Indigene Völker
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Indigene Völker
Indigene Völker (lateinisch „eingeborene“) oder autochthone Völker („ursprüngliche“, siehe Wortherkunft) sind nach einer international geltenden Definition diejenigen Bevölkerungsgruppen, die Nachkommen einer Bevölkerung sind, die vor der Eroberung, Kolonisierung oder der Gründung eines Staates durch andere Völker in einem räumlichen Gebiet lebte, und die sich bis heute als ein eigenständiges „Volk“ verstehen und eigene soziale, wirtschaftliche oder politische Einrichtungen und kulturelle Traditionen beibehalten haben. Schätzungsweise 350 Millionen Angehörige sollen alle indigenen Völker der Erde haben, allein auf der pazifischen Insel Neuguinea werden 1089 indigene Völker mit jeweils eigener Sprache gezählt.
Die ersten drei Präsidenten des indigenen Samen-Parlaments in Norwegen: Sven-Roald Nystø, Aili Keskitalo und Ole Henrik Magga (2006)
Der Begriff indigene Völker beinhaltet vor allem politische menschenrechtliche Ansprüche, weil Angehörige indigener Völker oft diskriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden (Marginalisierung). Dazu gibt es bei den Vereinten Nationen drei Organe: den Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker (vormals UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen), den UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker und das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten.
Eine politische Versammlung von Angehörigen des südkolumbianischen indigenen Volkes der Arhuaco in Südamerika (2003)
Definition
Die meistgebrauchte Definition des Begriffes geht auf den UN-Sonderberichterstatter José Martínez-Cobo zurück, der ihn 1986 in seiner grundlegenden Studie über Diskriminierung gegen indigene Völker an vier Kriterien knüpfte.[1] Der folgende Wortlaut weicht leicht von der Definition Cobos ab und orientiert sich an der weiter präzisierten Fassung aus dem Jahre 1996 von Erika-Irene Daes, der langjährigen Vorsitzenden der UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen:[2]
Zeitliche Priorität in Bezug auf die Nutzung oder Besiedlung eines bestimmten Territoriums: Indigene Völker sind relativ gesehen die „ersten“ Bewohner eines Gebiets.
Die freiwillige Bewahrung kultureller Besonderheit, in den Bereichen Sprache, Gesellschaftsorganisation, Religion und spirituelle Werte, Produktionsweisen und Institutionen: Indigene Völker sind kulturell deutlich von der Mehrheitsgesellschaft unterschieden.
Selbstidentifikation und Anerkennung durch andere als eine eigenständige Gemeinschaft: Die Betroffenen müssen selbst mehrheitlich der Ansicht sein, dass sie einer eigenständigen Gruppe (einem Volk) angehören und dass diese als „indigen“ anzusehen ist. Gleichzeitig muss diese Ansicht von anderen in nennenswertem Umfang geteilt werden, etwa von Angehörigen anderer indigener Völker.
Eine Erfahrung von Unterdrückung, Marginalisierung, Enteignung, Ausschluss oder Diskriminierung, wobei diese Bedingungen fortbestehen oder nicht: Der Grad der heute fortbestehenden Unterdrückung kann höchst unterschiedlich sein – von struktureller Benachteiligung bei Aufstiegsmöglichkeiten bis hin zu Zwangsvertreibung und Ausrottung (Ethnozid). Eine als Gruppe erfahrene Unterdrückung bestimmt in jedem Fall grundlegend das politische Selbstverständnis indigener Völker.
Diese vier Kriterien müssen nicht immer in gleicher Weise zutreffen, sie werden als Arbeitsdefinition verstanden, welche die Mehrzahl der Fälle angemessen beschreibt. Eine ausschließende, „harte“ Definition des Begriffs der indigenen Völker kann und soll es nach Ansicht der Vertreter vieler indigener Gruppen nicht geben, diese Ansicht wurde auch geteilt von der UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen (mittlerweile umbenannt in Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker).[2]
Das Konzept indigen findet teilweise auch dann Anwendung, wenn einzelne Kriterien nicht oder nicht mehr zutreffen. So kann die Selbstidentifikation als indigen fortdauern, auch wenn die erlittene Marginalisierung bereits (weitestgehend) überwunden ist, so etwa bei den Inuit in Grönland.
Ein zentrales Element der Unterscheidung indigener Gemeinschaften von der nicht-indigenen Mehrheitsgesellschaft ist oftmals die besonders enge Bindung indigener Kulturen an ihr jeweiliges Landgebiet sowie die besonders enge Beziehung zu diesem, die zumeist auch spirituelle Bereiche einschließt.[3]
Zentral zum Verständnis des Begriffs ist der Aspekt des Kollektiven: Indigene Völker existieren als soziale Gesellschaften, nicht als bloße Ansammlung von Einzelpersonen. Entsprechend sind die Forderungen nach indigenen Rechten überwiegend Forderungen nach Kollektivrechten, insbesondere sozialen Menschenrechten.
Wortherkunft „indigen, autochthon“
Die Bezeichnung „indigene Völker“ ist eine relativ junge Lehnübersetzung wahrscheinlich vom spanischen pueblos indígenas und bezeichnet Gemeinschaften von ursprünglichen Bewohnern einer Region oder eines Landes. Der Ausdruck „indigene Völker“ hat in Lateinamerika als Sammelbezeichnung für alle Nachkommen der vorkolumbischen Bevölkerung die Bezeichnungen Indios und Indianer ersetzt, die noch auf Christoph Kolumbus’ Verwechslung des amerikanischen Doppelkontinents mit seinem damaligen Zielland Indien beruhte.
Das Wort indigen setzt sich zusammen aus dem altlateinischen indi- (indu-) „innen, ein-“, und -genus „geboren“, was als „eingeboren“ oder „Eingeborener“ zu übersetzen ist. Allerdings wurde die Bedeutung von indigen zunächst fälschlich gedeutet im Sinne von „aus Indien stammend“ oder „indianischen Ursprungs“ (lateinisch indus „indisch“, nach Kolumbus auch „indianisch“, und -genus „geboren, stammend“), weil mit der Bezeichnung Völker beschrieben wurden, die von präkolumbianischen Hochkulturen (also „indianischen“ Kulturen) abstammen.
In internationalen politischen Zusammenhängen ist indigene Völker (indigenous people[s], pueblos indígenas) die übliche Sammelbezeichnung für Ureinwohnervölker aller Kontinente, während im jeweils nationalen Rahmen oft andere offizielle Sammelbegriffe verwendet werden, beispielsweise Aborigines in Australien, native Americans und First Nations in Nordamerika sowie Adivasi in Indien.
