Deutscher Sonderweg
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Deutscher Sonderweg
Die These vom Deutschen Sonderweg besagt, dass die Entwicklung demokratischer Strukturen in Deutschland sich wesentlich vom europäischen Regelfall unterscheide, der u.a. von Frankreich und Großbritannien repräsentiert werde. Diese Sonderentwicklung sei aus der Geschichte Deutschlands ableitbar. In der Geschichtswissenschaft ist es strittig, ob es sich dabei wirklich um einen Sonderweg handelt oder nur um einen Eigenweg. Die These vom Sonderweg setze voraus, dass es eine Norm für die historische Entwicklung zur liberalen Demokratie gebe.
Charakteristika
Hans-Ulrich Wehler als Verfechter der Sonderweg-Theorie beschreibt die Entwicklung des preußisch-dominierten Deutschen Reiches bis zum Ende der Weimarer Republik als „eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne“.
Mit dem Begriff „Deutscher Sonderweg“ verbindet sich darüber hinaus die Vorstellung, Führungsschichten hätten in Deutschland, vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine verfehlte, unflexible und bisweilen anachronistische Politik verfolgt. Diese Politik sei vor allem durch eine antiparlamentarische und antidemokratische Haltung sowie die grundsätzliche Verweigerung und Ablehnung gegenüber vom Volk ausgehenden, liberalen und sozialen Erhebungen gekennzeichnet (Sozialistengesetze), was zu einem vor allem über kulturelle Aspekte definierten, letztlich fehlerhaften Selbstverständnis und einem übersteigerten Nationalgefühl der Deutschen geführt habe. Das sei auf die bereits erwähnte kategorische Ablehnung liberaler und parlamentarischer Bewegungen durch die preußische Führung zurückzuführen, die ihren Machtbereich innerhalb des deutschen Raumes ausdehnen und die Monarchie unbedingt beibehalten wollte. Es war vor allem die Politik Preußens, die die gesamtdeutsche Entwicklung seit 1814/1815 prägte.
Den Anfang des Sonderwegs kann man zurückführen zum einen auf die Sonderstellung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Partikularismus im Gegensatz zu den zentralisierten Königreichen England und Frankreich) des Mittelalters und zum anderen auf den aufgeklärten Absolutismus Preußens und Österreichs, der zum Teil Reformen vorwegnahm, die in Frankreich erst durch die Französische Revolution erreicht wurden. Möglicherweise förderte dies in Deutschland die Autoritätsgläubigkeit des Bürgertums.
Eine weitere wichtige Phase in der Entstehung des Deutschen Sonderwegs war die Weimarer Klassik, die eine Alternative zur gewaltsamen bürgerlichen Revolution wie in Frankreich suchte. Goethe (Minister in Weimar von 1779 bis 1786) und Schiller, die in ihrer Jugend (Sturm und Drang) zunächst das „Originalgenie“ verherrlicht hatten, suchten im reiferen Alter angesichts der Auswüchse der französischen Revolution nach einer Alternative. Diese bestand in einer durch ästhetische Bildung beförderten Hebung der allgemeinen moralischen Gesinnung in Adel und Bürgertum (vgl. Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795). Wie in anderen europäischen Staaten entwickelte sich auch in Deutschland ein Bildungsbürgertum, das Aufstiegschancen für Bürger und Rückzugsgebiet für Adelige darstellte.
Vorstellung vom besonderen Wert Deutschlands: Kultur gegen Zivilisation
Die Unterschiede einer spezifisch deutschen Entwicklung zu der seiner westlichen Nachbarn waren andererseits auch als Zeichen für einen besonderen Wert der Deutschen angenommen worden und insofern stark positiv besetzt.
Seit Germaine de Staëls De l’Allemagne (1813) kompensierten viele Deutsche ihre Unterlegenheitsgefühle gegenüber den westlichen Nationalstaaten damit, dass sie sich als „Land der Dichter und Denker“ unter Verweis auf Goethe und Kant kulturelle Überlegenheit zuschrieben. Kant hatte dabei den Begriff der Kultur als einer moralischen Lebenshaltung gegen den der an materiellem Wohlbefinden orientierten Zivilisation abgegrenzt. Dabei wurde Kultur als die geistigere, seelisch tiefergehende Form des Lebens- und Zusammenlebens angesehen und der als oberflächlich abgewerteten Zivilisation gegenübergestellt. Besonders zugespitzt vertrat diese Vorstellung während des Ersten Weltkrieges Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen.
