten Mächte hatten, man muss es so ausdrücken, gesiegt.
Fazit
Vor dem Hintergrund der zurückgewonnenen Macht des Königs in den Jahren 1849/50 wirkt die Verfassung wie ein Intermezzo des Konstitutionalismus im absolutistischen Preußen. Doch nur wenige wenn auch symbolische Elemente der Verfassung fielen der Konterrevolution zum Opfer. Die meisten Teile der Verfassung blieben jedoch auch nach der Revision von 1850 erhalten. Das Fazit, das aus der Verfassung von 1848 gezogen werden kann, gilt also grundsätzlich auch für die folgenden Jahre. Die preußische Verfassung von 1848 war, trotz eines Oktrois an Stelle der versprochenen Vereinbarung mit einer verfassunggebenden Nationalversammlung, in der Lage, die gemäßigten Liberalen im Staat zufrieden zu stellen. Vor allem lag das an dem im vorherigen Text herausgearbeiteten, progressiven Elementen der Verfassung, zu nennen sind der große Grundrechte-Katalog, die Einführung von Schwurgerichten sowie grundsätzlich die Einführung einer Verfassung, die Rechtssicherheit und Kontrolle des Monarchen sicherstellt. Weder die Akzeptanz der Verfassung noch die Reformen dürfen aber darüber hinwegtäuschen, dass weiterhin deutliche Einschränkungen hin zu einer demokratischen Staatsordnung bestehen. Die Gesetzesentscheidungskompetenz der Kammern und die meisten Grundrechte dürfen im Falle eines Kriegs oder Aufruhrs außer Kraft gesetzt werden, auch ein absolutes Veto des König bleibt erhalten. Eine Gewaltenteilung ist nur sehr eingeschränkt vorhanden, es besteht Zensuswahl, die Rechtsprechung kann vom Monarchen umgangen werden und das Militär muss als Staat im Staate bezeichnet werden. Diese Kritikpunkte an der Verfassung müssen aber auch vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Situation nach der Märzrevolution betrachtet werden, und so ist es durchaus verständlich, dass für viele Bürger eine „halbliberale“ Verfassung dem weiteren Ausnahmezustand durch Revolution vorzuziehen war.
Die neue (revidierte) Verfassung für Preußen trat am 31. Januar 1850 in Kraft und hatte bis 1918 Bestand. Mit der Novemberrevolution von 1918 trat sie außer Kraft und wurde erst 1920 durch die neue (demokratische) Verfassung des Freistaates Preußen ersetzt.
Siehe auch
Oktroyierte Märzverfassung (Entwicklung in Österreich)
Quelle - Literatur & einzelnachweise
„Die richterliche Gewalt wird im Namen des Königs […] ausgeübt.“[10] Mit diesem Satz lässt die Verfassung keine Zweifel daran, dass der König nicht nur exekutive und legislative Funktionen besitzt, sondern auch weitreichende judikative Macht ausüben kann. Doch welche Rechte besitzt der König in der Realität, mit denen er auf die Rechtsprechung einwirken könnte? Vor allem ist er im Besitz des Rechts, alle Richter auf Lebenszeit zu ernennen.[10] Ein Recht zur Entlassung steht ihm aber nicht zu. Damit sind die Richter, einmal im Amt, abgesehen von persönlicher Verbundenheit dem König gegenüber, unabhängig in ihren Entscheidungen. Sie können aber durch Richterspruch aufgrund gesetzlich festgelegter Gründe des Amtes ganz oder zeitweise enthoben, versetzt oder pensioniert werden.[10] Abgesehen davon, welche Gründe das betreffende Gesetz als ausreichend für eine Amtsenthebung ansieht (vielleicht ähnlich dem Modell des US- amerikanischen Impeachment nach Strafvergehen), zeichnet sich die Verfassung von 1848 bisher durch bemerkenswerte bis sehr bemerkenswerte judikative Unabhängigkeit aus. Die Voraussetzungen (beispielsweise betreffend der Ausbildung) zur Arbeit als Richter bestimmt ein Gesetz. Eine davon ist, gesetzlich geregelte Ausnahmen ausgenommen, dass der Richter kein weiteres besoldetes Staatsamt wahrnimmt.[10]
Bisher weckt die Verfassung zwar den Eindruck weitreichender judikativer Freiheit, jedoch bleibt eine große Einschränkung: Dem König obliegt das Recht, Begnadigungen und Strafmilderungen ohne Einbezug der Gerichte auszuüben.[10] Die Begnadigung oder Strafmilderung von angeklagten Ministern bedarf aber der Zustimmung der anklagenden Kammer.[10] Dieses Recht des Königs untergräbt alle gewonnenen Freiheiten der Jurisdiktion, da Richtersprüche vollständig umgangen werden können.