Die Bezeichnung „autochthone Völker“ (von altgriechisch autós „selbst“, und chthōn „Erde“: „einheimisch, eingeboren, alteingesessen“) ist ein Synonym für indigene Völker, das vor allem im Französischen häufig verwendet wird (peuples autochtones). Das Gegenteil wäre allochthon „von fremder Herkunft“.
Begriffsabgrenzung
Ureinwohner, Urbevölkerung
„Ureinwohner“ und „Urbevölkerung“ für Indigene Völker ist ein ethnologisch wenig brauchbarer Begriff: Er impliziert, diese Gruppe wäre schon immer dort ansässig gewesen und eine Form von „Originalbevölkerung“, was nur in vereinzelten Ausnahmen gilt. In Europa wären als solches vielleicht die Samen oder die Basken zu bezeichnen (aber auch das ist unklar), anthropologisch korrekt müsste man den Ausdruck wohl auf die Neandertaler anwenden. In jedem Fall ist die Betonung eines ursprünglichen Vorrechts durch (möglichst) lange, ursprüngliche Besiedlung insofern als Konstruktion zu betrachten, als die heutigen Bewohner und ihre soziokulturellen Zusammenhänge nicht mit denen der Erstbesiedler identisch sind oder sein können.
Eingeborene
Die deutsche Entsprechung des Begriffs indigen wäre „eingeboren“, doch findet das Wort Eingeborene aufgrund seines kolonialen oder romantisierenden Beiklangs heute wenig Verwendung. Es lässt sich wertneutral kaum verwenden.
Naturvölker
Die romantisierende Bezeichnung Naturvolk wird im Deutschen oft gleichbedeutend mit „indigene Völker“ verwendet (synonym). Das Wort kennt keine englische Entsprechung – es ist als Teil des eigenen Indianerbilds im deutschen Sprachraum nur dort von Bedeutung.
Während „indigen“ eine politische Kategorie ist, bezieht sich Naturvolk auf das romantische Ideal des „edlen Wilden“, der in vollkommener Harmonie mit der Natur lebe (siehe dazu auch Naturzustand nach Rousseau). Dabei wird übersehen, dass auch „naturverbundene“ menschliche Gemeinschaften immer Kultur hervorbringen. So sind beispielsweise die tropischen Regenwälder und die Tundren des russischen Nordens Kulturlandschaften, die durch indigene Völker geprägt wurden und werden. Das behauptete ökologische Umweltbewusstsein und die vermutete soziale Harmonie „natürlicher“ und früher Gesellschaftsformationen werden seit Langem durch vielfältige ethnologische (völkerkundliche) Studien in Frage gestellt.[4]
Die modernen Bezeichnungen „indigene Völker“ und „Indigene“ beziehen sich vor allem auf den Umstand der sozialen und politischen Benachteiligung (Diskriminierung) und fordern die Verwirklichung und Achtung von indigenen Rechten ein. Anhänger des Naturvolk-Begriffs streben dagegen meist die Erhaltung (Konservierung) einer vermeintlich oder tatsächlich naturnahen, nicht-technisierten Lebensweise an, was die Gefahr des Paternalismus birgt, einer Herrschaftsform mit vormundschaftlicher Beziehung zwischen Herrschern und beherrschten Personen. Demgegenüber schließt das Indigene-Völker-Konzept vor allem den Rechtsanspruch der Betroffenen ein, selbst über die eigene Entwicklung zu bestimmen, unabhängig davon, ob das Ergebnis dem Klischee vom edlen Wilden entspricht oder nicht. Insbesondere fordert dieses Konzept aber auch, die ehemals vorhandenen traditionellen rechtlichen Vorstellungen und Rechtsordnungen dieser Völker als gültig anzuerkennen und in Bezug auf Rechtsnachfolge in moderne Rechtszusammenhänge einzubinden. Das emanzipative Indigene-Völker-Konzept soll zwar letztlich in der Auflösung rechtlicher Benachteiligung münden, gerät dabei aber häufig selbst in Konflikt mit (alten, überlieferten) Rechtsvorstellungen der Indigenen.
Häufig umstrittene Fragen sind die Rechte an Landbesitz, teils umfassender an ganzen Landflächen. Viele indigene Völker verstehen Landbesitz als gruppeneigene, kollektive Rechte, die innerhalb einer Familie, Abstammungsgruppe, Erblinie oder einem Clan eigenständig verwaltet und auch vererbt werden. Mit der Verfügungs- und Nutzungsgewalt über Land(flächen) sind immer auch genau ausgehandelte Land-Nutzungsrechte anderer Gruppen des sozialen Gefüges verbunden, wie auch eigene Nutzungs- und Durchquerungsrechte an deren Land(besitz). Ihr eigenes Land gilt indigenen Gruppen und erst recht ganzen Völkern als grundsätzlich unveräußerlich. Im Falle von Nomaden und Halbnomaden kann sich der Flächenanspruch weit ausdehnen, oft verbunden mit jahreszeitlich vorgegebenen Ortswechseln. Beispielsweise leben auch in heutiger Zeit noch einige indigene Völker und Ethnien als Jäger und Sammler (Wildbeuter, siehe auch Indigene Bevölkerungsgruppen in Wildnisgebieten).
Demgegenüber wird in modernen Industriestaaten wie auch in europäisch geprägten, liberalen Gesellschaften der Grundbesitz als ein individuelles Recht verstanden, als Privateigentum. Verschiedene Verwertungsinteressen der Industriestaaten an Rohstoffen und Materialien kommen schnell in Konflikt mit indigenen Völkern bezüglich der Vorstellungen von Landnutzung. Dazu kommen Verwertungsinteressen von Indigenen an ihrem „eigenen Land“, die ihren eigenen Rechtstraditionen entgegenstehen können. Am Begriff „Naturvolk“ wird in diesen wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Zusammenhängen kritisiert, dass er ein Verharren in einem „vorkulturellen“ und „rechtlosen“ Zustand nahe lege, den es in Wirklichkeit nicht gebe.
Nationale Minderheiten, Volksgruppen
Vertreter indigener Völker legen großen Wert auf die Unterscheidung zwischen ihrer Bezeichnung als nationalen Minderheiten, als Volksgruppen, oder als indigen. Zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen gehören die ursprüngliche Bindung indigener Gruppen an ihre jeweiligen Gebiete, der Umstand der sozialen und politischen und ökonomischen Verdrängung (Marginalisierung) sowie der größere kulturelle und soziale Abstand zur jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Außerdem umfasst der Begriff „nationale Minderheit“ auch Gruppen, die selbst eine Vorbevölkerung überlagert haben oder im Nachhinein zugewandert sind.
