Der Spießbürger oder Füdlibürger
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Der Spießbürger oder Füdlibürger
Als Spießbürger, Spießer oder Philister[1] werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen. In der Schweiz werden Spießbürger auch als Bünzli[2] oder als Füdlibürger[3] (Füdli = Hinterteil) bezeichnet.
Begriffsgeschichte
Entstehung
Die Bezeichnung geht auf die im Mittelalter in der Stadt wohnenden Bürger zurück, die ihre Heimatstadt mit dem Spieß als Waffe verteidigten. Spießbürger unterschieden sich von den in der Vorstadt wohnenden Pfahlbürgern, gehörten jedoch innerhalb der Stadtgesellschaft zu den eher ärmeren Bürgern, da sie bei den städtischen Fußtruppen Dienst taten, während wohlhabendere Bürger hierfür Söldner bezahlen konnten. Der Spieß als Waffe war relativ günstig herzustellen und zugleich gegen die adligen Ritterheere des Hoch- und Spätmittelalters effizient einzusetzen (siehe Pikeniere). Er verhalf Bürgern und Bauern in den Bauern- und Hussitenkriegen zu hohen Siegen in den Schlachten gegen die adlige Kavallerie. Die Bezeichnung „Spießbürger“ war früher durchaus positiv konnotiert, da der Dienst zur Verteidigung der Heimatstadt als Ehre angesehen wurde.
Offenbar sank dann das Ansehen des „Spießbürgers“ und seiner Bezeichnung ab, „vielleicht weil man zu den Spießbürgern nur die ärmsten und untauglichsten wählete, dagegen die reichern bessern zu Pferde dieneten“. „Jetzt gebraucht man es nur im verächtlichen Verstande von einem jeden geringen Bürger“ (Wörterbuch Adelungs, 1811).[4] Studenten, die noch lange vor allem aus adeligem oder reichem Bürgerhaus kamen, verwendeten den Begriff schließlich in ihrer Studentensprache. „Spießbürger“ wurde so – ähnlich dem Ausdruck „Philister“ für eine Person, die der Kultur gegenüber nicht aufgeschlossen ist – eine gängige Bezeichnung, die Höhergestellte gegenüber kleinbürgerlichen und aus ihrer Sicht engstirnigen Menschen gebrauchten. Diese Verwendung zeigt sich z.B. bei Heinrich Heine, der 1826 über Göttingen schrieb, wo er wenige Jahre zuvor ein Semester studiert und eines relegiert verbracht hatte:
„Im Allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingetheilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh... Die Zahl der göttinger Philister muß sehr groß seyn, wie Sand, oder besser gesagt, wie Koth am Meer; wahrlich, wenn ich sie des Morgens, mit ihren schmutzigen Gesichtern und weißen Rechnungen, vor den Pforten des akademischen Gerichtes aufgepflanzt sah, so mochte ich kaum begreifen, wie Gott nur so viel Lumpenpack erschaffen konnte.“[5]
Marxistische Verwendung
Eine bemerkenswerte Funktion bekam der Begriff bei Karl Marx. Aus wohlhabender Familie und studiert waren ihm die beiden Schimpfwörter geläufig. Er selbst verwendete sie ebenfalls, jedoch nun mit dem Unmut darüber verbunden, dass sich die aus seiner Warte niederen Kleinbürger nicht für den Gedanken einer sozialen Revolution erwärmen konnten. Der Groß- und Bildungsbürger Marx, ab 1843 verheiratet mit Jenny von Westphalen, warf also den unter ihm stehenden Kleinbürgern vor, mit den noch tiefer eingeordneten Proletariern kein Bündnis gegen Großbürgertum und Adel eingehen zu wollen. Diesem Unmut verlieh er 1843 in einem Brief an Arnold Ruge Ausdruck:
„Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt... Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, mußte also natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder herstellte, zurückbleiben“. „Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer, Republikaner. Beides wollen die Spießbürger nicht sein“.[6]
Als die bürgerliche Revolution von 1848 scheiterte, neigte Marx zur Verachtung auch desjenigen Teils des deutschen Bürgertums, das auf liberale und demokratische Veränderungen hinarbeitete. Da es sich nicht durchsetzen konnte, setzte er auch diesen Teil des Bürgertums nun mit dem konservativen, im kommunistischen Manifest kritisierten „Kleinbürgertum“ oder „Spießbürgertum“ gleich.[7] In seinem Kommunistischen Manifest schrieb Marx 1848:
„In Deutschland bildet das … Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.“[8]
Da die Kleinbürger insgesamt zufrieden mit ihrem gesellschaftlichen Platz zu sein schienen, galten sie Marx und seinen Nachfolgern als Hindernis auf dem Weg zur kommunistischen Umwälzung. Aus einem despektierlichen sozialen Abgrenzungsbegriff war ein politischer Kampfbegriff gegen eine ganze Volksklasse geworden.