Diese Vorstellung ist auch als Abwehr gegen das als Kampfbegriff verwendete Verständnis von Zivilisation gerichtet. Denn in der deutschen Sprache sind viele positive Konnotationen mit Kultur verbunden, die im Französischen und Englischen mit civilisation/civilization verbunden sind, insbesondere die Vorstellung der höchsten Stufe der Entwicklung einer Gesellschaft. (So ist oft civilization (etwa in Huntingtons clash of civilizations) mit „Kultur“ zu übersetzen.)
Während das (französische) Konzept „Zivilisation“ von der universalen Geltung der Menschenrechte, formuliert in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ausgeht, betonte das deutsche Konzept der Kultur die Partikularität unterschiedlicher kultureller Lebensäußerungen im verbundenen Nebeneinander gleich existenzberechtigter Einheiten (auch: Föderalismusprinzip). Diese Sichtweise spiegelt die deutsche Situation der extremen Zersplitterung in nichteinheitliche Regionen (Kleinstaaterei) wider, im Gegensatz zum politischen Zentralismus in Frankreich.
Die Logik des Sonderwegs im Selbstverständnis deutscher Selbstvergewisserung drückte sich aus in den „Ideen von 1914“, dem „Versuch der uneingeschränkten Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik“. Die deutschen aristokratischen Eliten sahen sich hierbei ideologisch „eingeklemmt“ zwischen den modernen kapitalistischen Klassengesellschaften Frankreichs und Englands und der zaristischen Autokratie Russlands. Sie beschworen daher „eine alle Klassen einschmelzende, konfliktfreie, harmonische ‚Volksgemeinschaft‘, die – von der kompetenten bildungsbürgerlichen Bürokratie dirigiert und von der starken preußisch-deutschen Militärmonarchie geschützt – in der Feuerprobe des Krieges wie ein Phönix emporsteigen werde.“ (zitiert nach Wehler, 2003, S. 17f.). Der deutsche Adel versuchte, sich so, durch die Aufwertung seiner sozialen Rückzugsgebiete (Hochschulen, Verwaltung und Militär), nach dem unvermeidlichen Verlust tatsächlicher Macht einen Resteinfluss zu bewahren, der zumindest das Fortdauern des gewohnten Lebensstils ermöglichte. Die Idee der „antikapitalistischen, antiliberalen, konfliktfreien ‚Volksgemeinschaft des nationalen Sozialismus‘, welche die Antagonismen der Klassengesellschaft überwinden sollte“ taucht später in radikalisierter Form in der Ideologie des Nationalsozialismus wieder auf.
Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde die Vorstellung vom Sonderweg zunehmend negativ verstanden. Während bis 1945 auf eine überlegene Andersartigkeit verwiesen wurde, rückten nun mögliche deutsche Modernisierungsdefizite in den Fokus der Darstellungen.
Beispiele
Im Zusammenhang mit einem „Deutschen Sonderweg“ wurden folgende Thesen in die Debatte eingebracht:
Die Industrialisierung. Durch eine in die Jahre gekommene, konservative Wirtschaftspolitik, die sich an Zünften orientierte und die Entfaltung der Industrialisierung im deutschen Raum hemmte, fand eine wirkliche industrielle Revolution erst 30–40 Jahre später statt als in Großbritannien.
Demokratie- und Bürgerbewegungsfeindlichkeit der deutschen Eliten und der Führung. Die Französische Revolution war der Beginn eines Demokratisierungsprozesses in Europa. Der Versuch der nationalen und liberalen Bewegung in Deutschland, mit der Märzrevolution von 1848 ein parlamentarisches System einzurichten, scheiterte. Stattdessen entstand mit der Reichsgründung 1871 ein monarchischer deutscher Staat, der zudem in dieser Form das europäische Mächtegleichgewicht störte, dessen Erhaltung eines der fundamentalen Ziele des Wiener Kongresses gewesen war. Einheit und Freiheit wurden nicht wie in anderen Staaten zusammen verwirklicht, das Bürgertum arrangierte sich im Kaiserreich mit dem Obrigkeitsstaat. Das allgemeine Wahlrecht war bis 1918 durch das einzigartige preußische Dreiklassenwahlrecht eingeschränkt, wodurch die Parlamentarisierung des politischen Systems verzögert wurde, weshalb den Parteien später die Eignung zu staatstragendem Handeln fehlte (Heinrich August Winkler spricht hier von „ungleichzeitiger Demokratisierung“).
