Karl Renner
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Karl Renner
Karl Renner (* 14. Dezember 1870 in Untertannowitz, Mähren; † 31. Dezember 1950 in Wien) war ein österreichischer sozialdemokratischer Politiker (SDAP/SPÖ) und Jurist. Nach dem Ersten Weltkrieg war er von 1918 bis 1920 als Staatskanzler (Staatsregierung Renner I, Renner II und Renner III) maßgeblich am Entstehen der Ersten Republik Österreich beteiligt und leitete auch die österreichische Delegation bei den Verhandlungen in Saint-Germain. Von 1920 bis 1934 war Renner Abgeordneter zum Nationalrat und von 1931 bis 1933 Präsident des Nationalrates; sein Rücktritt führte zur angeblichen Selbstausschaltung des Parlaments.
1938 war er aktiver Befürworter des von ihm 1918/19 erfolglos betriebenen „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich.[1]
Als Österreich als unabhängiger Staat nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererrichtet wurde, war er als Chef der provisorischen Regierung neuerlich einer der Hauptakteure. Von Dezember 1945 bis zu seinem Tod 1950 amtierte er als erster Bundespräsident der Zweiten Republik.
Renner war Anhänger der parlamentarischen Demokratie im Sinne Lassalles und zählte als solcher in seiner Partei zum rechten (pragmatischen) Flügel. Dabei hat Renner immer darauf beharrt, als Marxist zu gelten, wenn auch als ein Marxist eigener Observanz.[2] Renner gilt als fruchtbarer Publizist, dessen Spezialgebiet die Rechtssoziologie war. Seine Pseudonyme als Schriftsteller waren Synopticus und Rudolf Springer.
1891–1920: Die frühen Jahre
Kindheit und Studium
Karl Renner wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einem fast ausschließlich deutsch besiedelten Dorf in Südmähren, wenige Kilometer nördlich der Nordgrenze Niederösterreichs, auf. Er kam mit seinem Zwillingsbruder Anton als 17. oder 18. Kind seiner Eltern zur Welt, hineingeboren in eine Weinbauernfamilie. (Sein Vorname wurde nach damaliger Rechtschreibung als Carl ins Taufregister eingetragen.) Sein Elternhaus wurde als Folge von Kinderreichtum, Agrarkrise und ländlichem Wucher zwangsversteigert und die Familienangehörigen zerstreuten sich in die Welt, verteilt auf die verschiedensten Berufe und Lebenseinstellungen, was ein typischer Vorgang für die soziale Umschichtung der Zeit um 1900 war. Während seine Eltern ins Armenhaus ziehen mussten, konnte er das Gymnasium besuchen (einer seiner Lehrer war Wilhelm Jerusalem), maturierte in Nikolsburg (Mikulov) mit Auszeichnung und absolvierte von 1891 bis 1896 das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien.[3] Renner war 1895 maßgeblich an der Gründung der internationalen Naturfreundebewegung beteiligt, die heutzutage weltweit über 500.000 Mitgliedern verfügt.[4] Nach dem Abschluss des Studiums gelang es ihm, eine definitive Beamtenstelle in der Bibliothek des Reichsrates, des Parlaments Altösterreichs, zu erhalten.
Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Nebenbei engagierte er sich in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). In seiner ersten großen Arbeit widmete er sich der akuten Nationalitätenfrage.[5] Sein Lösungsansatz: Die Zugehörigkeit zur Nation soll nicht nach territorialen, sondern nach personellen Gesichtspunkten geregelt werden. Die zu bildenden Verbände auf ethnischer Basis sollten ihre Interessen ihrer Stärke gemäß im gemeinsamen Reichsrat vertreten.
Renner war aber nicht nur sozialistischer Theoretiker, sondern auch sozialistischer Funktionär mit hohem Engagement an der Basis. Nach seiner Berufung in den Reichsrat im Jahre 1907 widmete er sich weiterhin dem Genossenschaftswesen, da er dieses als besonders wichtigen Teil der „sozialistischen Dreifaltigkeit“ (Genossenschaften, Gewerkschaften, Bildungsarbeit) betrachtete. 1910 schrieb er eine umfangreiche Abhandlung über „Landwirtschaftliche Genossenschaften“ und „Konsumvereine“.
1911 wurde er zum Verbandsobmann des Zentralverbandes österreichischer Konsumvereine (ZÖK) gewählt. Um die teilweise finanziell angeschlagenen Genossenschaften von der Abhängigkeit bürgerlicher Großbanken zu befreien, gründete er im Jahr 1912 den Kreditverband der österreichischen Arbeitervereinigungen, der 1922 in die Arbeiterbank umgewandelt wurde. An der „Arbeiterbank AG“ besaßen die sozialistischen Gewerkschaften und die Großeinkaufsgesellschaft für österreichische Consumvereine (GÖC) je 40 % Anteile.
Renners Genossenschaftsarbeit trug messbare Früchte. Sie schuf einen Kreis dankbarer Genossenschafter, auf den er sich immer wieder stützen konnte. Diese grundsätzlich antirevolutionäre Tätigkeit sowie sein Landhaus in Gloggnitz machten ihn, dem tatsächlich „jeder Hang zum gewaltsamen Umsturz fremd“ war,[6] zur Zielscheibe des linken Flügels einer Partei, die zumindest theoretisch auf dem Boden des auf Umsturz ausgerichteten Kommunistischen Manifestes stand. So warf ihm Friedrich Adler, der im Jahr 1917 seinen Mordprozess in eine Abrechnung mit der SDAP umfunktionierte, stellvertretend für den rechten Parteiflügel „biedere Verlogenheit“, „Prinzipienlosigkeit“ und „Gaukelei“ vor.[7] Dieser Vorwurf kann nicht achtlos ignoriert werden, da Renner in einer Parlamentssitzung 1917 vor der Errichtung von Republiken in ganz Europa durch die Franzosen als Untergang der Zivilisation warnte, während er 1919 die Monarchie als „Völkerkerker“ bezeichnete.
Politik im Ersten Weltkrieg
Karl Renner war, wie ein großer Teil der deutschösterreichischen Sozialdemokratie, im Krieg Verfechter der Mitteleuropaideen Friedrich Naumanns und wurde von Adler deswegen scharf kritisiert. Renner übersah in seinem Optimismus, dass die Westmächte eine deutsche Hegemonie ablehnten. In einer Sitzung am 13. Juli 1915 sprach sich Renner zwar gegen deutschen Landerwerb im Westen aus, gestand dem Verbündeten aber zu,
„dass das Verhältnis Belgiens so geordnet werde, dass es kein Hindernis künftiger Kriege sei. Im Osten sei nur Annexionsland […]. Man tut dem dauerhaften Frieden keinen Dienst, wenn man nur einen Frieden anstrebt, der nur ein Waffenstillstand ist.“
Einem selbständigen Polen sei Galizien und Preußisch-Polen anzugliedern, was eine Hegemonie der Mittelmächte voraussetzte.[8]
Renners Forderung nach einer umfassenden territorialen Neuregelung, um einen dauerhaften Frieden zu erreichen, rief die offene Kritik Adlers hervor. Aber auch Adler war wegen der Polenfrage gehindert, frühzeitig das populäre Schlagwort vom Frieden ohne Annexionen aufzugreifen. Anfang 1916 hatte Renner bei Verhandlungen mit deutschen Sozialdemokraten einem mitteleuropäischen Wirtschaftsbund, der Freihandel zuließ, zugestimmt, aber eine politische und militärische Union abgelehnt.[9] Mitte Juni 1917 forderte Renner zusammen mit Karl Seitz im Reichsrat schließlich den Frieden ohne Annexionen und Kontributionen.
Staatskanzler, Außenpolitiker und Oppositionsführer
Renner bei den Verhandlungen in Saint-Germain (zweiter von links)
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Renner am 30. Oktober 1918 von der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich zum Staatskanzler gewählt und blieb dies bis 7. Juli 1920. Er hatte wesentlichen Anteil an der formalen Staatswerdung der Republik, am Habsburgergesetz und am Zustandekommen des Bundes-Verfassungsgesetzes. Zuletzt Staatssekretär des Äußeren, schied er wie die anderen Sozialdemokraten am 22. Oktober 1920 aus der Regierung aus (in die er und seine Parteifreunde erst 1945 zurückkehren sollten).
Renner dichtete den Text zur inoffiziellen Hymne „Deutschösterreich, du herrliches Land“ selbst. Er leitete die deutschösterreichische Delegation bei den als Diktat empfundenen Friedensverhandlungen und unterzeichnete am 10. September 1919 den Vertrag von Saint-Germain, der am 21. Oktober von der Konstituierenden Nationalversammlung ratifiziert wurde: Der Staat musste nun Republik Österreich heißen und hatte unabhängig zu bleiben (Anschlussverbot). Die deutsch besiedelten Gebiete in Südtirol, Böhmen, Österreichisch-Schlesien (Sudetenland) und Mähren – die Heimat Renners – waren für den Staat definitiv verloren, Deutsch-Westungarn war für Österreich zu gewinnen.
Siehe:
Staatsregierung Renner I
Staatsregierung Renner II
Staatsregierung Renner III
Das Land besaß seit Sommer 1920 nur mehr eine geschäftsführende Regierung, die Staatsregierung Mayr I, da sich die früheren Koalitionäre nicht mehr auf gemeinsame Regierungspolitik einigen konnten. Allerdings wurde die Arbeit an der Bundesverfassung fertiggestellt und das Bundes-Verfassungsgesetz am 1. Oktober 1920 beschlossen. An diesem Tag hielt die Konstituierende Nationalversammlung ihre letzte Sitzung vor der ersten Nationalratswahl ab.
Renner und die Differenzen mit Otto Bauer (1918–1934)
In den beiden ersten, turbulenten Jahren, während der die SDAP als stimmenstärkste Fraktion die Regierungsverantwortung gemeinsam mit den Christlichsozialen trug, kam es zu keinen wesentlichen Spannungen zwischen ihm und dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Otto Bauer, der als Chefideologe der Partei und Führer des linken (marxistischen) Flügels die Partei prägte, während der Parteivorsitzende Seitz sich vorwiegend seiner Aufgabe als Wiener Bürgermeister widmete. Als Bauer gegen den Willen Renners und zahlreicher anderer Funktionäre nach der Wahlniederlage am 17. Oktober 1920 die Partei aber in die Opposition brachte und damit die Verfügung über das Bundesheer abgab, wuchsen die Spannungen. Sie wurden im Rahmen der Parteidisziplin niemals offen ausgetragen; in Publikationen der Kontrahenten klangen sie 'zwischen den Zeilen' an.