Dieser kommunistische und sozialistische Gebrauch des Begriffs wurde weitergetragen, z.B. beim Naturalisten Arno Holz 1886:
„Pst! Pst! sonst wackeln die Kronen,
Ihr Herrn Professoren, seid still!...
Und die fettigen Spießbürger loben
Die brave Polizei.“[9]
Dichter wie Tucholsky, Brecht und Horvath setzten dies fort.[10]
Verwendung ab dem 20. Jahrhundert
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff durch die Kurzform Spießer und das Adjektiv spießig erweitert. Neuerdings finden die Begriffe vereinzelt auch Anwendung auf linke Gruppierungen selbst, da Kritiker deren Position im Zuge des Marsches durch die Institutionen als neuen Mainstream sehen. Die taz, die in einer Artikelreihe die Neue Bürgerlichkeit erörterte, nutzte den Begriff Spießer in einer darauf bezugnehmenden Abo-Kampagne („Werden Sie Neo-Spießer“).
Literarische Interpretationen
In seinem 1930 erschienenen Roman Der ewige Spießer charakterisiert der Schriftsteller Ödön von Horváth einen Spießer als einen „hypochondrischen Egoist, der danach trachtet, sich überall feige anzupassen und jede neue Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet“. Der Spießer reise in der Welt herum und würde doch nur sich selbst sehen. Was gut und böse sei, wüsste er, ohne nachzudenken.
Die Literatur des 19. Jahrhunderts scheint zwei Kategorien von Spießern zu kennen: Charles Dickens schildert den gutmütigen Spießer – gemeint sind Menschen, die einer oberflächlichen Geselligkeit frönen und sich zudem gerne in Vereinen aufhalten. Harmlose Scherze und eine Art familiäres Treiben herrschen vor. Die bösartigen Varianten von Spießern tauchen bei Honoré de Balzac in seinem Roman Die Kleinbürger auf, den Gehässigkeit, Klatschsucht, Verleumdung und Verrat, Dünkel, Besserwisserei und Aufgeblasenheit auszeichnen. Der Untertan in Heinrich Manns gleichnamigem Roman von 1918 ist ein autoritätshöriger Opportunist, Mitläufer und Konformist. Vieles daran erinnert an Adornos „Autoritäre Persönlichkeit“.
Quelle - Literatur & einzelnachweise
Begriffsgeschichte
Entstehung
Die Bezeichnung geht auf die im Mittelalter in der Stadt wohnenden Bürger zurück, die ihre Heimatstadt mit dem Spieß als Waffe verteidigten. Spießbürger unterschieden sich von den in der Vorstadt wohnenden Pfahlbürgern, gehörten jedoch innerhalb der Stadtgesellschaft zu den eher ärmeren Bürgern, da sie bei den städtischen Fußtruppen Dienst taten, während wohlhabendere Bürger hierfür Söldner bezahlen konnten. Der Spieß als Waffe war relativ günstig herzustellen und zugleich gegen die adligen Ritterheere des Hoch- und Spätmittelalters effizient einzusetzen (siehe Pikeniere). Er verhalf Bürgern und Bauern in den Bauern- und Hussitenkriegen zu hohen Siegen in den Schlachten gegen die adlige Kavallerie. Die Bezeichnung „Spießbürger“ war früher durchaus positiv konnotiert, da der Dienst zur Verteidigung der Heimatstadt als Ehre angesehen wurde.