Die Organisation und die Regelungen der Zuständigkeit und Kompetenzen der einzelnen Gerichte wird nicht in der Verfassung selbst, sondern mit Verweis auf entsprechende Gesetze geregelt.[10] Die beiden obersten Gerichtshöfe werden zu einem einzigen vereint; das Recht der Normenkontrolle besitzt der oberste Gerichtshof nicht. Eine wichtige demokratische Kontrollfunktion und Element der Gewaltenverschränkung fehlt so gänzlich.
Grundsätzlich, wenn nicht durch ein öffentliches Urteil aufgrund von Gefahr der staatlichen Sicherheit und Ordnung anders bestimmt, verlaufen straf- und zivilrechtliche Verhandlungen öffentlich.[10] Damit unterliegen die meisten Richtersprüche der Kontrolle der öffentlichen Meinung und der „vierten Gewalt“, der Medien. Eine wichtige Forderung der demokratischen und liberalen Revolutionäre, und gleichzeitig ein wichtiger Schritt für die Demokratie, ist die Einführung von Geschworenengerichten in Fällen von schweren Straftaten, politischen Vergehen und Pressevergehen.[10] Nimmt man alle Regelungen zusammen, so zeigt sich das Gesamtbild eines überraschend liberalen Gerichtswesens, das nur durch ein, wenn auch sehr entscheidendes, Manko getrübt wird, das Recht des Königs zu Begnadigungen und Strafmilderungen.
Militär und Bürgerwehr
Als eine der wichtigsten Kräfte im Staat des 19. Jahrhunderts steht das Militär den drei Staatsgewalten nur in Wenigem nach. Und gerade betreffend des Militärs zeigt sich die Machtfülle des Königs eindeutig. „Der König führt den Oberbefehl über das Heer“,[10] heißt es in der Verfassung. Tatsächlich kommt das Heer völlig ohne parlamentarische Kontrolle aus und unterliegt „im Kriege und im Dienste […] der Militär-Kriminal-Gerichtsbarkeit“ und außer Dienst nur unter Beibehaltung dieser den „allgemeinen Strafgesetzen“.[10] Das Militär bleibt also ein Bereich im Staate, für den die allgemeine Gesetze wenig Gültigkeit haben. Die „militärischen Disziplinar-Vorschriften“ dürfen sogar laut Verfassung geltende Grundrechte brechen, so die persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, Versammlungsfreiheit und die freie Vereinigung in Gesellschaften. Der Artikel 108 der oktroyierten Verfassung schloss eine Vereidigung des Militärs auf die Verfassung aus. Der Einsatz des Heeres im Inneren zur „Unterdrückung innerer Unruhe und zur Ausführung der Gesetze“ wird in einem Gesetz geregelt, ein Einsatz muss von Behörden angeordnet werden.[10] Ohne „Berathung [der] militärischen Befehle und Anordnungen“ müssen Befehle an stehendes Heer oder Landwehr befolgt werden. Eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines Befehls kann so natürlich nicht stattfinden.
Die preußische Armee besteht aus „dem stehenden Heere, der Landwehr, der Bürgerwehr“ und dem Heer der Wehrpflichtigen.[10] Die Einrichtung einer Bürgerwehr war eine wichtige Reform des Militärs, angestoßen durch die Revolution.