1931 hielt Renner in der Annahme, dass die Wahl des Bundespräsidenten zum ersten Mal in Volkswahl vorgenommen werden würde, eine Rede.[10] Zu einer Volkswahl kam es aber nicht: Wilhelm Miklas wurde vielmehr von der Nationalversammlung am 9. Oktober 1931 zum Bundespräsidenten (wieder)gewählt.
Renner und Bauer – unterschiedliches Demokratieverständnis
Unterschiedlich war zunächst die Einstellung zum Staat. Für Marx wie für Otto Bauer galt auch der demokratische Staat lediglich als Repressionsinstrument der herrschenden Klasse. Als solches habe er, so Bauer, zwar auch noch in der Phase der Diktatur des Proletariats eine gewisse Berechtigung; in der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft würde diese Krücke aber nicht mehr benötigt, der Staat würde sich auflösen:
„Das [wahre] sozialistische Gemeinwesen setzt sich nicht nur zum modernen Staat, sondern zu allen historischen Staatsformen in Gegensatz.[11]“
Renner wie der Mitgestalter der österreichischen Bundesverfassung, Hans Kelsen, sahen hingegen den Staat als ein zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformen unverzichtbares Gerüst aus Führungs-, Legislativ-, Exekutiv- und Verwaltungsorganen, das ein Zusammenleben von Menschen in einer größeren Gemeinschaft überhaupt erst möglich mache. Die permanente Adaptierung dieses Gerüstes an die sich wandelnde Gesellschaft sei eine der wichtigsten Aufgaben der Volksvertreter. Verschiedene Ansichten herrschten auch über den Umgang mit dem Begriff Demokratie. Bauer weigerte sich, die „bürgerliche Demokratie“ mit ihrem Mehrheitsprinzip in „Gegensatz zum Sozialismus und über den Sozialismus zu setzen“. Er plädierte für eine „sozialistische Demokratie“, bei welcher der Wille der Mehrheit nicht grundsätzlich essentiell sei. Der Priorität des Sozialismus setzte Renner, der sich in diesem Punkt neben Hilferding auch auf Kelsen berief, ein uneingeschränktes Bekenntnis zur (bürgerlichen) Demokratie entgegen:
„Unterbinden wir die freie gesellschaftliche Demokratie, so zerstören wir den fruchtbaren Boden, aus dem alles Neue hervorwächst, das soziale Experimentierfeld, von dem aus alle materielle und geistige Verjüngung der Gesellschaft hervorsprießt! Diktatur heißt in allen Formen und unter allen Umständen Verselbständigung des Mittels der Gesellschaft, um es zu deren Herren zu machen. Herrschaft um der Herrschaft willen.[12]“
Auch in der Einstellung zur Partei gab es gravierende Unterschiede. Während Bauer für unbedingten Parteipatriotismus eintrat, meinte Renner:
„Nie ist die Partei das Ganze, nie kann sie das Ganze darstellen oder ersetzen. Das Ganze lebt in der Wechselbeziehung der Parteien zueinander und in dem Widerstreit ihrer Programme, in demselben Für und Wider, das ja den Prozess widerstreitender Erwägungen vor dem Entschluss des Individuums auszeichnet.[13]“
Renner und Bauer – unterschiedliche Zukunftsvisionen
Unterschiedlich war auch die Einstellung zur Zukunft. Während Bauer sich mit den real existierenden Objektiven Verhältnissen als Voraussetzung für die unausweichliche Revolution abfand, war Renner, ebenso wie Victor Adler, überzeugt, dass man nicht in einer „politischen Warteschleife“ oder „revolutionären Pause“ verharren dürfe, sondern mit welchen Partnern auch immer daran arbeiten müsse, die Voraussetzungen für das Endziel, die sozialistische Gesellschaft, selbst zu schaffen. Renners Kritik am marxistischen Parteiflügel beruhte auch auf der Überzeugung, dass die Arbeitswelt an der Wende zum 20. Jahrhundert nicht mehr jener Arbeitswelt entsprach, die Marx als Basis für sein Manifest genommen hatte. Er vertrat die Meinung, dass der auf den Industriearbeiter fixierte Proletarierbegriff – im Sinne von Lassalles Perzeption von Werktätigkeit – nun unbedingt auf andere Arbeitsbereiche, vor allem auf die geistige Arbeit ausgedehnt werden müsse. Dies würde den ökonomischen und gesellschaftlichen Realitäten des modernen Industriestaates mit seiner Verwischung der Klassengrenzen und der sich abzeichnenden eher friedlichen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft mehr Rechnung tragen. Renner plädierte daher ebenfalls im Sinne Lassalles, die Gewichte von Revolution in Richtung Evolution und von Konfrontation in Richtung Kooperation zu verschieben und sich auch unter bürgerlichen Mehrheiten konstruktiv ins Politgeschehen einzubringen:
„Die Theorie des Sozialismus hat lange Zeit wie geblendet ausschließlich auf die Entwicklung des Kapitals… gestarrt und erwartet, dass der Sozialismus auf einem bestimmten Punkt dieses Prozesses durch dessen jähen Umschlag in die Welt treten werde… In zweifacher Richtung ist die Einseitigkeit wahrzunehmen: Sowohl rein ökonomisch, indem sie auf den Entwicklungsprozess des Kapitals starrt und von dessen Umschlag die sozialistische Gesellschaft erwartet, als auch rein politisch, indem sie der politischen Revolution des Proletariats die Aufgabe zuschreibt, den Umschlag aus dem Kapitalismus in den Sozialismus künstlich zu beschleunigen und mit einem Schlag zu vollenden. Die eine Richtung fällt leicht in einen politischen Quietismus, die andere in einen politischen Hyperaktivismus. Die letztere hat sich insbesondere ausgewirkt in dem russischen Bolschewismus.[14]“
Dabei ließ Renner offen, wer dem politischen Quietismus verfallen sei; damit war nach herrschender Ansicht Otto Bauer gemeint.
Renner und die parlamentarische Geschäftsordnungskrise 1933
Renner trat in diesen Jahren immer wieder für eine Zusammenarbeit mit der Christlichsozialen Partei ein. Lediglich im Jahr 1931 sprach er sich im Parteivorstand gegen die von Bundeskanzler Ignaz Seipel angebotenen Koalition mit den Christlichsozialen aus.
Im Zusammenhang mit der Geschäftsordnungskrise im März 1933, die von den Christlichsozialen unter Dollfuß zu einem Staatsstreich genutzt wurde (und propagandistisch als „Selbstausschaltung des Parlaments“ bezeichnet wurde), spielte er als erster Präsident des Nationalrates eine umstrittene Rolle. Er ließ sich von Bauer und Seitz überreden, aus abstimmungstechnischen Gründen sein Amt niederzulegen.[15] Nach dem Rücktritt der beiden anderen Präsidenten führt dies zu einer Situation, für die in der Geschäftsordnung nicht vorgesorgt worden war. Eine Beilegung dieser Geschäftsordnungskrise wurde jedoch am 15. März 1933 von Dollfuß unter Einsatz der Exekutive unterbunden, die Abgeordneten konnten nicht zusammentreten.
Renner blieb nach seinem Rücktritt untätig und nutzte seine Position als ehemaliger erster Nationalratspräsident nicht. Der ehemalige dritte Nationalratspräsident, der Deutschnationale Sepp Straffner, berief am 9. März für den 15. März den Nationalrat ein. Die Bundesregierung unter Dollfuß qualifizierte diese Einberufung als der Verfassung widersprechend und kündigte an, „einer drohenden Verfassungsbeugung entgegenzuwirken.“[16] 200 Kriminalbeamte, die von der Regierung geschickt wurden, hinderten daraufhin die sozialdemokratischen und großdeutschen Abgeordneten, die sich am 15. März zur Sitzung versammeln wollten, am Betreten des Sitzungssaales.
Renner und der „Anschluss“ an Deutschland
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 gab Renner dem Neuen Wiener Tagblatt ein vom NS-Staat autorisiertes Interview, das am 3. April 1938 erschien.[17]. In dem Beitrag mit dem Titel „Ich stimme mit Ja“[18] distanzierte er sich zwar von den Methoden, mit denen der Anschluss erfolgte, erklärte jedoch:
„Trotzdem habe ich seit 1919 in zahllosen Schriften und ungezählten Versammlungen im Lande und im Reiche den Kampf um den Anschluß weitergeführt. Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St-Germain und Versailles. Ich müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte. […] Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St-Germain werde ich mit Ja stimmen.“
Renners Angebot an die neuen Machthaber war weiter gegangen; er hatte eine aktive Ja-Kampagne angeboten. Das NS-Regime begnügte sich aber mit dem einen Zeitungsbericht. Renners Verhalten wurde später oft auch damit zu erklären versucht, dass er mit dieser Erklärung den damaligen Zentralsekretär der Sozialdemokratischen Partei, Robert Danneberg, der mit anderen prominenten Österreichern am 1. April 1938 in das KZ Dachau gebracht worden war, schützen wollte. Renners Tochter Leopoldine Deutsch-Renner (1891–1977) emigrierte 1938 mit ihrem jüdischen Mann Hans Deutsch-Renner (1879–1953) und ihren drei Kindern nach London, kehrte aber schon 1939 zu ihrem Vater nach Gloggnitz zurück.[19]
1938/39 verfasste Renner das Manuskript Die Gründung der Republik Deutschösterreich, der Anschluß und die sudetendeutsche Frage, in dem er den „Anschluss“ Österreichs und der sudetendeutschen Gebiete – und auch die Handlungsweise Hitlers und seiner Regierung in diesem Zusammenhang – sehr ausführlich positiv darstellte. Das Manuskript blieb damals unveröffentlicht; es wurde erst 1990 von Eduard Rabofsky ediert und kommentiert. Anton Pelinka merkte dazu 2009 an, dieser zweite Anpassungsschritt Renners sei von der Sozialdemokratie nach 1945 de facto unterschlagen worden, er sei in keiner der sozialdemokratischen Renner-Hagiographien aufgetaucht.[20] 2012 äußerte der Historiker Oliver Rathkolb, Renner hätte 1945 nicht Staatschef werden können, wäre dieser Text damals bekannt gewesen (siehe Abschnitt Nachwirken). Zur Erklärung von Renners damaliger Haltung muss berücksichtigt werden, dass seine unmittelbare Heimat, das deutsch besiedelte Südmähren, 1918/19 gegen den Willen der Bevölkerung nicht zu Deutschösterreich gelangen konnte, sondern von tschechischem Militär besetzt und der Tschechoslowakischen Republik einverleibt wurde.