Eindeutig um nationale Minderheiten handelt es sich bei Angehörigen einer Ethnie, die in einem anderen Staat die Titularnation stellt, von deren Namen sich also die Bezeichnung des Heimatstaates und seiner Staatsbürger ableitet. Dies sind beispielsweise Ungarn in Rumänien, Dänen in Schleswig-Holstein, Serben in Kroatien oder Polen in Litauen. In der Bundesrepublik Deutschland sind Dänen, Friesen, Sorben und Roma deutscher Staatsbürgerschaft gesetzlich als nationale Minderheiten anerkannt. Als territorial nicht gebundene Minderheit sind in der Schweiz „Fahrende“ anerkannt. Inwieweit diese Gruppen dann unter den Begriff indigen fallen, steht aber in keinen Zusammenhang zu ihrem offiziellen Minderheiten-Status.
Eine Volksgruppe ist im rechtlichen Zusammenhang nur in Österreich synonym zu einer nationalen Minderheit. Die Bezeichnung Volksgruppe kann sich auch auf einzelne ethnische Gruppen innerhalb von polyethnischen Gesellschaften beziehen (Vielvölkerstaaten), und in der Umgangssprache kann damit jegliche ethnische Minderheit gemeint sein.
Mythen und Religionen indigener Völker
Neue Erkenntnisse der Mythenforschung deuten darauf hin, dass die ältesten Kulturvorstellungen mythischer Art waren: Menschen waren davon überzeugt, dass alle Vorgänge sowohl im als auch außerhalb des Menschen durch Gottheiten bewirkt werden. Die Geschichten deren Wirkens, die der Philosoph und Mythosforscher Kurt Hübner als archai bezeichnet, wurden im jahreszeitlichen Rhythmus mündlich überliefert und führten zu einem zyklischen Zeitbewusstsein bei den mythischen Vorstellungen.[5] Dieses zyklische Zeitbewusstsein ist typisch für viele indigene Völker. Jedoch konnten sich nur wenige indigene Völker dem Einfluss der Weltreligionen entziehen und ihre traditionellen Religionen und Mythen unbeeinflusst bewahren.
Konfliktfelder
James Anaya, bis 2014 UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker, und seine Nachfolgerin Victoria Tauli-Corpuz (2013 in Kuala-Lumpur)
Land- und Ressourcenkonflikte
Da viele indigene Völker in zum Teil ressourcenreichen Gebieten der Erde leben, sind Konflikte, vor allem um Landnutzung und -rechte, ein generelles Problem dieser Völker. Ein Großteil der Uran-, Erdöl-, Gold- und Kohleförderung der Erde findet in den Gebieten indigener Völker statt. Ähnliches gilt für einen großen Teil der Atomtests der letzten Jahrzehnte, für Atommüllendlager und Großstaudämme. Dabei ziehen die Aktivitäten transnationaler Konzerne oftmals Militarisierung, Gewalt und bewaffnete Konflikte nach sich, so etwa auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Bougainville, bei der ein Bürgerkrieg wegen einer Kupfermine des Konzerns Rio Tinto Group etwa 10.000 Menschen das Leben kostete.[6]
Auch die Einrichtung von Großschutzgebieten zur Erhaltung der Natur verläuft nicht immer konfliktfrei für die Ureinwohner. So wurden insbesondere in mehreren afrikanischen Ländern indigene Gruppen von ihrem angestammten Land vertrieben, um die Gebiete in Nationalparks umzuwandeln. Interessenvertreter der Indigenen sehen darin wirtschaftliche Interessen: Ehemals ökonomisch wertlose Gebiete, in denen durch die in der Subsistenzwirtschaft lebenden Völker weder Geld hinein noch hinaus floss, werden durch den Status von Nationalparks und infolge von Tourismus sowie Infrastrukturmaßnahmen monetär in Wert gesetzt. Als Verursacher oder zumindest Dulder dieses Vorgehens werden auch die großen Umweltschutzorganisationen WWF, Conservation International und Nature Conservancy genannt.[7] Auf der anderen Seite verlieh der WWF 2011 einem samischen Verein in Nordschweden eine Auszeichnung für das zukunftsweisende indigene Management des Laponia-Welterbeparks.[8] Die Erkenntnis, dass traditionelle indigene Lebens- und Wirtschaftsweisen ein integraler Bestandteil ursprünglicher Naturlandschaften sind, wäre für die betroffenen Völker ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Als Vorbild sei z.B. der Nationalpark Xingu in Brasilien genannt (siehe auch: „Traditionelle Völker und Gemeinschaften“ in Brasilien). Über die Einrichtung von Großschutzgebieten für die Natur und die Indigenen als ihre „Verwalter“ ließen sich Landrechtskonflikte sicherlich deutlich entschärfen.
In Kanada, den USA und mehreren südamerikanischen Ländern gibt es seit vielen Jahrzehnte Indianerreservate sehr unterschiedlicher Größe und mit ganz verschiedenen Rechten für die dort wohnenden Ethnien. Darüber hinaus existieren in Kanada riesige Territorien mit speziellen Rechten für die First Nations wie Nunavut und Nunavik. Australiens Aborigines sind seit Anfang des 21. Jahrhunderts wieder Eigentümer großer Landgebiete, die zum Teil als Indigenous Protected Area zum Schutz der Natur und der Ureinwohner ausgewiesen werden. Aus der rein rechtlichen Festlegung von Gebieten für Indigene auf diesen drei Kontinenten lassen sich allerdings keinerlei Rückschlüsse auf den ökologischen Zustand oder die konkrete Situation ihrer Bewohner ziehen.
Der Streit um das kleine ‚s‘
Im Streit ums kleine „s“ geht es um die Frage, ob es indigenous peoples (Völker) oder nur indigenous people (Menschen) gibt; dies bleibt bis heute heftig diskutiert und umkämpft.
Aus diesem Grund heißt die zuständige UNO-Arbeitsgruppe bis heute Working Group on Indigenous Populations (UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen (UNWGIP)), ebenso heißt ein neu eingerichtetes UN-Gremium in New York Permanent Forum on Indigenous Issues (Ständiges Forum über indigene Angelegenheiten). Beide Begriffe vermeiden die Verwendung von people und peoples, die anstelle des jeweils letzten Wortes verwendet werden könnten.
Der ernsthafte Hintergrund dieses Streits ist, dass das Völkerrecht mit dem Begriff Volk weitreichende spezifische Rechte verbindet, zuallererst das Recht auf Selbstbestimmung (Selbstbestimmungsrecht der Völker), was die freie Verfügung über Land und Ressourcen einschließt. Da indigene Völker häufig in ressourcenreichen Regionen leben, fürchten zahlreiche Regierungen im Falle einer Anerkennung dieses Rechts, die Kontrolle über diese Bodenschätze zu verlieren. Weiterhin besteht in Ländern, in denen gewaltsame Konflikte zwischen Regierungen und indigenen Völkern herrschen, mitunter die Befürchtung einer Sezession der Letzteren.