Bestimmungen über Grundeigentum
Lehen und Fideikommisse, zwei Rechtsformen der Organisation von Grundeigentum, werden in der preußischen Verfassung, nachdem vor allem an Fideikommissen „mit dem Aufkommen des Liberalismus Kritik […] wach“[15] geworden war, verboten und bestehende Lehen und Fideikommisse aufgelöst.[10] Damit unterliegt das „Recht zur freien Verfügung über das Grundeigentum“ nun frei von Einschränkungen durch Lehen oder Fideikommisse „keinen Beschränkungen, als denen der allgemeinen Gesetzgebung“.[10] Gleichzeitig aber stellen die „Thronlehen“ und „das Königliche Haus- und Prinzliche Fideikommiß“ eine Ausnahme zu dem Verbot dieser Rechtsverhältnisse dar. Sie sollen „durch besondere Gesetze geordnet werden“.[10] Viele Rechte der ehemaligen Grundherren werden nun gesetzlich verboten, so die „Gerichtsherrlichkeit“ und die „gutsherrliche Polizei“ sowie „Erbunterthänigkeit“ und „Steuer- und Gewerbe-Verfassung“,[10] allesamt mit Privilegien verbundene Rechtseinrichtungen zugunsten der sozialen Oberschicht.
Übergangsbestimmungen
Einige Bestimmungen in der preußischen oktroyierten Verfassung von 1848 betreffen vor allem die Verfassung selbst, oder regeln übergangsweise die staatliche Organisation. So bleiben alle Gesetze, Verordnungen, Steuern und Abgaben sowie Behörden, die mit der Verfassung vereinbar sind, bestehen.[10] Eine Revision der Verfassung findet „sofort nach dem ersten Zusammentritt der Kammern“ auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung statt.[10] Dieser Artikel stellt nicht viel mehr als eine Absichtserklärung des Königs dar, denn auch ohne die Erwähnung des Artikels in der Verfassung wäre es den Kammern jederzeit möglich gewesen, Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen. Ein weiterer Artikel betrifft eine mögliche Verfassung ganz Deutschlands. Für den Fall, das diese Änderungen der preußischen Verfassung erfordern sollte, „wird der König dieselben anordnen und […] den Kammern [...] mittheilen“. Die Kammern sollen „Beschluss darüber fassen, ob die vorläufigen [vom König angeordneten] Abänderungen mit der deutschen Verfassung in Übereinstimmung stehen“.[10] Damit liegt die Initiative für eine Verfassungsänderung zugunsten einer deutschen Verfassung allein beim König, und nicht, wie bei jeder anderen Verfassungsänderung, bei allen drei legislativen Organen. Betreffend seines Versprechens „Preußen geht fortan in Deutschland auf“[16] kann der König also weiterhin frei walten und die Vereinigung Deutschlands so gegebenenfalls jederzeit verhindern.
Vergleich mit den Märzforderungen
Um die Frage danach zu stellen, ob und in welchem Maße die preußische oktroyierte Verfassung, wie von vielen Historikern behauptet, „modern“[17], aus der „begrenzten Sicht Preußens ein großer Fortschritt“[18] war, oder „keineswegs einen eindeutig reaktionären Charakter“[19] besitzt, muss sie aber nicht nur mit aktuell geltenden rechtsstaatlichen Vorstellungen in Verbindung gesetzt werden, wie in den vorherigen Kapiteln geschehen, sondern es gilt auch festzustellen, inwieweit sie den fortschrittlichen Gedanken ihrer Zeit genügte. Die verschiedenen Auffassungen und Definitionen der Märzforderungen allgemeingültig zu definieren, muss aber allein aufgrund der Heterogenität der revolutionären Gruppierungen als beinahe unmöglich bezeichnet werden. Gleichwohl existieren aber grundlegende Forderungen, die annähernd alle liberal und demokratisch gesinnten Revolutionäre in ihren Forderungen geführt haben. Sie sind in den „Forderungen von Mannheim“ zusammengefasst: Die Schlagworte waren Volksbewaffnung, Geschworenengerichte, ein deutsches Parlament und Pressefreiheit,[20] verbrieft in einer Verfassung. Diese Forderungen dürfen, eventuell ergänzt durch Versammlungsfreiheit, als die Kernforderungen der Märzrevolution gelten.