Karl-Renner-Denkmal in Siegendorf/Burgenland
Renner verbrachte die Zeit der NS-Herrschaft unter Hausarrest in Gloggnitz, wo er ein Haus besaß. Dieser Hausarrest war von den Nationalsozialisten sehr großzügig bemessen worden. Auch war ihm das Schreiben weiterhin erlaubt, und er verfasste (ohne Publikationsmöglichkeit) Das Weltbild der Moderne, ein umfangreiches Versepos in Anlehnung an Lukrez.
Renner und die Gründung der Zweiten Republik (1945–50)
Stalin und Renner
Die Weigerung der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES), mit anderen österreichischen Exilgruppierungen zusammenzuarbeiten, hatte zur Folge, dass es während des Krieges zu keiner Konstituierung einer österreichischen Auslandsvertretung oder Exilregierung kam und mit Kriegsende ein politischer Freiraum in Österreich existierte. Diesen Freiraum wollte die sowjetische Regierung so bald wie möglich zur Bildung einer ihr genehmen Regierung nutzen. Mit dem Auftrag zur Suche nach Karl Renner unmittelbar nach dem Einmarsch der ersten Rotarmisten in Österreich setzte Stalin erste Schritte in diese Richtung.[21] Den Westalliierten wurden diese Intentionen verschwiegen, da der Sowjetunion bekannt war, dass sie den Österreichern erst nach Kriegsende und auch dann nur in kleinen Schritten politische Verantwortung übertragen wollten. Stalin fasste diesen Entschluss auch gegen den Willen der KPÖ. Diese hatte um Zeit für den Aufbau einer neuen Parteiorganisation vor Ort gebeten, da die alte, von Gestapo-Spitzeln unterwanderte Parteiorganisation während des Krieges so gut wie restlos zerschlagen worden war. Dazu meinte der österreichische Marxist Erwin Scharf:
„Dass ausgerechnet Renner, der sich von den Nazis agitatorisch für die Sanktionierung der Okkupation Österreichs hatte missbrauchen lassen, mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, blieb unbegreiflich… erst als in späteren Jahren im Politischen Büro der KPÖ das Thema angeschnitten wurde, erhielt ich einige aufklärende Informationen: Tatsächlich waren Franz Honner und andere führenden Funktionäre der KPÖ nicht der Ansicht, dass man nach der militärischen Befreiung sofort eine provisorische Regierung bilden sollte. Denn vorher musste man die demokratischen Organisationen aufbauen, eine feste Einheit aller Demokraten und Patrioten schaffen, den opportunistischen Spreu vom antifaschistischen Weizen scheiden, und dann erst könnte man, gestützt auf die neuen politischen Gruppierungen, eine Regierung bilden. Aber dieser Plan konnte nicht verwirklicht werden. Das Oberkommando der Roten Armee hatte … Dr. Karl Renner eingeladen, eine provisorische Regierung zu bilden.[22]“
Am 4. April meldete das Kommando der 103. Gardeschützendivision, dass sich der gesuchte Karl Renner im Raum Gloggnitz aus eigenem Antrieb gemeldet und sich bezüglich einer Regierungsbildung zur Verfügung gestellt hatte. Dazu Renner:
„Ließ ich mich in Verhandlungen ein, so konnte das mit der Einbuße meines guten Namens und mit meiner politischen Ehre endigen und überdies der Sozialdemokratischen Partei… zum Nachteil ausschlagen… nach längerem Ringen entschloss ich mich, alle Risiken auf mich zu nehmen, um möglicherweise doch Österreich die Chance zu geben, die verhängnisvolle Bindung an Hitler-Deutschland selbst zu zerreißen […]. Anderseits war mir klar bewußt, dass ich niemals als Beauftragter Russlands die Mission übernehmen und durchführen konnte. Der Auftrag mußte von Österreich selbst kommen.[23]“
Renner wurde zum Stab der 9. Gardearmee weitergeleitet. Die sowjetischen Truppen nahmen nach Rücksprache mit Moskau sein Angebot zur Mithilfe an und wiesen ihm als Sitz das Schloss Eichbüchl bei Wiener Neustadt zu, wo er gemäß Korpskommissar A. S. Scheltow seine Vorschläge bezüglich einer Regierungsbildung zu Papier bringen sollte.[24] Als er wenig später die Aufforderung der Sowjetunion ablehnte, einen Appell an die Rote Armee zu richten, wuchs seine Befürchtung, dass man ihm den Auftrag für die Regierungsbildung entziehen könnte. Er richtete nun einen Brief an Stalin, der zu Missverständnissen geführt hat. Dieser Brief weist zwar peinlich wirkende Schmeicheleien auf, enthält aber keine von der Sowjetunion erwartete Zusage bezüglich der Bildung einer Volksfront mit der KPÖ. Dieser Brief wurde von sowjetischer Seite zwar mit Skepsis aufgenommen, Stalin nahm ihn aber dennoch zum Anlass, Renner mit einer Regierungsbildung zu beauftragen.[25] Es folgten Verhandlungen mit den Interessenvertretungen bezüglich der Zusammensetzung des provisorischen Gremiums, wobei Renner auf die Akzeptanz im Westen zu achten hatte.
Haltung der Westmächte
Die Vereinigten Staaten und Großbritannien erfuhren vom sowjetischen Projekt, Provisorische Regierung Österreich, erst am 26. April 1945 am Rande der Außenministerkonferenz. Dort teilte der stellvertretende sowjetische Außenminister Wyschinski seinen britischen und amerikanischen Amtskollegen nur beiläufig mit, dass man am Folgetag in Wien das Kabinett Renner angeloben werde. Es war dies der Zeitpunkt, an dem die deutschen Truppen noch am Stadtrand von Wien im Kampf mit der Roten Armee standen. Die Briten legten unverzüglich Protest ein. Die USA schlossen sich diesem Protest nicht an, verweigerten jedoch Renners Ministerriege ebenso die Anerkennung wie die Briten. Am 27. April wurde Renner und sein Team von Marschall Tolbuchin, dem Oberkommandierenden der in Österreich südlich der Donau operierenden 3. Ukrainischen Front, offiziell empfangen. Mit 29 Mann und einer Frau nahm man unverzüglich die Arbeit im Parlament auf. Als wichtigste Aufgabe hatte die Sowjetunion dem provisorischen Kabinett die Vorbereitung bundesweiter Wahlen anbefohlen. Dieses Vorhaben wurde auch von den (provisorischen) Landeshauptleuten der westlichen Bundesländer unterstützt. Dort hatte der provisorische Landeshauptmann von Tirol Karl Gruber eine Initiative für ein ungeteiltes Österreich gestartet und seine Kollegen im Westen Österreichs für eine Zusammenarbeit mit Karl Renner und seiner provisorischen Regierung gewonnen. Nach zähen Verhandlungen erklärten sich am 20. September die Briten bereit, die Blockade der Wahlen aufzugeben und der provisorischen Regierung zumindest bezüglich von Wahlen eine Kompetenz über ganz Österreich zuzubilligen. Sie waren auch mit einer der Wahlvorbereitung dienenden Länderkonferenz einverstanden.
Weiter geht es in Teil 2
1938 war er aktiver Befürworter des von ihm 1918/19 erfolglos betriebenen „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich.[1]
Als Österreich als unabhängiger Staat nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererrichtet wurde, war er als Chef der provisorischen Regierung neuerlich einer der Hauptakteure. Von Dezember 1945 bis zu seinem Tod 1950 amtierte er als erster Bundespräsident der Zweiten Republik.
Renner war Anhänger der parlamentarischen Demokratie im Sinne Lassalles und zählte als solcher in seiner Partei zum rechten (pragmatischen) Flügel. Dabei hat Renner immer darauf beharrt, als Marxist zu gelten, wenn auch als ein Marxist eigener Observanz.[2] Renner gilt als fruchtbarer Publizist, dessen Spezialgebiet die Rechtssoziologie war. Seine Pseudonyme als Schriftsteller waren Synopticus und Rudolf Springer.
1891–1920: Die frühen Jahre
Kindheit und Studium
Karl Renner wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einem fast ausschließlich deutsch besiedelten Dorf in Südmähren, wenige Kilometer nördlich der Nordgrenze Niederösterreichs, auf. Er kam mit seinem Zwillingsbruder Anton als 17. oder 18. Kind seiner Eltern zur Welt, hineingeboren in eine Weinbauernfamilie. (Sein Vorname wurde nach damaliger Rechtschreibung als Carl ins Taufregister eingetragen.) Sein Elternhaus wurde als Folge von Kinderreichtum, Agrarkrise und ländlichem Wucher zwangsversteigert und die Familienangehörigen zerstreuten sich in die Welt, verteilt auf die verschiedensten Berufe und Lebenseinstellungen, was ein typischer Vorgang für die soziale Umschichtung der Zeit um 1900 war. Während seine Eltern ins Armenhaus ziehen mussten, konnte er das Gymnasium besuchen (einer seiner Lehrer war Wilhelm Jerusalem), maturierte in Nikolsburg (Mikulov) mit Auszeichnung und absolvierte von 1891 bis 1896 das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien.[3] Renner war 1895 maßgeblich an der Gründung der internationalen Naturfreundebewegung beteiligt, die heutzutage weltweit über 500.000 Mitgliedern verfügt.[4] Nach dem Abschluss des Studiums gelang es ihm, eine definitive Beamtenstelle in der Bibliothek des Reichsrates, des Parlaments Altösterreichs, zu erhalten.
Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Nebenbei engagierte er sich in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). In seiner ersten großen Arbeit widmete er sich der akuten Nationalitätenfrage.[5] Sein Lösungsansatz: Die Zugehörigkeit zur Nation soll nicht nach territorialen, sondern nach personellen Gesichtspunkten geregelt werden. Die zu bildenden Verbände auf ethnischer Basis sollten ihre Interessen ihrer Stärke gemäß im gemeinsamen Reichsrat vertreten.
Renner war aber nicht nur sozialistischer Theoretiker, sondern auch sozialistischer Funktionär mit hohem Engagement an der Basis. Nach seiner Berufung in den Reichsrat im Jahre 1907 widmete er sich weiterhin dem Genossenschaftswesen, da er dieses als besonders wichtigen Teil der „sozialistischen Dreifaltigkeit“ (Genossenschaften, Gewerkschaften, Bildungsarbeit) betrachtete. 1910 schrieb er eine umfangreiche Abhandlung über „Landwirtschaftliche Genossenschaften“ und „Konsumvereine“.
1911 wurde er zum Verbandsobmann des Zentralverbandes österreichischer Konsumvereine (ZÖK) gewählt. Um die teilweise finanziell angeschlagenen Genossenschaften von der Abhängigkeit bürgerlicher Großbanken zu befreien, gründete er im Jahr 1912 den Kreditverband der österreichischen Arbeitervereinigungen, der 1922 in die Arbeiterbank umgewandelt wurde. An der „Arbeiterbank AG“ besaßen die sozialistischen Gewerkschaften und die Großeinkaufsgesellschaft für österreichische Consumvereine (GÖC) je 40 % Anteile.
Renners Genossenschaftsarbeit trug messbare Früchte. Sie schuf einen Kreis dankbarer Genossenschafter, auf den er sich immer wieder stützen konnte. Diese grundsätzlich antirevolutionäre Tätigkeit sowie sein Landhaus in Gloggnitz machten ihn, dem tatsächlich „jeder Hang zum gewaltsamen Umsturz fremd“ war,[6] zur Zielscheibe des linken Flügels einer Partei, die zumindest theoretisch auf dem Boden des auf Umsturz ausgerichteten Kommunistischen Manifestes stand. So warf ihm Friedrich Adler, der im Jahr 1917 seinen Mordprozess in eine Abrechnung mit der SDAP umfunktionierte, stellvertretend für den rechten Parteiflügel „biedere Verlogenheit“, „Prinzipienlosigkeit“ und „Gaukelei“ vor.[7] Dieser Vorwurf kann nicht achtlos ignoriert werden, da Renner in einer Parlamentssitzung 1917 vor der Errichtung von Republiken in ganz Europa durch die Franzosen als Untergang der Zivilisation warnte, während er 1919 die Monarchie als „Völkerkerker“ bezeichnete.
Politik im Ersten Weltkrieg
Karl Renner war, wie ein großer Teil der deutschösterreichischen Sozialdemokratie, im Krieg Verfechter der Mitteleuropaideen Friedrich Naumanns und wurde von Adler deswegen scharf kritisiert. Renner übersah in seinem Optimismus, dass die Westmächte eine deutsche Hegemonie ablehnten. In einer Sitzung am 13. Juli 1915 sprach sich Renner zwar gegen deutschen Landerwerb im Westen aus, gestand dem Verbündeten aber zu,
„dass das Verhältnis Belgiens so geordnet werde, dass es kein Hindernis künftiger Kriege sei. Im Osten sei nur Annexionsland […]. Man tut dem dauerhaften Frieden keinen Dienst, wenn man nur einen Frieden anstrebt, der nur ein Waffenstillstand ist.“
Einem selbständigen Polen sei Galizien und Preußisch-Polen anzugliedern, was eine Hegemonie der Mittelmächte voraussetzte.[8]
Renners Forderung nach einer umfassenden territorialen Neuregelung, um einen dauerhaften Frieden zu erreichen, rief die offene Kritik Adlers hervor. Aber auch Adler war wegen der Polenfrage gehindert, frühzeitig das populäre Schlagwort vom Frieden ohne Annexionen aufzugreifen. Anfang 1916 hatte Renner bei Verhandlungen mit deutschen Sozialdemokraten einem mitteleuropäischen Wirtschaftsbund, der Freihandel zuließ, zugestimmt, aber eine politische und militärische Union abgelehnt.[9] Mitte Juni 1917 forderte Renner zusammen mit Karl Seitz im Reichsrat schließlich den Frieden ohne Annexionen und Kontributionen.
Staatskanzler, Außenpolitiker und Oppositionsführer
Renner bei den Verhandlungen in Saint-Germain (zweiter von links)
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Renner am 30. Oktober 1918 von der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich zum Staatskanzler gewählt und blieb dies bis 7. Juli 1920. Er hatte wesentlichen Anteil an der formalen Staatswerdung der Republik, am Habsburgergesetz und am Zustandekommen des Bundes-Verfassungsgesetzes. Zuletzt Staatssekretär des Äußeren, schied er wie die anderen Sozialdemokraten am 22. Oktober 1920 aus der Regierung aus (in die er und seine Parteifreunde erst 1945 zurückkehren sollten).
Renner dichtete den Text zur inoffiziellen Hymne „Deutschösterreich, du herrliches Land“ selbst. Er leitete die deutschösterreichische Delegation bei den als Diktat empfundenen Friedensverhandlungen und unterzeichnete am 10. September 1919 den Vertrag von Saint-Germain, der am 21. Oktober von der Konstituierenden Nationalversammlung ratifiziert wurde: Der Staat musste nun Republik Österreich heißen und hatte unabhängig zu bleiben (Anschlussverbot). Die deutsch besiedelten Gebiete in Südtirol, Böhmen, Österreichisch-Schlesien (Sudetenland) und Mähren – die Heimat Renners – waren für den Staat definitiv verloren, Deutsch-Westungarn war für Österreich zu gewinnen.
Siehe:
Staatsregierung Renner I
Staatsregierung Renner II
Staatsregierung Renner III
Das Land besaß seit Sommer 1920 nur mehr eine geschäftsführende Regierung, die Staatsregierung Mayr I, da sich die früheren Koalitionäre nicht mehr auf gemeinsame Regierungspolitik einigen konnten. Allerdings wurde die Arbeit an der Bundesverfassung fertiggestellt und das Bundes-Verfassungsgesetz am 1. Oktober 1920 beschlossen. An diesem Tag hielt die Konstituierende Nationalversammlung ihre letzte Sitzung vor der ersten Nationalratswahl ab.
Renner und die Differenzen mit Otto Bauer (1918–1934)
In den beiden ersten, turbulenten Jahren, während der die SDAP als stimmenstärkste Fraktion die Regierungsverantwortung gemeinsam mit den Christlichsozialen trug, kam es zu keinen wesentlichen Spannungen zwischen ihm und dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Otto Bauer, der als Chefideologe der Partei und Führer des linken (marxistischen) Flügels die Partei prägte, während der Parteivorsitzende Seitz sich vorwiegend seiner Aufgabe als Wiener Bürgermeister widmete. Als Bauer gegen den Willen Renners und zahlreicher anderer Funktionäre nach der Wahlniederlage am 17. Oktober 1920 die Partei aber in die Opposition brachte und damit die Verfügung über das Bundesheer abgab, wuchsen die Spannungen. Sie wurden im Rahmen der Parteidisziplin niemals offen ausgetragen; in Publikationen der Kontrahenten klangen sie 'zwischen den Zeilen' an.
1931 hielt Renner in der Annahme, dass die Wahl des Bundespräsidenten zum ersten Mal in Volkswahl vorgenommen werden würde, eine Rede.[10] Zu einer Volkswahl kam es aber nicht: Wilhelm Miklas wurde vielmehr von der Nationalversammlung am 9. Oktober 1931 zum Bundespräsidenten (wieder)gewählt.