Unkontaktierte Völker und Völker in freiwilliger Isolation
Weltweit haben sich mehr als hundert indigene Gruppen dafür entschieden, von der Außenwelt isoliert zu leben – meist nicht freiwillig, sondern aufgrund katastrophaler Erfahrungen.[9] Diese Gruppen werden zumeist als „isolierte Völker“ bezeichnet (uncontacted peoples). Der Grad der Isolation ist unterschiedlich, einige der Gruppen unterhalten Kontakte zu benachbarten Stämmen oder erlauben Verwaltungsbeamten oder Forschern gelegentlichen Zutritt. Ungewollter Kontakt und Vertreibung entstehen durch Rodung, Bergbau, Straßenbau und Eindringen von Goldsuchern. Aufgrund ihrer Isolation besitzen Angehörige solcher Gruppen teils keine wirksame Immunabwehr gegen Krankheiten, die für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zumeist harmlos sind.
Zahlreiche isolierte Gruppen leben in den Regenwäldern Perus und Brasiliens. Auf den zu Indien gehörenden Andamanen leben mit den Sentinelesen und Jarawa zwei Völker in verschiedenen Graden der Isolation.[10]
Kritik und Anspruch der Indigenen
In verschiedenen Veröffentlichungen weisen Vertreter unterschiedlicher indigener Völker immer wieder darauf hin, dass ihre Kulturen und Weltanschauungen Alternativen für die moderne westliche Lebensweise und ihre globalen Problemfelder bieten könnten. Häufig wird dabei kritisiert, dass die westliche Welt ihre Kulturen als primitiv oder unterentwickelt betrachten würde, obwohl sie in der Regel auf eine Jahrtausende währende erfolgreiche Lebensstrategie zurückblicken könnten. In allen diesen Publikationen geht es nicht um eine romantisch verklärte Rückkehr zum Leben in der Natur, sondern vielmehr um die Aufnahme bewährter Elemente oder traditioneller, oftmals nachhaltig orientierter Werte ihrer Kulturen in die moderne Lebensweise.[11][12][13] Insbesondere der globalisierte Kapitalismus steht dem entgegen. So hat sich z. B. die Situation der kleinen Völker Nordsibiriens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgrund der neuen Marktstrukturen drastisch verschlechtert und der Preisdruck für Rentierfleisch zwingt immer mehr nordeuropäischen Sami zur umweltschädigenden Intensivierung oder Aufgabe der traditionellen Rentierzucht. Beim 8. Weltsozialforum in Belem (2009) forderten indigene Organisationen eine Abkehr von der „kapitalistischen Ausbeutung“, welche die „kolonialistische westliche Zivilisation“ über die Länder Südamerikas gebracht habe. Es bedürfe neuer und kreativer Optionen für eine „Koexistenz zwischen Natur und Gesellschaft“ nach dem Vorbild der indigenen Kulturen.[14] Eine weitreichende anti-westliche Philosophie, die den Europäer als krankhaft bösen Menschen darstellt, dessen Symptomatik (genannt „Wétiko-Psychose“) sich seuchenartig auf die unterworfenen Völker übertragen würde, entwickelte der US-indianische Professor Jack D. Forbes.
Forderungen indigener Völker
Zentrale Forderung der meisten Organisationen indigener Völker ist die verbindliche und uneingeschränkte Anerkennung ihrer Menschenrechte, beginnend mit dem Recht auf Selbstbestimmung, wie es in den ersten Artikeln der Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie über bürgerliche und politische Rechte, also der beiden wichtigsten völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtsdokumente ausdrücklich anerkannt wird.
Dabei ist Selbstbestimmung keineswegs gleichbedeutend mit Sezession (obwohl das Sezessionsrecht als Teil des Selbstbestimmungsrechtes der Völker diskutiert wird) und der Gründung eines eigenen Staates, sondern es geht um die prinzipielle Anerkennung eines Rechts.
In Fällen, wo z. B. transnationale Konzerne große industrielle Vorhaben (z. B. Bau von Großstaudämmen, Erdöl- oder Uranförderung, Atomtests, Entsorgung von Giftmüll) auf von indigenen Völkern genutzten oder bewohnten Territorien planen, fordern indigene Völker, dass dies nur nach einer Freien, Vorherigen und Informierten Zustimmung[15] geschehen darf.
In einigen Ländern ist die Forderung nach Free, Prior and Informed Consent bereits gesetzlich verwirklicht, so etwa auf den Philippinen.
Auf der Ebene des internationalen Rechts gehören die Verabschiedung einer Erklärung der Rechte indigener Völker der UN-Generalversammlung vom 13. September 2007 (Resolution 61/295 der UN-Generalversammlung)[16][17] (über 20 Jahre nachdem die entsprechende Arbeitsgruppe mit der Erarbeitung begonnen hatte), sowie die Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation[18] zu den Hauptforderungen.
Indigene Völker weltweit
Die Gesamtzahl der Angehörigen der indigenen Völker der Erde wird auf etwa 350 Millionen Menschen geschätzt, die meisten indigenen Völker leben auf der Insel Neuguinea (über 1000), in Papua-Neuguinea über 770. Dabei bestehen vor allem in Asien und Afrika erhebliche Unsicherheiten, denn in diesen Kontinenten stellen sich viele Regierungen auf den Standpunkt, die gesamte Bevölkerung sei indigen, während für Ethnologen „echte“ indigene Gruppen auch nach der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien oft weiter unterdrückt werden, was bei der Mehrheitsbevölkerung nicht der Fall ist. Sie bezeichnen indigene Völker daher oft auch als innere Kolonien oder Vierte Welt.
Die kulturvergleichende Sozialforschung hat im Laufe der Zeit zu verschiedenen Versuchen geführt (teils stark kritisiert), ähnliche indigene Kulturen zu geographisch abgrenzbaren Kulturräumen oder (historischen) Kulturarealen zusammen zu fassen. Beide Konzepte bieten eine einfache Möglichkeit, einen ersten Überblick über die indigene Vielfalt der Erde zu gewinnen (vergleiche Nordamerikanische Kulturareale und die australischen Kulturareal Desert und Kulturareal Western Desert).