Die Weimarer Republik. Die Novemberrevolution von 1918/19 blieb unvollständig, weil die Führer der SPD aus Furcht vor einer Linksdiktatur eine Kooperation mit den alten Eliten eingingen und deshalb die Demokratie nicht in Beamtenschaft und Militär verwurzelt wurde. Daher konnten in der Krise Großindustrielle wie Fritz Thyssen oder der einflussreiche Medienindustrielle Alfred Hugenberg dem Nationalsozialismus den Weg ebnen.
Das Dritte Reich wird als das Extrem deutscher Sonderwegsbeschreitungen gesehen. Dessen Zusammenbruch habe zur Deutschen Teilung und somit zum Verlust des deutschen Großmachtstatus geführt. Durch äußeres Eingreifen der alliierten Siegermächte sei Deutschland umstrukturiert und künstlich, nicht aus einer eigenen Entwicklung heraus, in ein freiheitliches demokratisches System eingebunden worden. Dennoch werten Historiker wie Winkler die weitere Entwicklung der Bundesrepublik als Teil des liberal-demokratischen „Westens“ sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit als Überwindung des Sonderweges auch im Denken der Menschen, die in der friedlichen Wiedervereinigung ihren Abschluss gefunden habe.
Kritik an diesem Konzept
In der neueren wissenschaftlichen Diskussion wird die These vom „deutschen Sonderweg“ überwiegend relativiert oder ganz verneint.[1] Kritikpunkte sind u. a.:
Die Entwicklungen in der deutschen Geschichte, die als „Sonderweg“ bezeichnet werden, sind zweifelsohne deutsche Besonderheiten. Allerdings gab es kein „Normalmaß“, keine „normale“ Entwicklung in anderen Ländern. Auch in Großbritannien gab es keine lineare Entwicklung zur liberalen Demokratie. Auch andere Länder wie Spanien, Italien, Österreich oder Ungarn erlebten in den letzten beiden Jahrhunderten meist keine liberalen und demokratischen Entwicklungen, sondern Kriege, Revolutionen und politische Instabilität, konservativ-autoritäre Kräfte und die alten aristokratischen Eliten behielten oft große Macht. Von einer „idealen“, weil konfliktfreien und kontinuierlichen Modernisierung und Demokratisierung kann in Kontinentaleuropa tatsächlich nur im Falle der Beneluxländer und der skandinavischen Staaten, ansatzweise im Fall Frankreichs, gesprochen werden. Weil diese Länder das Herzstück des westlichen, „abendländischen“ Europas und die Keimzelle der heutigen Europäischen Union bilden und sich Deutschland spätestens seit Gründung der Bundesrepublik (1949) politisch nach „Westen“ ausgerichtet hat, spricht Heinrich-August Winkler bezüglich der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auch von einem „langen Weg nach Westen“ – ohne allerdings Klarheit darüber zu haben, was diesen „Westen“ tatsächlich ausmacht.
Auch wer meint, dass Deutschland eine verspätete Nation sei, müsse angeben, was der angebliche Bezugspunkt sei, so Michael Kotulla.[2]
Frankreich, Italien und Preußen waren um 1869/1870 auf einem ähnlichen Entwicklungsstand. Die Pariser Kommune hat gezeigt, das die innere Nationsbildung auch in Frankreich noch instabil war.[3] Die deutsche Verfassungsentwicklung ist im europäischen Vergleich nicht sehr anders gewesen, mit Ausnahme des Föderalismus.[4]
Deutschland war 1871 saturiert, wie Bismarck es ausgedrückt hatte. Von ihm ging nicht mehr Gefahr für die Nachbarn aus als von anderen großen Nationalstaaten.[5]
Das deutsche Bürgertum war im 19. Jahrhundert nicht so schwach wie postuliert. Vielmehr ging es in der Gesamtgesellschaft auf und verlor allenfalls an Profil, nicht aber an Einfluss. Auch ohne formelle bürgerliche Revolution (und damit Auflehnung gegen die alte Ordnung des Adels) war seit 1871 das Bürgertum die tonangebende Schicht.