Renner und Bauer – unterschiedliches Demokratieverständnis
Unterschiedlich war zunächst die Einstellung zum Staat. Für Marx wie für Otto Bauer galt auch der demokratische Staat lediglich als Repressionsinstrument der herrschenden Klasse. Als solches habe er, so Bauer, zwar auch noch in der Phase der Diktatur des Proletariats eine gewisse Berechtigung; in der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft würde diese Krücke aber nicht mehr benötigt, der Staat würde sich auflösen:
„Das [wahre] sozialistische Gemeinwesen setzt sich nicht nur zum modernen Staat, sondern zu allen historischen Staatsformen in Gegensatz.[11]“
Renner wie der Mitgestalter der österreichischen Bundesverfassung, Hans Kelsen, sahen hingegen den Staat als ein zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformen unverzichtbares Gerüst aus Führungs-, Legislativ-, Exekutiv- und Verwaltungsorganen, das ein Zusammenleben von Menschen in einer größeren Gemeinschaft überhaupt erst möglich mache. Die permanente Adaptierung dieses Gerüstes an die sich wandelnde Gesellschaft sei eine der wichtigsten Aufgaben der Volksvertreter. Verschiedene Ansichten herrschten auch über den Umgang mit dem Begriff Demokratie. Bauer weigerte sich, die „bürgerliche Demokratie“ mit ihrem Mehrheitsprinzip in „Gegensatz zum Sozialismus und über den Sozialismus zu setzen“. Er plädierte für eine „sozialistische Demokratie“, bei welcher der Wille der Mehrheit nicht grundsätzlich essentiell sei. Der Priorität des Sozialismus setzte Renner, der sich in diesem Punkt neben Hilferding auch auf Kelsen berief, ein uneingeschränktes Bekenntnis zur (bürgerlichen) Demokratie entgegen:
„Unterbinden wir die freie gesellschaftliche Demokratie, so zerstören wir den fruchtbaren Boden, aus dem alles Neue hervorwächst, das soziale Experimentierfeld, von dem aus alle materielle und geistige Verjüngung der Gesellschaft hervorsprießt! Diktatur heißt in allen Formen und unter allen Umständen Verselbständigung des Mittels der Gesellschaft, um es zu deren Herren zu machen. Herrschaft um der Herrschaft willen.[12]“
Auch in der Einstellung zur Partei gab es gravierende Unterschiede. Während Bauer für unbedingten Parteipatriotismus eintrat, meinte Renner:
„Nie ist die Partei das Ganze, nie kann sie das Ganze darstellen oder ersetzen. Das Ganze lebt in der Wechselbeziehung der Parteien zueinander und in dem Widerstreit ihrer Programme, in demselben Für und Wider, das ja den Prozess widerstreitender Erwägungen vor dem Entschluss des Individuums auszeichnet.[13]“
Renner und Bauer – unterschiedliche Zukunftsvisionen
Unterschiedlich war auch die Einstellung zur Zukunft. Während Bauer sich mit den real existierenden Objektiven Verhältnissen als Voraussetzung für die unausweichliche Revolution abfand, war Renner, ebenso wie Victor Adler, überzeugt, dass man nicht in einer „politischen Warteschleife“ oder „revolutionären Pause“ verharren dürfe, sondern mit welchen Partnern auch immer daran arbeiten müsse, die Voraussetzungen für das Endziel, die sozialistische Gesellschaft, selbst zu schaffen. Renners Kritik am marxistischen Parteiflügel beruhte auch auf der Überzeugung, dass die Arbeitswelt an der Wende zum 20. Jahrhundert nicht mehr jener Arbeitswelt entsprach, die Marx als Basis für sein Manifest genommen hatte. Er vertrat die Meinung, dass der auf den Industriearbeiter fixierte Proletarierbegriff – im Sinne von Lassalles Perzeption von Werktätigkeit – nun unbedingt auf andere Arbeitsbereiche, vor allem auf die geistige Arbeit ausgedehnt werden müsse. Dies würde den ökonomischen und gesellschaftlichen Realitäten des modernen Industriestaates mit seiner Verwischung der Klassengrenzen und der sich abzeichnenden eher friedlichen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft mehr Rechnung tragen. Renner plädierte daher ebenfalls im Sinne Lassalles, die Gewichte von Revolution in Richtung Evolution und von Konfrontation in Richtung Kooperation zu verschieben und sich auch unter bürgerlichen Mehrheiten konstruktiv ins Politgeschehen einzubringen:
„Die Theorie des Sozialismus hat lange Zeit wie geblendet ausschließlich auf die Entwicklung des Kapitals… gestarrt und erwartet, dass der Sozialismus auf einem bestimmten Punkt dieses Prozesses durch dessen jähen Umschlag in die Welt treten werde… In zweifacher Richtung ist die Einseitigkeit wahrzunehmen: Sowohl rein ökonomisch, indem sie auf den Entwicklungsprozess des Kapitals starrt und von dessen Umschlag die sozialistische Gesellschaft erwartet, als auch rein politisch, indem sie der politischen Revolution des Proletariats die Aufgabe zuschreibt, den Umschlag aus dem Kapitalismus in den Sozialismus künstlich zu beschleunigen und mit einem Schlag zu vollenden. Die eine Richtung fällt leicht in einen politischen Quietismus, die andere in einen politischen Hyperaktivismus. Die letztere hat sich insbesondere ausgewirkt in dem russischen Bolschewismus.[14]“
Dabei ließ Renner offen, wer dem politischen Quietismus verfallen sei; damit war nach herrschender Ansicht Otto Bauer gemeint.
Renner und die parlamentarische Geschäftsordnungskrise 1933
Renner trat in diesen Jahren immer wieder für eine Zusammenarbeit mit der Christlichsozialen Partei ein. Lediglich im Jahr 1931 sprach er sich im Parteivorstand gegen die von Bundeskanzler Ignaz Seipel angebotenen Koalition mit den Christlichsozialen aus.
Im Zusammenhang mit der Geschäftsordnungskrise im März 1933, die von den Christlichsozialen unter Dollfuß zu einem Staatsstreich genutzt wurde (und propagandistisch als „Selbstausschaltung des Parlaments“ bezeichnet wurde), spielte er als erster Präsident des Nationalrates eine umstrittene Rolle. Er ließ sich von Bauer und Seitz überreden, aus abstimmungstechnischen Gründen sein Amt niederzulegen.[15] Nach dem Rücktritt der beiden anderen Präsidenten führt dies zu einer Situation, für die in der Geschäftsordnung nicht vorgesorgt worden war. Eine Beilegung dieser Geschäftsordnungskrise wurde jedoch am 15. März 1933 von Dollfuß unter Einsatz der Exekutive unterbunden, die Abgeordneten konnten nicht zusammentreten.
Renner blieb nach seinem Rücktritt untätig und nutzte seine Position als ehemaliger erster Nationalratspräsident nicht. Der ehemalige dritte Nationalratspräsident, der Deutschnationale Sepp Straffner, berief am 9. März für den 15. März den Nationalrat ein. Die Bundesregierung unter Dollfuß qualifizierte diese Einberufung als der Verfassung widersprechend und kündigte an, „einer drohenden Verfassungsbeugung entgegenzuwirken.“[16] 200 Kriminalbeamte, die von der Regierung geschickt wurden, hinderten daraufhin die sozialdemokratischen und großdeutschen Abgeordneten, die sich am 15. März zur Sitzung versammeln wollten, am Betreten des Sitzungssaales.
Renner und der „Anschluss“ an Deutschland
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 gab Renner dem Neuen Wiener Tagblatt ein vom NS-Staat autorisiertes Interview, das am 3. April 1938 erschien.[17]. In dem Beitrag mit dem Titel „Ich stimme mit Ja“[18] distanzierte er sich zwar von den Methoden, mit denen der Anschluss erfolgte, erklärte jedoch:
„Trotzdem habe ich seit 1919 in zahllosen Schriften und ungezählten Versammlungen im Lande und im Reiche den Kampf um den Anschluß weitergeführt. Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St-Germain und Versailles. Ich müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte. […] Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St-Germain werde ich mit Ja stimmen.“
Renners Angebot an die neuen Machthaber war weiter gegangen; er hatte eine aktive Ja-Kampagne angeboten. Das NS-Regime begnügte sich aber mit dem einen Zeitungsbericht. Renners Verhalten wurde später oft auch damit zu erklären versucht, dass er mit dieser Erklärung den damaligen Zentralsekretär der Sozialdemokratischen Partei, Robert Danneberg, der mit anderen prominenten Österreichern am 1. April 1938 in das KZ Dachau gebracht worden war, schützen wollte. Renners Tochter Leopoldine Deutsch-Renner (1891–1977) emigrierte 1938 mit ihrem jüdischen Mann Hans Deutsch-Renner (1879–1953) und ihren drei Kindern nach London, kehrte aber schon 1939 zu ihrem Vater nach Gloggnitz zurück.[19]
1938/39 verfasste Renner das Manuskript Die Gründung der Republik Deutschösterreich, der Anschluß und die sudetendeutsche Frage, in dem er den „Anschluss“ Österreichs und der sudetendeutschen Gebiete – und auch die Handlungsweise Hitlers und seiner Regierung in diesem Zusammenhang – sehr ausführlich positiv darstellte. Das Manuskript blieb damals unveröffentlicht; es wurde erst 1990 von Eduard Rabofsky ediert und kommentiert. Anton Pelinka merkte dazu 2009 an, dieser zweite Anpassungsschritt Renners sei von der Sozialdemokratie nach 1945 de facto unterschlagen worden, er sei in keiner der sozialdemokratischen Renner-Hagiographien aufgetaucht.[20] 2012 äußerte der Historiker Oliver Rathkolb, Renner hätte 1945 nicht Staatschef werden können, wäre dieser Text damals bekannt gewesen (siehe Abschnitt Nachwirken). Zur Erklärung von Renners damaliger Haltung muss berücksichtigt werden, dass seine unmittelbare Heimat, das deutsch besiedelte Südmähren, 1918/19 gegen den Willen der Bevölkerung nicht zu Deutschösterreich gelangen konnte, sondern von tschechischem Militär besetzt und der Tschechoslowakischen Republik einverleibt wurde.
Karl-Renner-Denkmal in Siegendorf/Burgenland
Renner verbrachte die Zeit der NS-Herrschaft unter Hausarrest in Gloggnitz, wo er ein Haus besaß. Dieser Hausarrest war von den Nationalsozialisten sehr großzügig bemessen worden. Auch war ihm das Schreiben weiterhin erlaubt, und er verfasste (ohne Publikationsmöglichkeit) Das Weltbild der Moderne, ein umfangreiches Versepos in Anlehnung an Lukrez.