Übersichten indigener Völker:
Liste indigener Völker weltweit
Afrika
Indigene Völker Afrikas
Amerika
Eskimo
Indianer
Indianer Nordamerikas
Indigene Völker Alaskas
Indigene Völker Mittelamerikas und der Karibik
Indigene Völker Südamerikas
Liste südamerikanischer indigener Völker
Indigene Bevölkerung Brasiliens
Indigene Völker in Argentinien
Asien
Indigene Völker Asiens
Indigene kleine Völker des russischen Nordens
Indigene Völker Taiwans
Australien und Ozeanien
Indigene Völker Australien-Ozeaniens
Aborigines
Europa
Indigene Völker Europas
Siehe auch
Ständiges Forum für indigene Angelegenheiten (UN-Wirtschafts- und Sozialrat)
UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker
Indigene Bevölkerungsgruppen in Wildnisgebieten
Ethnische Minderheit
Lokale Gemeinschaften
Volksstamm
Portal: Ethnologie – Wikipedia-Inhalte zum Thema Völkerkunde
quelle - Literatur & Einzelnachweise
Die ersten drei Präsidenten des indigenen Samen-Parlaments in Norwegen: Sven-Roald Nystø, Aili Keskitalo und Ole Henrik Magga (2006)
Der Begriff indigene Völker beinhaltet vor allem politische menschenrechtliche Ansprüche, weil Angehörige indigener Völker oft diskriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden (Marginalisierung). Dazu gibt es bei den Vereinten Nationen drei Organe: den Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker (vormals UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen), den UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker und das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten.
Eine politische Versammlung von Angehörigen des südkolumbianischen indigenen Volkes der Arhuaco in Südamerika (2003)
Definition
Die meistgebrauchte Definition des Begriffes geht auf den UN-Sonderberichterstatter José Martínez-Cobo zurück, der ihn 1986 in seiner grundlegenden Studie über Diskriminierung gegen indigene Völker an vier Kriterien knüpfte.[1] Der folgende Wortlaut weicht leicht von der Definition Cobos ab und orientiert sich an der weiter präzisierten Fassung aus dem Jahre 1996 von Erika-Irene Daes, der langjährigen Vorsitzenden der UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen:[2]
Zeitliche Priorität in Bezug auf die Nutzung oder Besiedlung eines bestimmten Territoriums: Indigene Völker sind relativ gesehen die „ersten“ Bewohner eines Gebiets.
Die freiwillige Bewahrung kultureller Besonderheit, in den Bereichen Sprache, Gesellschaftsorganisation, Religion und spirituelle Werte, Produktionsweisen und Institutionen: Indigene Völker sind kulturell deutlich von der Mehrheitsgesellschaft unterschieden.
Selbstidentifikation und Anerkennung durch andere als eine eigenständige Gemeinschaft: Die Betroffenen müssen selbst mehrheitlich der Ansicht sein, dass sie einer eigenständigen Gruppe (einem Volk) angehören und dass diese als „indigen“ anzusehen ist. Gleichzeitig muss diese Ansicht von anderen in nennenswertem Umfang geteilt werden, etwa von Angehörigen anderer indigener Völker.
Eine Erfahrung von Unterdrückung, Marginalisierung, Enteignung, Ausschluss oder Diskriminierung, wobei diese Bedingungen fortbestehen oder nicht: Der Grad der heute fortbestehenden Unterdrückung kann höchst unterschiedlich sein – von struktureller Benachteiligung bei Aufstiegsmöglichkeiten bis hin zu Zwangsvertreibung und Ausrottung (Ethnozid). Eine als Gruppe erfahrene Unterdrückung bestimmt in jedem Fall grundlegend das politische Selbstverständnis indigener Völker.
Diese vier Kriterien müssen nicht immer in gleicher Weise zutreffen, sie werden als Arbeitsdefinition verstanden, welche die Mehrzahl der Fälle angemessen beschreibt. Eine ausschließende, „harte“ Definition des Begriffs der indigenen Völker kann und soll es nach Ansicht der Vertreter vieler indigener Gruppen nicht geben, diese Ansicht wurde auch geteilt von der UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen (mittlerweile umbenannt in Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker).[2]
Das Konzept indigen findet teilweise auch dann Anwendung, wenn einzelne Kriterien nicht oder nicht mehr zutreffen. So kann die Selbstidentifikation als indigen fortdauern, auch wenn die erlittene Marginalisierung bereits (weitestgehend) überwunden ist, so etwa bei den Inuit in Grönland.
Ein zentrales Element der Unterscheidung indigener Gemeinschaften von der nicht-indigenen Mehrheitsgesellschaft ist oftmals die besonders enge Bindung indigener Kulturen an ihr jeweiliges Landgebiet sowie die besonders enge Beziehung zu diesem, die zumeist auch spirituelle Bereiche einschließt.[3]
Zentral zum Verständnis des Begriffs ist der Aspekt des Kollektiven: Indigene Völker existieren als soziale Gesellschaften, nicht als bloße Ansammlung von Einzelpersonen. Entsprechend sind die Forderungen nach indigenen Rechten überwiegend Forderungen nach Kollektivrechten, insbesondere sozialen Menschenrechten.
Wortherkunft „indigen, autochthon“
Die Bezeichnung „indigene Völker“ ist eine relativ junge Lehnübersetzung wahrscheinlich vom spanischen pueblos indígenas und bezeichnet Gemeinschaften von ursprünglichen Bewohnern einer Region oder eines Landes. Der Ausdruck „indigene Völker“ hat in Lateinamerika als Sammelbezeichnung für alle Nachkommen der vorkolumbischen Bevölkerung die Bezeichnungen Indios und Indianer ersetzt, die noch auf Christoph Kolumbus’ Verwechslung des amerikanischen Doppelkontinents mit seinem damaligen Zielland Indien beruhte.
Das Wort indigen setzt sich zusammen aus dem altlateinischen indi- (indu-) „innen, ein-“, und -genus „geboren“, was als „eingeboren“ oder „Eingeborener“ zu übersetzen ist. Allerdings wurde die Bedeutung von indigen zunächst fälschlich gedeutet im Sinne von „aus Indien stammend“ oder „indianischen Ursprungs“ (lateinisch indus „indisch“, nach Kolumbus auch „indianisch“, und -genus „geboren, stammend“), weil mit der Bezeichnung Völker beschrieben wurden, die von präkolumbianischen Hochkulturen (also „indianischen“ Kulturen) abstammen.
In internationalen politischen Zusammenhängen ist indigene Völker (indigenous people[s], pueblos indígenas) die übliche Sammelbezeichnung für Ureinwohnervölker aller Kontinente, während im jeweils nationalen Rahmen oft andere offizielle Sammelbegriffe verwendet werden, beispielsweise Aborigines in Australien, native Americans und First Nations in Nordamerika sowie Adivasi in Indien.
Die Bezeichnung „autochthone Völker“ (von altgriechisch autós „selbst“, und chthōn „Erde“: „einheimisch, eingeboren, alteingesessen“) ist ein Synonym für indigene Völker, das vor allem im Französischen häufig verwendet wird (peuples autochtones). Das Gegenteil wäre allochthon „von fremder Herkunft“.