[21] Kann aber die preußische oktroyierte Verfassung von 1848 diesen Ansprüchen genügen? Vor allem bedeutet bereits die Existenz einer Verfassung, wenn auch mit absolutistischen Herrschaftsansprüchen, einen großen Schritt Preußens in den Konstitutionalismus; die Macht des Königs war nun von der Verfassung beschränkt. Die Verfassung selbst enthielt sehr fortschrittliche Artikel betreffend der Grundrechte, beispielsweise der Presse- und Versammlungsfreiheit, die aber im Falle eines Notstandes mit einigen anderen Grundrechten zusammen außer Kraft gesetzt werden können. Der Forderung nach Geschworenengerichten kommt die Verfassung nach. Sie entscheiden in Fällen von schweren Verbrechen und politischen oder Pressedelikten. Der Wunsch nach Volksbewaffnung wird in der Verfassung so nicht übernommen. Indes entstehen Bürgerwehr und eine allgemeine Wehrpflicht, gleichwohl nicht selbstständig, sondern den militärischen Befehlen und Anordnungen unterworfen.[22] Jedoch wird durch deren Existenz der Machtfülle des stehenden Heeres zumindest ein Ausgleich entgegengesetzt. Zuletzt bleibt die Forderung nach einem nationalen Parlament für ganz Deutschland. Dieses trat zwar im Mai zusammen, als aber das Ergebnis der Bemühungen, ein Nationalstaat unter Führung Friedrich Wilhelms IV, präsentiert wurde, lehnte der preußische König ab. Auch Änderungen der preußischen Verfassung zugunsten einer deutschen Verfassung unterliegen seiner Initiative. Trotzdem muss ein positives Fazit gezogen werden. Die Verfassung zeigt in vielen Punkten ein Entgegenkommen an die liberalen Forderungen. Die demokratischen Mängel der Verfassung liegen weniger bei den Änderungen zugunsten der Märzrevolution, von dem Recht des außer Kraft Setzens der meisten Grundrechte im Falle eines Krieges oder Aufruhrs einmal abgesehen, sondern betreffen die Gewaltenteilung und -kontrolle, das Notverordnungsrecht, die Untergrabung der Judikative durch den König, Auflösung der Kammern und deren Wahlmodus.
Das Dreiklassenwahlrecht und die Konterrevolution
Der Anteil der Wählerstimmen an der Wahl nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht von 1849
Noch in der Verfassung vom 5. Dezember war von einem „Wahl-Ausführungsgesetz“ die Rede, das „Nähere[s] über die Ausführung der Wahlen zu beiden Kammern bestimmt“.[10] Im Fall der zweiten Kammer kam es nicht so. Statt auf dem Wege eines Gesetzes durch Kompromiss zwischen dem König und beiden Kammern, trat die „Verordnung betreffend die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer vom 30. Mai 1849“, vom König allein beschlossen, in Kraft. Er bezog sich dabei auf den Artikel 105 der Verfassung, der Notverordnungen mit Gesetzeskraft ohne Einbezug des Parlaments erlaubt. Begründet wurde die Einführung eines nach Steuerklassen gestaffelten Wahlrechts mit der Unterscheidung der „Kräfte der Staatsbürger“, die „teils physischer oder materieller, teils geistiger Art“ sind. Je nach staatsbürgerlicher Kraft ergibt sich dann ein höheres Gewicht der Wählerstimme. Ein weiterer Grund liegt darin begründet, dass „in den ärmeren Mitgliedern der Staatsgesellschaft die größere Summe der physischen, so in den reicheren das höhere Maß der geistigen Kräfte zu liegen pflegt, und somit dasjenige Gewicht, welches man anscheinend dem materiellen Vermögen beilegt, – in der Tat der höheren Intelligenz zugute kommt.“[23] Man erwartet sich also von einer höheren Gewichtung der reichen Wähler eine intelligentere Entscheidung über die Zusammensetzung der zweiten Kammer. Natürlich entsteht mit einem Dreiklassenwahlrecht auch eine Aufteilung in verschiedene Klassen von Staatsbürgern mit unterschiedlichen Rechten. Eine solche Verordnung kann so nur als deutliches Zeichen für das Verhältnis zwischen liberalen und reaktionären Kräften im preußischen Staat gedeutet werden, aber ob es den „Sieg“ der Konterrevolution bedeutet, bedarf eines zweiten Blickes, schließlich wurde bereits in der Verfassung von 1848 erwähnt, „ob nicht ein anderer Wahlmodus, namentlich der der Auftheilung nach bestimmten Klassen […] vorzuziehen sein möchte“.