Der „deutsche Sonderweg“ ist ein Interpretationsentwurf, der die historische Entwicklung einseitig aus heutiger Sicht bewertet und normativ Aussagen („gute“ = liberale, „schlechte“ = autokratischere Regierungsform) wertend auf die Geschichte anwendet und dabei übersieht, dass Geschichte sich nicht zielgerichtet oder zwangsläufig entwickeln muss. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang etwa darauf, dass die Weimarer Republik durchaus auch ein demokratisches Entwicklungspotential hatte und ihr Scheitern nur eine Möglichkeit gewesen ist, nicht die von vornherein einzige.
Die Theorie des „Deutschen Sonderweges“ ist auf das Engste mit dem Kontinuitätsproblem rechter politischer Strömungen in Deutschland verbunden:
„[…] daß sich zwar eine unbestreitbare politische Linie von den militant-völkischen und radikal-nationalistischen Bewegungen […] seit dem späten 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus nachzeichnen läßt, daß aber andererseits eine übergreifende Kontinuität vom traditionellen Konservatismus […] bis zu Hitler und seiner Ideologie nicht besteht.“
– Hans-Christof Kraus: Altkonservativismus und moderne politische Rechte.[6]
Das große Manko der Sonderwegsthese sind vor allem fehlende transeuropäische Studien unter Einschluss Japans und der USA zu radikalem Nationalismus-Chauvinismus und Militarismus. Erst auf der Grundlage dessen ließe sich ein fundiertes abschließendes Urteil fällen, wobei eine Tendenz heute schon klar erkennbar ist. So steht überdies die Sonderwegsthese mit der „Singularitätsthese“ in engem Zusammenhang.[7]
Siehe auch
Deutsche Frage
Quelle
Charakteristika
Hans-Ulrich Wehler als Verfechter der Sonderweg-Theorie beschreibt die Entwicklung des preußisch-dominierten Deutschen Reiches bis zum Ende der Weimarer Republik als „eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne“.
Mit dem Begriff „Deutscher Sonderweg“ verbindet sich darüber hinaus die Vorstellung, Führungsschichten hätten in Deutschland, vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine verfehlte, unflexible und bisweilen anachronistische Politik verfolgt. Diese Politik sei vor allem durch eine antiparlamentarische und antidemokratische Haltung sowie die grundsätzliche Verweigerung und Ablehnung gegenüber vom Volk ausgehenden, liberalen und sozialen Erhebungen gekennzeichnet (Sozialistengesetze), was zu einem vor allem über kulturelle Aspekte definierten, letztlich fehlerhaften Selbstverständnis und einem übersteigerten Nationalgefühl der Deutschen geführt habe. Das sei auf die bereits erwähnte kategorische Ablehnung liberaler und parlamentarischer Bewegungen durch die preußische Führung zurückzuführen, die ihren Machtbereich innerhalb des deutschen Raumes ausdehnen und die Monarchie unbedingt beibehalten wollte. Es war vor allem die Politik Preußens, die die gesamtdeutsche Entwicklung seit 1814/1815 prägte.
Den Anfang des Sonderwegs kann man zurückführen zum einen auf die Sonderstellung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Partikularismus im Gegensatz zu den zentralisierten Königreichen England und Frankreich) des Mittelalters und zum anderen auf den aufgeklärten Absolutismus Preußens und Österreichs, der zum Teil Reformen vorwegnahm, die in Frankreich erst durch die Französische Revolution erreicht wurden. Möglicherweise förderte dies in Deutschland die Autoritätsgläubigkeit des Bürgertums.
Eine weitere wichtige Phase in der Entstehung des Deutschen Sonderwegs war die Weimarer Klassik, die eine Alternative zur gewaltsamen bürgerlichen Revolution wie in Frankreich suchte. Goethe (Minister in Weimar von 1779 bis 1786) und Schiller, die in ihrer Jugend (Sturm und Drang) zunächst das „Originalgenie“ verherrlicht hatten, suchten im reiferen Alter angesichts der Auswüchse der französischen Revolution nach einer Alternative. Diese bestand in einer durch ästhetische Bildung beförderten Hebung der allgemeinen moralischen Gesinnung in Adel und Bürgertum (vgl. Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795). Wie in anderen europäischen Staaten entwickelte sich auch in Deutschland ein Bildungsbürgertum, das Aufstiegschancen für Bürger und Rückzugsgebiet für Adelige darstellte.