Renner und die Gründung der Zweiten Republik (1945–50)
Stalin und Renner
Die Weigerung der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES), mit anderen österreichischen Exilgruppierungen zusammenzuarbeiten, hatte zur Folge, dass es während des Krieges zu keiner Konstituierung einer österreichischen Auslandsvertretung oder Exilregierung kam und mit Kriegsende ein politischer Freiraum in Österreich existierte. Diesen Freiraum wollte die sowjetische Regierung so bald wie möglich zur Bildung einer ihr genehmen Regierung nutzen. Mit dem Auftrag zur Suche nach Karl Renner unmittelbar nach dem Einmarsch der ersten Rotarmisten in Österreich setzte Stalin erste Schritte in diese Richtung.[21] Den Westalliierten wurden diese Intentionen verschwiegen, da der Sowjetunion bekannt war, dass sie den Österreichern erst nach Kriegsende und auch dann nur in kleinen Schritten politische Verantwortung übertragen wollten. Stalin fasste diesen Entschluss auch gegen den Willen der KPÖ. Diese hatte um Zeit für den Aufbau einer neuen Parteiorganisation vor Ort gebeten, da die alte, von Gestapo-Spitzeln unterwanderte Parteiorganisation während des Krieges so gut wie restlos zerschlagen worden war. Dazu meinte der österreichische Marxist Erwin Scharf:
„Dass ausgerechnet Renner, der sich von den Nazis agitatorisch für die Sanktionierung der Okkupation Österreichs hatte missbrauchen lassen, mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, blieb unbegreiflich… erst als in späteren Jahren im Politischen Büro der KPÖ das Thema angeschnitten wurde, erhielt ich einige aufklärende Informationen: Tatsächlich waren Franz Honner und andere führenden Funktionäre der KPÖ nicht der Ansicht, dass man nach der militärischen Befreiung sofort eine provisorische Regierung bilden sollte. Denn vorher musste man die demokratischen Organisationen aufbauen, eine feste Einheit aller Demokraten und Patrioten schaffen, den opportunistischen Spreu vom antifaschistischen Weizen scheiden, und dann erst könnte man, gestützt auf die neuen politischen Gruppierungen, eine Regierung bilden. Aber dieser Plan konnte nicht verwirklicht werden. Das Oberkommando der Roten Armee hatte … Dr. Karl Renner eingeladen, eine provisorische Regierung zu bilden.[22]“
Am 4. April meldete das Kommando der 103. Gardeschützendivision, dass sich der gesuchte Karl Renner im Raum Gloggnitz aus eigenem Antrieb gemeldet und sich bezüglich einer Regierungsbildung zur Verfügung gestellt hatte. Dazu Renner:
„Ließ ich mich in Verhandlungen ein, so konnte das mit der Einbuße meines guten Namens und mit meiner politischen Ehre endigen und überdies der Sozialdemokratischen Partei… zum Nachteil ausschlagen… nach längerem Ringen entschloss ich mich, alle Risiken auf mich zu nehmen, um möglicherweise doch Österreich die Chance zu geben, die verhängnisvolle Bindung an Hitler-Deutschland selbst zu zerreißen […]. Anderseits war mir klar bewußt, dass ich niemals als Beauftragter Russlands die Mission übernehmen und durchführen konnte. Der Auftrag mußte von Österreich selbst kommen.[23]“
Renner wurde zum Stab der 9. Gardearmee weitergeleitet. Die sowjetischen Truppen nahmen nach Rücksprache mit Moskau sein Angebot zur Mithilfe an und wiesen ihm als Sitz das Schloss Eichbüchl bei Wiener Neustadt zu, wo er gemäß Korpskommissar A. S. Scheltow seine Vorschläge bezüglich einer Regierungsbildung zu Papier bringen sollte.[24] Als er wenig später die Aufforderung der Sowjetunion ablehnte, einen Appell an die Rote Armee zu richten, wuchs seine Befürchtung, dass man ihm den Auftrag für die Regierungsbildung entziehen könnte. Er richtete nun einen Brief an Stalin, der zu Missverständnissen geführt hat. Dieser Brief weist zwar peinlich wirkende Schmeicheleien auf, enthält aber keine von der Sowjetunion erwartete Zusage bezüglich der Bildung einer Volksfront mit der KPÖ. Dieser Brief wurde von sowjetischer Seite zwar mit Skepsis aufgenommen, Stalin nahm ihn aber dennoch zum Anlass, Renner mit einer Regierungsbildung zu beauftragen.[25] Es folgten Verhandlungen mit den Interessenvertretungen bezüglich der Zusammensetzung des provisorischen Gremiums, wobei Renner auf die Akzeptanz im Westen zu achten hatte.
Haltung der Westmächte
Die Vereinigten Staaten und Großbritannien erfuhren vom sowjetischen Projekt, Provisorische Regierung Österreich, erst am 26. April 1945 am Rande der Außenministerkonferenz. Dort teilte der stellvertretende sowjetische Außenminister Wyschinski seinen britischen und amerikanischen Amtskollegen nur beiläufig mit, dass man am Folgetag in Wien das Kabinett Renner angeloben werde. Es war dies der Zeitpunkt, an dem die deutschen Truppen noch am Stadtrand von Wien im Kampf mit der Roten Armee standen. Die Briten legten unverzüglich Protest ein. Die USA schlossen sich diesem Protest nicht an, verweigerten jedoch Renners Ministerriege ebenso die Anerkennung wie die Briten. Am 27. April wurde Renner und sein Team von Marschall Tolbuchin, dem Oberkommandierenden der in Österreich südlich der Donau operierenden 3. Ukrainischen Front, offiziell empfangen. Mit 29 Mann und einer Frau nahm man unverzüglich die Arbeit im Parlament auf. Als wichtigste Aufgabe hatte die Sowjetunion dem provisorischen Kabinett die Vorbereitung bundesweiter Wahlen anbefohlen. Dieses Vorhaben wurde auch von den (provisorischen) Landeshauptleuten der westlichen Bundesländer unterstützt. Dort hatte der provisorische Landeshauptmann von Tirol Karl Gruber eine Initiative für ein ungeteiltes Österreich gestartet und seine Kollegen im Westen Österreichs für eine Zusammenarbeit mit Karl Renner und seiner provisorischen Regierung gewonnen. Nach zähen Verhandlungen erklärten sich am 20. September die Briten bereit, die Blockade der Wahlen aufzugeben und der provisorischen Regierung zumindest bezüglich von Wahlen eine Kompetenz über ganz Österreich zuzubilligen. Sie waren auch mit einer der Wahlvorbereitung dienenden Länderkonferenz einverstanden.
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Teil 2
Entscheidung der Länderkonferenz
Am 26. September 1945 stand auf dieser Länderkonferenz noch einmal alles auf des Messers Schneide. Die kommunistischen Mitglieder der provisorischen Regierung weigerten sich, den Vertretern der westlichen Bundesländer Kabinettsposten einzuräumen, die Konferenz stand knapp vor dem Abbruch. Es war dann der sozialdemokratische Bürgermeister von Linz, Koref, der jenen Kompromissvorschlag einbrachte, der schließlich auch von der KPÖ angenommen wurde. Der Weg für bundesweite, freie Wahlen war nun geebnet. Sie brachten am 25. November 1945 aber nicht wie von der Sowjetunion erwartet die absolute Mehrheit für SPÖ (42 %) und KPÖ (5 %) und die Chancen auf eine österreichweite Volksfront, sondern die absolute Mandatsmehrheit für die ÖVP (48 % der Stimmen, absolute Mehrheit bei den Mandaten).
Die USA und Großbritannien zeigten sich bezüglich des Wahlergebnisses erfreut und zögerten auch nicht mit der Anerkennung des Konzentrationskabinetts Figl. Die enttäuschte Sowjetunion hingegen gab der neuen Bundesregierung erst nach dem Austausch dreier ÖVP-Bundesminister ihren Segen. Auf die Spitzengliederung der KPÖ hatte der Wahlausgang vom 25. November 1945 keinen Einfluss. Die Sowjetunion berücksichtigte, dass Koplenig und Genossen eindringlich genug vor Renner und frühen Wahlen gewarnt hatten. Mit dieser Wahl wurde der Grundstein für den „Sonderfall“ Österreich gelegt, ein Status, der dem Land bereits 1955 die volle Souveränität brachte.
Karl Renner wurde am 20. Dezember 1945 durch die Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt und blieb dies bis zu seinem Tod am 31. Dezember 1950.
Antisemitismus
Im Jahr 2012 machte der Historiker und ÖVP-Politiker Franz Schausberger auf antisemitische Äußerungen Karl Renners aufmerksam[26] und forderte nach der Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in „Universitätsring“ auch die Umbenennung des Dr.-Karl-Renner-Rings in „Parlamentsring“, wie dieser Abschnitt des Rings bis 1956 hieß.[26]
Schausberger wies darauf hin, dass Renner in seinen Parlamentsreden „den Begriffen „jüdisch“ oder „Juden“ einen negativen Drall“ gegeben habe. Renner ging es, laut Schausberger, nicht darum „das Großkapital, den Manchesterliberalismus generell und die Banken zu kritisieren, es ging ihm immer um das „jüdische Großkapital“ um die „jüdischen Banken“ und den „jüdischen Manchesterliberalismus“.“[26] Auch sei es Renner 1920 nicht um Schleichhändler in Wien generell gegangen, „es waren immer die „jüdischen Schleichhändler“, die er anklagte, obwohl eine große Zahl nichtjüdisch war.“[26] Renner nannte Ignaz Seipel einen „Judenliberalen in der Soutane“ und warf ihm unter anderem vor „die Unterordnung des ganzen Kleinbürgertums unter die Führung des jüdischen Großkapitals, zur Tatsache zu machen, ...indem Sie endlich auf den Thron unserer Finanzen das edle Paar gesetzt haben: Christ und Jud, Doktor Gürtler und Dr. Rosenberg.“[26]
Ludwig Dvorak, Chefredakteur des sozialdemokratischen Monatsmagazins „Zukunft“, bezeichnete Schausbergers Aussagen als „Erwiderung auf den Beitrag von Kurt Bauer über Leopold Kunschaks Antisemitismus“ und als „Entlastungsangriff gegen Karl Renner“ und meinte, dass „Zitate durch Auslassungen verfremdet oder aus dem Kontext gerissen“ seien. Schausberger habe sarkastische Kritik Renners an der Judenfeindlichkeit, der Christlichsozialen Partei, als dessen eigene antisemitische Aussagen umgedeutet.[27]
Der Journalist und Politikwissenschaftler Herbert Lackner meinte: „Was der 1870 in Mähren geborene Jurist in den 1920er-Jahren im Nationalrat von sich gab, steht den antisemitischen Sagern des notorischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger nicht nach. ... Renners Antisemitismus hatte wieder andere Wurzeln: Er verschmolz mit jenem verschwörungstheoretisch aufgeladenen Antikapitalismus, den sowohl die Linke wie auch die extreme Rechte pflegten, zu einem bösen Konglomerat“.[28]
Der Historiker Oliver Rathkolb meinte: „Es gibt einen Unterschied zwischen antisemitischen Zurufen in einer Debatte durch Renner, die teilweise, aber nicht immer, provozierend gegen Leopold Kunschak gemeint waren, und Luegers Strategie. Das Gesamtprofil des Antisemitismus eines Luegers mit Renner gleichzusetzen ist schlicht und einfach falsch.“[29]
Rathkolb führte bereits 2005 zum Thema SDAP und Antisemitismus bzw. zu Renners Abneigung gegen die Rückkehr jüdischer Exilanten 1945 allgemein an, in der latent antisemitischen Stimmung der Ersten Republik sei die Sozialdemokratie „in der Propaganda der Christlichsozialen und Deutschnationalen zur Judenpartei stigmatisiert“ worden, „während die Arbeiterpartei ihrerseits in der antikapitalistischen Argumentation nicht vor antisemitischen Übergriffen zurückschreckte“.[30]
Der Sozialphilosoph Norbert Leser, der mit der Familie Renner eng verbunden war, verteidigte Renner und meinte: „Wenn Renner im Zusammenhang mit der Genfer Sanierung 1922 und dem damit verbundenen Völkerbunddiktat von einer jüdischen Finanzmacht sprach, so bediente er damit keine antisemitischen Klischees, sondern stellte nur eine Tatsache fest.“[31]
Die von Renner mitentworfene und als Erstunterzeichner unterschriebene Österreichische Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 erwähnte das Schicksal der jüdischen Österreicher in der NS-Diktatur nicht. Vertriebene bzw. geflüchtete jüdische Österreicher wurden nur in Ausnahmefällen zur Rückkehr eingeladen.