Begriffsabgrenzung
Ureinwohner, Urbevölkerung
„Ureinwohner“ und „Urbevölkerung“ für Indigene Völker ist ein ethnologisch wenig brauchbarer Begriff: Er impliziert, diese Gruppe wäre schon immer dort ansässig gewesen und eine Form von „Originalbevölkerung“, was nur in vereinzelten Ausnahmen gilt. In Europa wären als solches vielleicht die Samen oder die Basken zu bezeichnen (aber auch das ist unklar), anthropologisch korrekt müsste man den Ausdruck wohl auf die Neandertaler anwenden. In jedem Fall ist die Betonung eines ursprünglichen Vorrechts durch (möglichst) lange, ursprüngliche Besiedlung insofern als Konstruktion zu betrachten, als die heutigen Bewohner und ihre soziokulturellen Zusammenhänge nicht mit denen der Erstbesiedler identisch sind oder sein können.
Eingeborene
Die deutsche Entsprechung des Begriffs indigen wäre „eingeboren“, doch findet das Wort Eingeborene aufgrund seines kolonialen oder romantisierenden Beiklangs heute wenig Verwendung. Es lässt sich wertneutral kaum verwenden.
Naturvölker
Die romantisierende Bezeichnung Naturvolk wird im Deutschen oft gleichbedeutend mit „indigene Völker“ verwendet (synonym). Das Wort kennt keine englische Entsprechung – es ist als Teil des eigenen Indianerbilds im deutschen Sprachraum nur dort von Bedeutung.
Während „indigen“ eine politische Kategorie ist, bezieht sich Naturvolk auf das romantische Ideal des „edlen Wilden“, der in vollkommener Harmonie mit der Natur lebe (siehe dazu auch Naturzustand nach Rousseau). Dabei wird übersehen, dass auch „naturverbundene“ menschliche Gemeinschaften immer Kultur hervorbringen. So sind beispielsweise die tropischen Regenwälder und die Tundren des russischen Nordens Kulturlandschaften, die durch indigene Völker geprägt wurden und werden. Das behauptete ökologische Umweltbewusstsein und die vermutete soziale Harmonie „natürlicher“ und früher Gesellschaftsformationen werden seit Langem durch vielfältige ethnologische (völkerkundliche) Studien in Frage gestellt.[4]
Die modernen Bezeichnungen „indigene Völker“ und „Indigene“ beziehen sich vor allem auf den Umstand der sozialen und politischen Benachteiligung (Diskriminierung) und fordern die Verwirklichung und Achtung von indigenen Rechten ein. Anhänger des Naturvolk-Begriffs streben dagegen meist die Erhaltung (Konservierung) einer vermeintlich oder tatsächlich naturnahen, nicht-technisierten Lebensweise an, was die Gefahr des Paternalismus birgt, einer Herrschaftsform mit vormundschaftlicher Beziehung zwischen Herrschern und beherrschten Personen. Demgegenüber schließt das Indigene-Völker-Konzept vor allem den Rechtsanspruch der Betroffenen ein, selbst über die eigene Entwicklung zu bestimmen, unabhängig davon, ob das Ergebnis dem Klischee vom edlen Wilden entspricht oder nicht. Insbesondere fordert dieses Konzept aber auch, die ehemals vorhandenen traditionellen rechtlichen Vorstellungen und Rechtsordnungen dieser Völker als gültig anzuerkennen und in Bezug auf Rechtsnachfolge in moderne Rechtszusammenhänge einzubinden. Das emanzipative Indigene-Völker-Konzept soll zwar letztlich in der Auflösung rechtlicher Benachteiligung münden, gerät dabei aber häufig selbst in Konflikt mit (alten, überlieferten) Rechtsvorstellungen der Indigenen.
Häufig umstrittene Fragen sind die Rechte an Landbesitz, teils umfassender an ganzen Landflächen. Viele indigene Völker verstehen Landbesitz als gruppeneigene, kollektive Rechte, die innerhalb einer Familie, Abstammungsgruppe, Erblinie oder einem Clan eigenständig verwaltet und auch vererbt werden. Mit der Verfügungs- und Nutzungsgewalt über Land(flächen) sind immer auch genau ausgehandelte Land-Nutzungsrechte anderer Gruppen des sozialen Gefüges verbunden, wie auch eigene Nutzungs- und Durchquerungsrechte an deren Land(besitz). Ihr eigenes Land gilt indigenen Gruppen und erst recht ganzen Völkern als grundsätzlich unveräußerlich. Im Falle von Nomaden und Halbnomaden kann sich der Flächenanspruch weit ausdehnen, oft verbunden mit jahreszeitlich vorgegebenen Ortswechseln. Beispielsweise leben auch in heutiger Zeit noch einige indigene Völker und Ethnien als Jäger und Sammler (Wildbeuter, siehe auch Indigene Bevölkerungsgruppen in Wildnisgebieten).
Demgegenüber wird in modernen Industriestaaten wie auch in europäisch geprägten, liberalen Gesellschaften der Grundbesitz als ein individuelles Recht verstanden, als Privateigentum. Verschiedene Verwertungsinteressen der Industriestaaten an Rohstoffen und Materialien kommen schnell in Konflikt mit indigenen Völkern bezüglich der Vorstellungen von Landnutzung. Dazu kommen Verwertungsinteressen von Indigenen an ihrem „eigenen Land“, die ihren eigenen Rechtstraditionen entgegenstehen können. Am Begriff „Naturvolk“ wird in diesen wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Zusammenhängen kritisiert, dass er ein Verharren in einem „vorkulturellen“ und „rechtlosen“ Zustand nahe lege, den es in Wirklichkeit nicht gebe.
Nationale Minderheiten, Volksgruppen
Vertreter indigener Völker legen großen Wert auf die Unterscheidung zwischen ihrer Bezeichnung als nationalen Minderheiten, als Volksgruppen, oder als indigen. Zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen gehören die ursprüngliche Bindung indigener Gruppen an ihre jeweiligen Gebiete, der Umstand der sozialen und politischen und ökonomischen Verdrängung (Marginalisierung) sowie der größere kulturelle und soziale Abstand zur jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Außerdem umfasst der Begriff „nationale Minderheit“ auch Gruppen, die selbst eine Vorbevölkerung überlagert haben oder im Nachhinein zugewandert sind.
Eindeutig um nationale Minderheiten handelt es sich bei Angehörigen einer Ethnie, die in einem anderen Staat die Titularnation stellt, von deren Namen sich also die Bezeichnung des Heimatstaates und seiner Staatsbürger ableitet. Dies sind beispielsweise Ungarn in Rumänien, Dänen in Schleswig-Holstein, Serben in Kroatien oder Polen in Litauen. In der Bundesrepublik Deutschland sind Dänen, Friesen, Sorben und Roma deutscher Staatsbürgerschaft gesetzlich als nationale Minderheiten anerkannt. Als territorial nicht gebundene Minderheit sind in der Schweiz „Fahrende“ anerkannt. Inwieweit diese Gruppen dann unter den Begriff indigen fallen, steht aber in keinen Zusammenhang zu ihrem offiziellen Minderheiten-Status.