Vorstellung vom besonderen Wert Deutschlands: Kultur gegen Zivilisation
Die Unterschiede einer spezifisch deutschen Entwicklung zu der seiner westlichen Nachbarn waren andererseits auch als Zeichen für einen besonderen Wert der Deutschen angenommen worden und insofern stark positiv besetzt.
Seit Germaine de Staëls De l’Allemagne (1813) kompensierten viele Deutsche ihre Unterlegenheitsgefühle gegenüber den westlichen Nationalstaaten damit, dass sie sich als „Land der Dichter und Denker“ unter Verweis auf Goethe und Kant kulturelle Überlegenheit zuschrieben. Kant hatte dabei den Begriff der Kultur als einer moralischen Lebenshaltung gegen den der an materiellem Wohlbefinden orientierten Zivilisation abgegrenzt. Dabei wurde Kultur als die geistigere, seelisch tiefergehende Form des Lebens- und Zusammenlebens angesehen und der als oberflächlich abgewerteten Zivilisation gegenübergestellt. Besonders zugespitzt vertrat diese Vorstellung während des Ersten Weltkrieges Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen.
Diese Vorstellung ist auch als Abwehr gegen das als Kampfbegriff verwendete Verständnis von Zivilisation gerichtet. Denn in der deutschen Sprache sind viele positive Konnotationen mit Kultur verbunden, die im Französischen und Englischen mit civilisation/civilization verbunden sind, insbesondere die Vorstellung der höchsten Stufe der Entwicklung einer Gesellschaft. (So ist oft civilization (etwa in Huntingtons clash of civilizations) mit „Kultur“ zu übersetzen.)
Während das (französische) Konzept „Zivilisation“ von der universalen Geltung der Menschenrechte, formuliert in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ausgeht, betonte das deutsche Konzept der Kultur die Partikularität unterschiedlicher kultureller Lebensäußerungen im verbundenen Nebeneinander gleich existenzberechtigter Einheiten (auch: Föderalismusprinzip). Diese Sichtweise spiegelt die deutsche Situation der extremen Zersplitterung in nichteinheitliche Regionen (Kleinstaaterei) wider, im Gegensatz zum politischen Zentralismus in Frankreich.
Die Logik des Sonderwegs im Selbstverständnis deutscher Selbstvergewisserung drückte sich aus in den „Ideen von 1914“, dem „Versuch der uneingeschränkten Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik“. Die deutschen aristokratischen Eliten sahen sich hierbei ideologisch „eingeklemmt“ zwischen den modernen kapitalistischen Klassengesellschaften Frankreichs und Englands und der zaristischen Autokratie Russlands. Sie beschworen daher „eine alle Klassen einschmelzende, konfliktfreie, harmonische ‚Volksgemeinschaft‘, die – von der kompetenten bildungsbürgerlichen Bürokratie dirigiert und von der starken preußisch-deutschen Militärmonarchie geschützt – in der Feuerprobe des Krieges wie ein Phönix emporsteigen werde.“ (zitiert nach Wehler, 2003, S. 17f.). Der deutsche Adel versuchte, sich so, durch die Aufwertung seiner sozialen Rückzugsgebiete (Hochschulen, Verwaltung und Militär), nach dem unvermeidlichen Verlust tatsächlicher Macht einen Resteinfluss zu bewahren, der zumindest das Fortdauern des gewohnten Lebensstils ermöglichte. Die Idee der „antikapitalistischen, antiliberalen, konfliktfreien ‚Volksgemeinschaft des nationalen Sozialismus‘, welche die Antagonismen der Klassengesellschaft überwinden sollte“ taucht später in radikalisierter Form in der Ideologie des Nationalsozialismus wieder auf.
Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde die Vorstellung vom Sonderweg zunehmend negativ verstanden. Während bis 1945 auf eine überlegene Andersartigkeit verwiesen wurde, rückten nun mögliche deutsche Modernisierungsdefizite in den Fokus der Darstellungen.
Beispiele
Im Zusammenhang mit einem „Deutschen Sonderweg“ wurden folgende Thesen in die Debatte eingebracht:
Die Industrialisierung. Durch eine in die Jahre gekommene, konservative Wirtschaftspolitik, die sich an Zünften orientierte und die Entfaltung der Industrialisierung im deutschen Raum hemmte, fand eine wirkliche industrielle Revolution erst 30–40 Jahre später statt als in Großbritannien.