Als Staatskanzler der Provisorischen Staatsregierung ging Renner bei der 28. Kabinettsratssitzung vom 29. August 1945 in einem langen Debattenbeitrag über Probleme mit den „kleinen“ Nationalsozialisten auch kurz auf die Juden ein, ohne dies weiter zu vertiefen:
„Ich finde, dass wir in Bezug auf die Behandlung des Naziproblems in eine kritische Situation kommen. Ich will nicht behaupten, dass ich damit Recht habe, aber die Sache ist nach meinem Gefühl doch so, dass alle diese kleinen Beamten, diese kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluss an die Nazis gar nicht weit tragende Absichten gehabt haben – höchstens, dass man den Juden etwas tut –, vor allem aber nicht daran gedacht haben, einen Weltkrieg zu provozieren.“[32]
Im Februar 1946 nahm Bundespräsident Renner in einer Ansprache vor dem Palästina-Komitee zur Zukunft von Österreichs Juden unter anderem so Stellung:
„… die jüdische Gemeinde kann sich nie erholen. (…) glaube ich nicht, dass Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole aufzubauen. Sicherlich würden wir nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierher käme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen.“[33]
Maximilian Gottschlich hielt daher 2012 unmissverständlich fest: „Das antisemitische Übel saß aber nicht nur in den nachgeordneten Ämtern, sondern auch ganz oben in der Staatskanzlei. Die Österreicher würden Juden nicht noch einmal erlauben, sich in Österreich zu etablieren – das konnte damals der höchste Repräsentant des neu gegründeten Staates sagen und sich zugleich der mehrheitlichen Zustimmung der Bevölkerung und der politischen Klasse sicher sein.“ Von den rassisch Verfolgten war sonst nicht die Rede. Gottschlich: „Um sich selbst als Opfer definieren zu können, musste man die Holocaust-Opfer aus der öffentlichen Wahrnehmung ausblenden.“[34]
Renners Antisemitismus wurde von der Renner-Forschung ansonsten kaum speziell thematisiert, befand er sich damit doch damals im Mainstream der öffentlichen Meinung. Andreas Mailath-Pokorny bedauerte 2014, dass es zu Renner wenige historische Arbeiten gebe, und forderte eine Intensivierung der historischen Forschung.[35]
Eine sehr persönliche Stellungnahme zu Renner gab Marko Feingold, KZ-Überlebender, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, 2013 in einem Interview anlässlich seines 100. Geburtstags ab:
Ich habe einen Zorn auf Renner, er musste als Politiker genau gewusst haben, was in Deutschland passiert ist. Renner war aber begeisterter Befürworter des „Anschlusses“ an Hitler-Deutschland.[36]
Nachwirken
Renner-Büste von Alfred Hrdlicka neben dem Parlamentsgebäude in Wien, Rathauspark, Ecke Universitätsring (ehemals Dr.-Karl-Lueger-Ring)
50-Schilling-Silbermünze zum 100. Geburtstag Renner (1970)
Im Jahr 1956 wurde in Wien Innere Stadt (1. Bezirk) der Dr.-Karl-Renner-Ring nach dem Politiker benannt.
Renner ist im Ausland vor allem als einer der Gründungsväter der Rechtssoziologie bekannt. Eine Plakette mit seinem Namen findet sich unter jenen der 15 bedeutendsten Rechtssoziologen, welche die Wände des International Institute for the Sociology of Law in Onati (Gipuzkoa, Spanien) schmücken. Diese Stellung beruht einerseits auf seiner frühen Schrift über die soziale Funktion der Rechtsinstitute des Privatrechts (1904), anderseits auf den Bemühungen (gemeinsam mit Otto Bauer), die Rechte ethnischer Minderheiten zu sichern.
Renner verkörperte in der Sozialdemokratie am ehesten den charismatischen Politiker, mit populistischen Apellen an die „Volksseele“, eine Strategie, die Victor Adler ablehnte. Friedrich Adler bezeichnete ihn schon 1917 als „Lueger der Sozialdemokratie.[37]
Im Zusammenhang mit der 2012 vorgesehenen Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings thematisierte Oliver Rathkolb, Vorsitzender der im Auftrag des Kulturstadtrates tätigen Historikerkommission zu strittigen Straßennamen, die allfällige Umbenennung des an den Luegerring südlich anschließenden Dr.-Karl-Renner-Rings. Renner trat, wie seit langem bekannt, nach dem „Anschluss“ 1938 in einer Medienerklärung für ein Ja bei der inszenierten „Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich“ ein. Nach Rathkolb habe er allerdings außerdem zur Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938 pronazistische Polemik verfasst (die, siehe Abschnitt Renner und der „Anschluss“ an Deutschland, damals unveröffentlicht blieb); wäre sie 1945 schon bekannt gewesen, hätte er nicht Staatschef werden können. Der Historiker kann sich daher mit der Idee anfreunden, den Renner-Ring beispielsweise in Parlamentsring umzutaufen.[38]
Renner-Institut
→ Hauptartikel: Dr.-Karl-Renner-Institut
Die SPÖ gab ihrer politischen Akademie den Namen Renner-Institut.
Renner-Preise
Karl-Renner-Preis
Seit dem 80. Geburtstag Renners verleiht die Stadt Wien diesen Preis jährlich.
Karl-Renner-Publizistikpreis
Der Österreichische Journalisten Club (ÖJC) verleiht seit 1984 alle zwei Jahre zu Ehren Renners diesen Preis, der als höchste Auszeichnung im österreichischen Journalismus gilt.
Fußach-Affäre
1964 kam es in Vorarlberg zu einem Skandal (der sogenannten Fußachaffäre), als im Verantwortungsbereich von SPÖ-Verkehrsminister Otto Probst ein Bodenseeschiff (die spätere MS Vorarlberg) auf den Namen Karl Renner getauft werden sollte. Von den Vorarlbergern wurde nicht primär die Wahl des Namens an sich bekämpft, sondern das Ignorieren der diesbezüglichen Wünsche und Bedenken der Vorarlberger durch die „Wiener Zentralisten“.
Schriften
Staat und Nation, Wien 1899 (als Synopticus)
Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts. (als Josef Karner)
Österreichs Erneuerung, Wien 1916
Wege der Verwirklichung, Berlin 1929
Mensch und Gesellschaft, Wien 1952
Wandlungen der modernen Gesellschaft, Wien 1953
Das Weltbild der Moderne, Wien 1954
Schriften, Salzburg 1994
An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen von Karl Renner, Wien 1946
Die Gründung der Republik Deutsch-Österreich, der Anschluß und die Sudetendeutsche Frage, geschrieben 1938/39, ediert und kommentiert von Eduard Rabofsky, Wien 1990 (bis 1990 unveröffentlicht)
Quelle - Literatur & Einzelnachweise
Am 26. September 1945 stand auf dieser Länderkonferenz noch einmal alles auf des Messers Schneide. Die kommunistischen Mitglieder der provisorischen Regierung weigerten sich, den Vertretern der westlichen Bundesländer Kabinettsposten einzuräumen, die Konferenz stand knapp vor dem Abbruch. Es war dann der sozialdemokratische Bürgermeister von Linz, Koref, der jenen Kompromissvorschlag einbrachte, der schließlich auch von der KPÖ angenommen wurde. Der Weg für bundesweite, freie Wahlen war nun geebnet. Sie brachten am 25. November 1945 aber nicht wie von der Sowjetunion erwartet die absolute Mehrheit für SPÖ (42 %) und KPÖ (5 %) und die Chancen auf eine österreichweite Volksfront, sondern die absolute Mandatsmehrheit für die ÖVP (48 % der Stimmen, absolute Mehrheit bei den Mandaten).
Die USA und Großbritannien zeigten sich bezüglich des Wahlergebnisses erfreut und zögerten auch nicht mit der Anerkennung des Konzentrationskabinetts Figl. Die enttäuschte Sowjetunion hingegen gab der neuen Bundesregierung erst nach dem Austausch dreier ÖVP-Bundesminister ihren Segen. Auf die Spitzengliederung der KPÖ hatte der Wahlausgang vom 25. November 1945 keinen Einfluss. Die Sowjetunion berücksichtigte, dass Koplenig und Genossen eindringlich genug vor Renner und frühen Wahlen gewarnt hatten. Mit dieser Wahl wurde der Grundstein für den „Sonderfall“ Österreich gelegt, ein Status, der dem Land bereits 1955 die volle Souveränität brachte.
Karl Renner wurde am 20. Dezember 1945 durch die Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt und blieb dies bis zu seinem Tod am 31. Dezember 1950.