[10] Die Einführung des Dreiklassenwahlrechts 1849 zeigt jedoch ohne jeden Zweifel das neue Selbstbewusstsein der Konservativen. Abweichend von den Bestimmungen der Verfassung über die Wahl zur zweiten Kammer bestimmt also folgender Satz die Wahlordnung: „Die Urwähler werden nach Maßgaben der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern (Klassensteuer, Grundsteuer, Gewerbesteuer) in drei Abtheilungen getheilt, und zwar in der Art, daß auf jede Abtheilung ein Drittheil der Gesamtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler fällt.“[24] Was das für die tatsächliche Verteilung der Wählerstimmen und deren Gewichtung bedeutet, zeigen die Abbildungen im Anhang. Die Gewichtung der Stimmen zwischen der ersten und dritten Steuerklasse entspricht dem Faktor 20, ergo ist die Stimme eines Wählers der ersten Steuerklasse äquivalent zu den Stimmen von 20 Wählern der dritten Steuerklasse, was einer extremen Bevorzugung des Besitzbürgertums und Adels gleichkommt und geradezu eine Perversion des Grundrechts auf Gleichheit vor dem Gesetz und Verbot der Standesvorrechte darstellt.[25] Obwohl sogar überzeugte Konservative die Probleme des Dreiklassenwahlrechtes sahen – Bismarck selbst nannte es „das elendste aller Wahlrechte“[26]– überwog die „Distanz vieler mittlerer und kleinerer Bürger zum Radikalismus“[27] und es kam zu keiner neuerlichen Revolution. Die Reaktion hatte Preußen wieder in ihrer Macht, die alten Mächte hatten, man muss es so ausdrücken, gesiegt.
Fazit
Vor dem Hintergrund der zurückgewonnenen Macht des Königs in den Jahren 1849/50 wirkt die Verfassung wie ein Intermezzo des Konstitutionalismus im absolutistischen Preußen. Doch nur wenige wenn auch symbolische Elemente der Verfassung fielen der Konterrevolution zum Opfer. Die meisten Teile der Verfassung blieben jedoch auch nach der Revision von 1850 erhalten. Das Fazit, das aus der Verfassung von 1848 gezogen werden kann, gilt also grundsätzlich auch für die folgenden Jahre. Die preußische Verfassung von 1848 war, trotz eines Oktrois an Stelle der versprochenen Vereinbarung mit einer verfassunggebenden Nationalversammlung, in der Lage, die gemäßigten Liberalen im Staat zufrieden zu stellen. Vor allem lag das an dem im vorherigen Text herausgearbeiteten, progressiven Elementen der Verfassung, zu nennen sind der große Grundrechte-Katalog, die Einführung von Schwurgerichten sowie grundsätzlich die Einführung einer Verfassung, die Rechtssicherheit und Kontrolle des Monarchen sicherstellt. Weder die Akzeptanz der Verfassung noch die Reformen dürfen aber darüber hinwegtäuschen, dass weiterhin deutliche Einschränkungen hin zu einer demokratischen Staatsordnung bestehen. Die Gesetzesentscheidungskompetenz der Kammern und die meisten Grundrechte dürfen im Falle eines Kriegs oder Aufruhrs außer Kraft gesetzt werden, auch ein absolutes Veto des König bleibt erhalten. Eine Gewaltenteilung ist nur sehr eingeschränkt vorhanden, es besteht Zensuswahl, die Rechtsprechung kann vom Monarchen umgangen werden und das Militär muss als Staat im Staate bezeichnet werden. Diese Kritikpunkte an der Verfassung müssen aber auch vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Situation nach der Märzrevolution betrachtet werden, und so ist es durchaus verständlich, dass für viele Bürger eine „halbliberale“ Verfassung dem weiteren Ausnahmezustand durch Revolution vorzuziehen war.
Die neue (revidierte) Verfassung für Preußen trat am 31. Januar 1850 in Kraft und hatte bis 1918 Bestand. Mit der Novemberrevolution von 1918 trat sie außer Kraft und wurde erst 1920 durch die neue (demokratische) Verfassung des Freistaates Preußen ersetzt.
Siehe auch
Oktroyierte Märzverfassung (Entwicklung in Österreich)
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