Eine Volksgruppe ist im rechtlichen Zusammenhang nur in Österreich synonym zu einer nationalen Minderheit. Die Bezeichnung Volksgruppe kann sich auch auf einzelne ethnische Gruppen innerhalb von polyethnischen Gesellschaften beziehen (Vielvölkerstaaten), und in der Umgangssprache kann damit jegliche ethnische Minderheit gemeint sein.
Mythen und Religionen indigener Völker
Neue Erkenntnisse der Mythenforschung deuten darauf hin, dass die ältesten Kulturvorstellungen mythischer Art waren: Menschen waren davon überzeugt, dass alle Vorgänge sowohl im als auch außerhalb des Menschen durch Gottheiten bewirkt werden. Die Geschichten deren Wirkens, die der Philosoph und Mythosforscher Kurt Hübner als archai bezeichnet, wurden im jahreszeitlichen Rhythmus mündlich überliefert und führten zu einem zyklischen Zeitbewusstsein bei den mythischen Vorstellungen.[5] Dieses zyklische Zeitbewusstsein ist typisch für viele indigene Völker. Jedoch konnten sich nur wenige indigene Völker dem Einfluss der Weltreligionen entziehen und ihre traditionellen Religionen und Mythen unbeeinflusst bewahren.
Konfliktfelder
James Anaya, bis 2014 UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker, und seine Nachfolgerin Victoria Tauli-Corpuz (2013 in Kuala-Lumpur)
Land- und Ressourcenkonflikte
Da viele indigene Völker in zum Teil ressourcenreichen Gebieten der Erde leben, sind Konflikte, vor allem um Landnutzung und -rechte, ein generelles Problem dieser Völker. Ein Großteil der Uran-, Erdöl-, Gold- und Kohleförderung der Erde findet in den Gebieten indigener Völker statt. Ähnliches gilt für einen großen Teil der Atomtests der letzten Jahrzehnte, für Atommüllendlager und Großstaudämme. Dabei ziehen die Aktivitäten transnationaler Konzerne oftmals Militarisierung, Gewalt und bewaffnete Konflikte nach sich, so etwa auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Bougainville, bei der ein Bürgerkrieg wegen einer Kupfermine des Konzerns Rio Tinto Group etwa 10.000 Menschen das Leben kostete.[6]
Auch die Einrichtung von Großschutzgebieten zur Erhaltung der Natur verläuft nicht immer konfliktfrei für die Ureinwohner. So wurden insbesondere in mehreren afrikanischen Ländern indigene Gruppen von ihrem angestammten Land vertrieben, um die Gebiete in Nationalparks umzuwandeln. Interessenvertreter der Indigenen sehen darin wirtschaftliche Interessen: Ehemals ökonomisch wertlose Gebiete, in denen durch die in der Subsistenzwirtschaft lebenden Völker weder Geld hinein noch hinaus floss, werden durch den Status von Nationalparks und infolge von Tourismus sowie Infrastrukturmaßnahmen monetär in Wert gesetzt. Als Verursacher oder zumindest Dulder dieses Vorgehens werden auch die großen Umweltschutzorganisationen WWF, Conservation International und Nature Conservancy genannt.[7] Auf der anderen Seite verlieh der WWF 2011 einem samischen Verein in Nordschweden eine Auszeichnung für das zukunftsweisende indigene Management des Laponia-Welterbeparks.[8] Die Erkenntnis, dass traditionelle indigene Lebens- und Wirtschaftsweisen ein integraler Bestandteil ursprünglicher Naturlandschaften sind, wäre für die betroffenen Völker ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Als Vorbild sei z.B. der Nationalpark Xingu in Brasilien genannt (siehe auch: „Traditionelle Völker und Gemeinschaften“ in Brasilien). Über die Einrichtung von Großschutzgebieten für die Natur und die Indigenen als ihre „Verwalter“ ließen sich Landrechtskonflikte sicherlich deutlich entschärfen.
In Kanada, den USA und mehreren südamerikanischen Ländern gibt es seit vielen Jahrzehnte Indianerreservate sehr unterschiedlicher Größe und mit ganz verschiedenen Rechten für die dort wohnenden Ethnien. Darüber hinaus existieren in Kanada riesige Territorien mit speziellen Rechten für die First Nations wie Nunavut und Nunavik. Australiens Aborigines sind seit Anfang des 21. Jahrhunderts wieder Eigentümer großer Landgebiete, die zum Teil als Indigenous Protected Area zum Schutz der Natur und der Ureinwohner ausgewiesen werden. Aus der rein rechtlichen Festlegung von Gebieten für Indigene auf diesen drei Kontinenten lassen sich allerdings keinerlei Rückschlüsse auf den ökologischen Zustand oder die konkrete Situation ihrer Bewohner ziehen.
Der Streit um das kleine ‚s‘
Im Streit ums kleine „s“ geht es um die Frage, ob es indigenous peoples (Völker) oder nur indigenous people (Menschen) gibt; dies bleibt bis heute heftig diskutiert und umkämpft.
Aus diesem Grund heißt die zuständige UNO-Arbeitsgruppe bis heute Working Group on Indigenous Populations (UN-Arbeitsgruppe über Indigene Bevölkerungen (UNWGIP)), ebenso heißt ein neu eingerichtetes UN-Gremium in New York Permanent Forum on Indigenous Issues (Ständiges Forum über indigene Angelegenheiten). Beide Begriffe vermeiden die Verwendung von people und peoples, die anstelle des jeweils letzten Wortes verwendet werden könnten.
Der ernsthafte Hintergrund dieses Streits ist, dass das Völkerrecht mit dem Begriff Volk weitreichende spezifische Rechte verbindet, zuallererst das Recht auf Selbstbestimmung (Selbstbestimmungsrecht der Völker), was die freie Verfügung über Land und Ressourcen einschließt. Da indigene Völker häufig in ressourcenreichen Regionen leben, fürchten zahlreiche Regierungen im Falle einer Anerkennung dieses Rechts, die Kontrolle über diese Bodenschätze zu verlieren. Weiterhin besteht in Ländern, in denen gewaltsame Konflikte zwischen Regierungen und indigenen Völkern herrschen, mitunter die Befürchtung einer Sezession der Letzteren.