Antisemitismus
Im Jahr 2012 machte der Historiker und ÖVP-Politiker Franz Schausberger auf antisemitische Äußerungen Karl Renners aufmerksam[26] und forderte nach der Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in „Universitätsring“ auch die Umbenennung des Dr.-Karl-Renner-Rings in „Parlamentsring“, wie dieser Abschnitt des Rings bis 1956 hieß.[26]
Schausberger wies darauf hin, dass Renner in seinen Parlamentsreden „den Begriffen „jüdisch“ oder „Juden“ einen negativen Drall“ gegeben habe. Renner ging es, laut Schausberger, nicht darum „das Großkapital, den Manchesterliberalismus generell und die Banken zu kritisieren, es ging ihm immer um das „jüdische Großkapital“ um die „jüdischen Banken“ und den „jüdischen Manchesterliberalismus“.“[26] Auch sei es Renner 1920 nicht um Schleichhändler in Wien generell gegangen, „es waren immer die „jüdischen Schleichhändler“, die er anklagte, obwohl eine große Zahl nichtjüdisch war.“[26] Renner nannte Ignaz Seipel einen „Judenliberalen in der Soutane“ und warf ihm unter anderem vor „die Unterordnung des ganzen Kleinbürgertums unter die Führung des jüdischen Großkapitals, zur Tatsache zu machen, ...indem Sie endlich auf den Thron unserer Finanzen das edle Paar gesetzt haben: Christ und Jud, Doktor Gürtler und Dr. Rosenberg.“[26]
Ludwig Dvorak, Chefredakteur des sozialdemokratischen Monatsmagazins „Zukunft“, bezeichnete Schausbergers Aussagen als „Erwiderung auf den Beitrag von Kurt Bauer über Leopold Kunschaks Antisemitismus“ und als „Entlastungsangriff gegen Karl Renner“ und meinte, dass „Zitate durch Auslassungen verfremdet oder aus dem Kontext gerissen“ seien. Schausberger habe sarkastische Kritik Renners an der Judenfeindlichkeit, der Christlichsozialen Partei, als dessen eigene antisemitische Aussagen umgedeutet.[27]
Der Journalist und Politikwissenschaftler Herbert Lackner meinte: „Was der 1870 in Mähren geborene Jurist in den 1920er-Jahren im Nationalrat von sich gab, steht den antisemitischen Sagern des notorischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger nicht nach. ... Renners Antisemitismus hatte wieder andere Wurzeln: Er verschmolz mit jenem verschwörungstheoretisch aufgeladenen Antikapitalismus, den sowohl die Linke wie auch die extreme Rechte pflegten, zu einem bösen Konglomerat“.[28]
Der Historiker Oliver Rathkolb meinte: „Es gibt einen Unterschied zwischen antisemitischen Zurufen in einer Debatte durch Renner, die teilweise, aber nicht immer, provozierend gegen Leopold Kunschak gemeint waren, und Luegers Strategie. Das Gesamtprofil des Antisemitismus eines Luegers mit Renner gleichzusetzen ist schlicht und einfach falsch.“[29]
Rathkolb führte bereits 2005 zum Thema SDAP und Antisemitismus bzw. zu Renners Abneigung gegen die Rückkehr jüdischer Exilanten 1945 allgemein an, in der latent antisemitischen Stimmung der Ersten Republik sei die Sozialdemokratie „in der Propaganda der Christlichsozialen und Deutschnationalen zur Judenpartei stigmatisiert“ worden, „während die Arbeiterpartei ihrerseits in der antikapitalistischen Argumentation nicht vor antisemitischen Übergriffen zurückschreckte“.[30]
Der Sozialphilosoph Norbert Leser, der mit der Familie Renner eng verbunden war, verteidigte Renner und meinte: „Wenn Renner im Zusammenhang mit der Genfer Sanierung 1922 und dem damit verbundenen Völkerbunddiktat von einer jüdischen Finanzmacht sprach, so bediente er damit keine antisemitischen Klischees, sondern stellte nur eine Tatsache fest.“[31]
Die von Renner mitentworfene und als Erstunterzeichner unterschriebene Österreichische Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 erwähnte das Schicksal der jüdischen Österreicher in der NS-Diktatur nicht. Vertriebene bzw. geflüchtete jüdische Österreicher wurden nur in Ausnahmefällen zur Rückkehr eingeladen.
Als Staatskanzler der Provisorischen Staatsregierung ging Renner bei der 28. Kabinettsratssitzung vom 29. August 1945 in einem langen Debattenbeitrag über Probleme mit den „kleinen“ Nationalsozialisten auch kurz auf die Juden ein, ohne dies weiter zu vertiefen:
„Ich finde, dass wir in Bezug auf die Behandlung des Naziproblems in eine kritische Situation kommen. Ich will nicht behaupten, dass ich damit Recht habe, aber die Sache ist nach meinem Gefühl doch so, dass alle diese kleinen Beamten, diese kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluss an die Nazis gar nicht weit tragende Absichten gehabt haben – höchstens, dass man den Juden etwas tut –, vor allem aber nicht daran gedacht haben, einen Weltkrieg zu provozieren.“[32]
Im Februar 1946 nahm Bundespräsident Renner in einer Ansprache vor dem Palästina-Komitee zur Zukunft von Österreichs Juden unter anderem so Stellung:
„… die jüdische Gemeinde kann sich nie erholen. (…) glaube ich nicht, dass Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole aufzubauen. Sicherlich würden wir nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierher käme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen.“[33]
Maximilian Gottschlich hielt daher 2012 unmissverständlich fest: „Das antisemitische Übel saß aber nicht nur in den nachgeordneten Ämtern, sondern auch ganz oben in der Staatskanzlei. Die Österreicher würden Juden nicht noch einmal erlauben, sich in Österreich zu etablieren – das konnte damals der höchste Repräsentant des neu gegründeten Staates sagen und sich zugleich der mehrheitlichen Zustimmung der Bevölkerung und der politischen Klasse sicher sein.“ Von den rassisch Verfolgten war sonst nicht die Rede. Gottschlich: „Um sich selbst als Opfer definieren zu können, musste man die Holocaust-Opfer aus der öffentlichen Wahrnehmung ausblenden.“[34]
Renners Antisemitismus wurde von der Renner-Forschung ansonsten kaum speziell thematisiert, befand er sich damit doch damals im Mainstream der öffentlichen Meinung. Andreas Mailath-Pokorny bedauerte 2014, dass es zu Renner wenige historische Arbeiten gebe, und forderte eine Intensivierung der historischen Forschung.[35]
Eine sehr persönliche Stellungnahme zu Renner gab Marko Feingold, KZ-Überlebender, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, 2013 in einem Interview anlässlich seines 100. Geburtstags ab:
Ich habe einen Zorn auf Renner, er musste als Politiker genau gewusst haben, was in Deutschland passiert ist. Renner war aber begeisterter Befürworter des „Anschlusses“ an Hitler-Deutschland.[36]
Nachwirken
Renner-Büste von Alfred Hrdlicka neben dem Parlamentsgebäude in Wien, Rathauspark, Ecke Universitätsring (ehemals Dr.-Karl-Lueger-Ring)
50-Schilling-Silbermünze zum 100. Geburtstag Renner (1970)
Im Jahr 1956 wurde in Wien Innere Stadt (1. Bezirk) der Dr.-Karl-Renner-Ring nach dem Politiker benannt.
Renner ist im Ausland vor allem als einer der Gründungsväter der Rechtssoziologie bekannt. Eine Plakette mit seinem Namen findet sich unter jenen der 15 bedeutendsten Rechtssoziologen, welche die Wände des International Institute for the Sociology of Law in Onati (Gipuzkoa, Spanien) schmücken. Diese Stellung beruht einerseits auf seiner frühen Schrift über die soziale Funktion der Rechtsinstitute des Privatrechts (1904), anderseits auf den Bemühungen (gemeinsam mit Otto Bauer), die Rechte ethnischer Minderheiten zu sichern.
Renner verkörperte in der Sozialdemokratie am ehesten den charismatischen Politiker, mit populistischen Apellen an die „Volksseele“, eine Strategie, die Victor Adler ablehnte. Friedrich Adler bezeichnete ihn schon 1917 als „Lueger der Sozialdemokratie.[37]
Im Zusammenhang mit der 2012 vorgesehenen Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings thematisierte Oliver Rathkolb, Vorsitzender der im Auftrag des Kulturstadtrates tätigen Historikerkommission zu strittigen Straßennamen, die allfällige Umbenennung des an den Luegerring südlich anschließenden Dr.-Karl-Renner-Rings. Renner trat, wie seit langem bekannt, nach dem „Anschluss“ 1938 in einer Medienerklärung für ein Ja bei der inszenierten „Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich“ ein. Nach Rathkolb habe er allerdings außerdem zur Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938 pronazistische Polemik verfasst (die, siehe Abschnitt Renner und der „Anschluss“ an Deutschland, damals unveröffentlicht blieb); wäre sie 1945 schon bekannt gewesen, hätte er nicht Staatschef werden können. Der Historiker kann sich daher mit der Idee anfreunden, den Renner-Ring beispielsweise in Parlamentsring umzutaufen.[38]
Renner-Institut
→ Hauptartikel: Dr.-Karl-Renner-Institut
Die SPÖ gab ihrer politischen Akademie den Namen Renner-Institut.
Renner-Preise
Karl-Renner-Preis
Seit dem 80. Geburtstag Renners verleiht die Stadt Wien diesen Preis jährlich.
Karl-Renner-Publizistikpreis
Der Österreichische Journalisten Club (ÖJC) verleiht seit 1984 alle zwei Jahre zu Ehren Renners diesen Preis, der als höchste Auszeichnung im österreichischen Journalismus gilt.
Fußach-Affäre
1964 kam es in Vorarlberg zu einem Skandal (der sogenannten Fußachaffäre), als im Verantwortungsbereich von SPÖ-Verkehrsminister Otto Probst ein Bodenseeschiff (die spätere MS Vorarlberg) auf den Namen Karl Renner getauft werden sollte. Von den Vorarlbergern wurde nicht primär die Wahl des Namens an sich bekämpft, sondern das Ignorieren der diesbezüglichen Wünsche und Bedenken der Vorarlberger durch die „Wiener Zentralisten“.
Schriften
Staat und Nation, Wien 1899 (als Synopticus)
Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts. (als Josef Karner)
Österreichs Erneuerung, Wien 1916
Wege der Verwirklichung, Berlin 1929
Mensch und Gesellschaft, Wien 1952
Wandlungen der modernen Gesellschaft, Wien 1953
Das Weltbild der Moderne, Wien 1954
Schriften, Salzburg 1994
An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen von Karl Renner, Wien 1946
Die Gründung der Republik Deutsch-Österreich, der Anschluß und die Sudetendeutsche Frage, geschrieben 1938/39, ediert und kommentiert von Eduard Rabofsky, Wien 1990 (bis 1990 unveröffentlicht)
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