Offenbar sank dann das Ansehen des „Spießbürgers“ und seiner Bezeichnung ab, „vielleicht weil man zu den Spießbürgern nur die ärmsten und untauglichsten wählete, dagegen die reichern bessern zu Pferde dieneten“. „Jetzt gebraucht man es nur im verächtlichen Verstande von einem jeden geringen Bürger“ (Wörterbuch Adelungs, 1811).[4] Studenten, die noch lange vor allem aus adeligem oder reichem Bürgerhaus kamen, verwendeten den Begriff schließlich in ihrer Studentensprache. „Spießbürger“ wurde so – ähnlich dem Ausdruck „Philister“ für eine Person, die der Kultur gegenüber nicht aufgeschlossen ist – eine gängige Bezeichnung, die Höhergestellte gegenüber kleinbürgerlichen und aus ihrer Sicht engstirnigen Menschen gebrauchten. Diese Verwendung zeigt sich z.B. bei Heinrich Heine, der 1826 über Göttingen schrieb, wo er wenige Jahre zuvor ein Semester studiert und eines relegiert verbracht hatte:
„Im Allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingetheilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh... Die Zahl der göttinger Philister muß sehr groß seyn, wie Sand, oder besser gesagt, wie Koth am Meer; wahrlich, wenn ich sie des Morgens, mit ihren schmutzigen Gesichtern und weißen Rechnungen, vor den Pforten des akademischen Gerichtes aufgepflanzt sah, so mochte ich kaum begreifen, wie Gott nur so viel Lumpenpack erschaffen konnte.“[5]
Marxistische Verwendung
Eine bemerkenswerte Funktion bekam der Begriff bei Karl Marx. Aus wohlhabender Familie und studiert waren ihm die beiden Schimpfwörter geläufig. Er selbst verwendete sie ebenfalls, jedoch nun mit dem Unmut darüber verbunden, dass sich die aus seiner Warte niederen Kleinbürger nicht für den Gedanken einer sozialen Revolution erwärmen konnten. Der Groß- und Bildungsbürger Marx, ab 1843 verheiratet mit Jenny von Westphalen, warf also den unter ihm stehenden Kleinbürgern vor, mit den noch tiefer eingeordneten Proletariern kein Bündnis gegen Großbürgertum und Adel eingehen zu wollen. Diesem Unmut verlieh er 1843 in einem Brief an Arnold Ruge Ausdruck:
„Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt... Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, mußte also natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder herstellte, zurückbleiben“. „Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer, Republikaner. Beides wollen die Spießbürger nicht sein“.[6]
Als die bürgerliche Revolution von 1848 scheiterte, neigte Marx zur Verachtung auch desjenigen Teils des deutschen Bürgertums, das auf liberale und demokratische Veränderungen hinarbeitete. Da es sich nicht durchsetzen konnte, setzte er auch diesen Teil des Bürgertums nun mit dem konservativen, im kommunistischen Manifest kritisierten „Kleinbürgertum“ oder „Spießbürgertum“ gleich.[7] In seinem Kommunistischen Manifest schrieb Marx 1848:
„In Deutschland bildet das … Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.“[8]
Da die Kleinbürger insgesamt zufrieden mit ihrem gesellschaftlichen Platz zu sein schienen, galten sie Marx und seinen Nachfolgern als Hindernis auf dem Weg zur kommunistischen Umwälzung. Aus einem despektierlichen sozialen Abgrenzungsbegriff war ein politischer Kampfbegriff gegen eine ganze Volksklasse geworden.
Dieser kommunistische und sozialistische Gebrauch des Begriffs wurde weitergetragen, z.B. beim Naturalisten Arno Holz 1886:
„Pst! Pst! sonst wackeln die Kronen,
Ihr Herrn Professoren, seid still!...
Und die fettigen Spießbürger loben
Die brave Polizei.“[9]
Dichter wie Tucholsky, Brecht und Horvath setzten dies fort.[10]
Verwendung ab dem 20. Jahrhundert
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff durch die Kurzform Spießer und das Adjektiv spießig erweitert. Neuerdings finden die Begriffe vereinzelt auch Anwendung auf linke Gruppierungen selbst, da Kritiker deren Position im Zuge des Marsches durch die Institutionen als neuen Mainstream sehen. Die taz, die in einer Artikelreihe die Neue Bürgerlichkeit erörterte, nutzte den Begriff Spießer in einer darauf bezugnehmenden Abo-Kampagne („Werden Sie Neo-Spießer“).
Literarische Interpretationen
In seinem 1930 erschienenen Roman Der ewige Spießer charakterisiert der Schriftsteller Ödön von Horváth einen Spießer als einen „hypochondrischen Egoist, der danach trachtet, sich überall feige anzupassen und jede neue Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet“. Der Spießer reise in der Welt herum und würde doch nur sich selbst sehen. Was gut und böse sei, wüsste er, ohne nachzudenken.
Die Literatur des 19. Jahrhunderts scheint zwei Kategorien von Spießern zu kennen: Charles Dickens schildert den gutmütigen Spießer – gemeint sind Menschen, die einer oberflächlichen Geselligkeit frönen und sich zudem gerne in Vereinen aufhalten. Harmlose Scherze und eine Art familiäres Treiben herrschen vor. Die bösartigen Varianten von Spießern tauchen bei Honoré de Balzac in seinem Roman Die Kleinbürger auf, den Gehässigkeit, Klatschsucht, Verleumdung und Verrat, Dünkel, Besserwisserei und Aufgeblasenheit auszeichnen. Der Untertan in Heinrich Manns gleichnamigem Roman von 1918 ist ein autoritätshöriger Opportunist, Mitläufer und Konformist. Vieles daran erinnert an Adornos „Autoritäre Persönlichkeit“.
Quelle - Literatur & einzelnachweise
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