Unkontaktierte Völker und Völker in freiwilliger Isolation
Weltweit haben sich mehr als hundert indigene Gruppen dafür entschieden, von der Außenwelt isoliert zu leben – meist nicht freiwillig, sondern aufgrund katastrophaler Erfahrungen.[9] Diese Gruppen werden zumeist als „isolierte Völker“ bezeichnet (uncontacted peoples). Der Grad der Isolation ist unterschiedlich, einige der Gruppen unterhalten Kontakte zu benachbarten Stämmen oder erlauben Verwaltungsbeamten oder Forschern gelegentlichen Zutritt. Ungewollter Kontakt und Vertreibung entstehen durch Rodung, Bergbau, Straßenbau und Eindringen von Goldsuchern. Aufgrund ihrer Isolation besitzen Angehörige solcher Gruppen teils keine wirksame Immunabwehr gegen Krankheiten, die für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zumeist harmlos sind.
Zahlreiche isolierte Gruppen leben in den Regenwäldern Perus und Brasiliens. Auf den zu Indien gehörenden Andamanen leben mit den Sentinelesen und Jarawa zwei Völker in verschiedenen Graden der Isolation.[10]
Kritik und Anspruch der Indigenen
In verschiedenen Veröffentlichungen weisen Vertreter unterschiedlicher indigener Völker immer wieder darauf hin, dass ihre Kulturen und Weltanschauungen Alternativen für die moderne westliche Lebensweise und ihre globalen Problemfelder bieten könnten. Häufig wird dabei kritisiert, dass die westliche Welt ihre Kulturen als primitiv oder unterentwickelt betrachten würde, obwohl sie in der Regel auf eine Jahrtausende währende erfolgreiche Lebensstrategie zurückblicken könnten. In allen diesen Publikationen geht es nicht um eine romantisch verklärte Rückkehr zum Leben in der Natur, sondern vielmehr um die Aufnahme bewährter Elemente oder traditioneller, oftmals nachhaltig orientierter Werte ihrer Kulturen in die moderne Lebensweise.[11][12][13] Insbesondere der globalisierte Kapitalismus steht dem entgegen. So hat sich z. B. die Situation der kleinen Völker Nordsibiriens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgrund der neuen Marktstrukturen drastisch verschlechtert und der Preisdruck für Rentierfleisch zwingt immer mehr nordeuropäischen Sami zur umweltschädigenden Intensivierung oder Aufgabe der traditionellen Rentierzucht. Beim 8. Weltsozialforum in Belem (2009) forderten indigene Organisationen eine Abkehr von der „kapitalistischen Ausbeutung“, welche die „kolonialistische westliche Zivilisation“ über die Länder Südamerikas gebracht habe. Es bedürfe neuer und kreativer Optionen für eine „Koexistenz zwischen Natur und Gesellschaft“ nach dem Vorbild der indigenen Kulturen.[14] Eine weitreichende anti-westliche Philosophie, die den Europäer als krankhaft bösen Menschen darstellt, dessen Symptomatik (genannt „Wétiko-Psychose“) sich seuchenartig auf die unterworfenen Völker übertragen würde, entwickelte der US-indianische Professor Jack D. Forbes.
Forderungen indigener Völker
Zentrale Forderung der meisten Organisationen indigener Völker ist die verbindliche und uneingeschränkte Anerkennung ihrer Menschenrechte, beginnend mit dem Recht auf Selbstbestimmung, wie es in den ersten Artikeln der Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie über bürgerliche und politische Rechte, also der beiden wichtigsten völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtsdokumente ausdrücklich anerkannt wird.
Dabei ist Selbstbestimmung keineswegs gleichbedeutend mit Sezession (obwohl das Sezessionsrecht als Teil des Selbstbestimmungsrechtes der Völker diskutiert wird) und der Gründung eines eigenen Staates, sondern es geht um die prinzipielle Anerkennung eines Rechts.
In Fällen, wo z. B. transnationale Konzerne große industrielle Vorhaben (z. B. Bau von Großstaudämmen, Erdöl- oder Uranförderung, Atomtests, Entsorgung von Giftmüll) auf von indigenen Völkern genutzten oder bewohnten Territorien planen, fordern indigene Völker, dass dies nur nach einer Freien, Vorherigen und Informierten Zustimmung[15] geschehen darf.
In einigen Ländern ist die Forderung nach Free, Prior and Informed Consent bereits gesetzlich verwirklicht, so etwa auf den Philippinen.
Auf der Ebene des internationalen Rechts gehören die Verabschiedung einer Erklärung der Rechte indigener Völker der UN-Generalversammlung vom 13. September 2007 (Resolution 61/295 der UN-Generalversammlung)[16][17] (über 20 Jahre nachdem die entsprechende Arbeitsgruppe mit der Erarbeitung begonnen hatte), sowie die Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation[18] zu den Hauptforderungen.
Indigene Völker weltweit
Die Gesamtzahl der Angehörigen der indigenen Völker der Erde wird auf etwa 350 Millionen Menschen geschätzt, die meisten indigenen Völker leben auf der Insel Neuguinea (über 1000), in Papua-Neuguinea über 770. Dabei bestehen vor allem in Asien und Afrika erhebliche Unsicherheiten, denn in diesen Kontinenten stellen sich viele Regierungen auf den Standpunkt, die gesamte Bevölkerung sei indigen, während für Ethnologen „echte“ indigene Gruppen auch nach der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien oft weiter unterdrückt werden, was bei der Mehrheitsbevölkerung nicht der Fall ist. Sie bezeichnen indigene Völker daher oft auch als innere Kolonien oder Vierte Welt.
Die kulturvergleichende Sozialforschung hat im Laufe der Zeit zu verschiedenen Versuchen geführt (teils stark kritisiert), ähnliche indigene Kulturen zu geographisch abgrenzbaren Kulturräumen oder (historischen) Kulturarealen zusammen zu fassen. Beide Konzepte bieten eine einfache Möglichkeit, einen ersten Überblick über die indigene Vielfalt der Erde zu gewinnen (vergleiche Nordamerikanische Kulturareale und die australischen Kulturareal Desert und Kulturareal Western Desert).
Übersichten indigener Völker:
Liste indigener Völker weltweit
Afrika
Indigene Völker Afrikas
Amerika
Eskimo
Indianer
Indianer Nordamerikas
Indigene Völker Alaskas
Indigene Völker Mittelamerikas und der Karibik
Indigene Völker Südamerikas
Liste südamerikanischer indigener Völker
Indigene Bevölkerung Brasiliens
Indigene Völker in Argentinien
Asien
Indigene Völker Asiens
Indigene kleine Völker des russischen Nordens
Indigene Völker Taiwans
Australien und Ozeanien
Indigene Völker Australien-Ozeaniens
Aborigines
Europa
Indigene Völker Europas
Siehe auch
Ständiges Forum für indigene Angelegenheiten (UN-Wirtschafts- und Sozialrat)
UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker
Indigene Bevölkerungsgruppen in Wildnisgebieten
Ethnische Minderheit
Lokale Gemeinschaften
Volksstamm
Portal: Ethnologie – Wikipedia-Inhalte zum Thema Völkerkunde
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