Demokratie- und Bürgerbewegungsfeindlichkeit der deutschen Eliten und der Führung. Die Französische Revolution war der Beginn eines Demokratisierungsprozesses in Europa. Der Versuch der nationalen und liberalen Bewegung in Deutschland, mit der Märzrevolution von 1848 ein parlamentarisches System einzurichten, scheiterte. Stattdessen entstand mit der Reichsgründung 1871 ein monarchischer deutscher Staat, der zudem in dieser Form das europäische Mächtegleichgewicht störte, dessen Erhaltung eines der fundamentalen Ziele des Wiener Kongresses gewesen war. Einheit und Freiheit wurden nicht wie in anderen Staaten zusammen verwirklicht, das Bürgertum arrangierte sich im Kaiserreich mit dem Obrigkeitsstaat. Das allgemeine Wahlrecht war bis 1918 durch das einzigartige preußische Dreiklassenwahlrecht eingeschränkt, wodurch die Parlamentarisierung des politischen Systems verzögert wurde, weshalb den Parteien später die Eignung zu staatstragendem Handeln fehlte (Heinrich August Winkler spricht hier von „ungleichzeitiger Demokratisierung“).
Die Weimarer Republik. Die Novemberrevolution von 1918/19 blieb unvollständig, weil die Führer der SPD aus Furcht vor einer Linksdiktatur eine Kooperation mit den alten Eliten eingingen und deshalb die Demokratie nicht in Beamtenschaft und Militär verwurzelt wurde. Daher konnten in der Krise Großindustrielle wie Fritz Thyssen oder der einflussreiche Medienindustrielle Alfred Hugenberg dem Nationalsozialismus den Weg ebnen.
Das Dritte Reich wird als das Extrem deutscher Sonderwegsbeschreitungen gesehen. Dessen Zusammenbruch habe zur Deutschen Teilung und somit zum Verlust des deutschen Großmachtstatus geführt. Durch äußeres Eingreifen der alliierten Siegermächte sei Deutschland umstrukturiert und künstlich, nicht aus einer eigenen Entwicklung heraus, in ein freiheitliches demokratisches System eingebunden worden. Dennoch werten Historiker wie Winkler die weitere Entwicklung der Bundesrepublik als Teil des liberal-demokratischen „Westens“ sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit als Überwindung des Sonderweges auch im Denken der Menschen, die in der friedlichen Wiedervereinigung ihren Abschluss gefunden habe.
Kritik an diesem Konzept
In der neueren wissenschaftlichen Diskussion wird die These vom „deutschen Sonderweg“ überwiegend relativiert oder ganz verneint.[1] Kritikpunkte sind u. a.:
Die Entwicklungen in der deutschen Geschichte, die als „Sonderweg“ bezeichnet werden, sind zweifelsohne deutsche Besonderheiten. Allerdings gab es kein „Normalmaß“, keine „normale“ Entwicklung in anderen Ländern. Auch in Großbritannien gab es keine lineare Entwicklung zur liberalen Demokratie. Auch andere Länder wie Spanien, Italien, Österreich oder Ungarn erlebten in den letzten beiden Jahrhunderten meist keine liberalen und demokratischen Entwicklungen, sondern Kriege, Revolutionen und politische Instabilität, konservativ-autoritäre Kräfte und die alten aristokratischen Eliten behielten oft große Macht. Von einer „idealen“, weil konfliktfreien und kontinuierlichen Modernisierung und Demokratisierung kann in Kontinentaleuropa tatsächlich nur im Falle der Beneluxländer und der skandinavischen Staaten, ansatzweise im Fall Frankreichs, gesprochen werden. Weil diese Länder das Herzstück des westlichen, „abendländischen“ Europas und die Keimzelle der heutigen Europäischen Union bilden und sich Deutschland spätestens seit Gründung der Bundesrepublik (1949) politisch nach „Westen“ ausgerichtet hat, spricht Heinrich-August Winkler bezüglich der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auch von einem „langen Weg nach Westen“ – ohne allerdings Klarheit darüber zu haben, was diesen „Westen“ tatsächlich ausmacht.
Auch wer meint, dass Deutschland eine verspätete Nation sei, müsse angeben, was der angebliche Bezugspunkt sei, so Michael Kotulla.[2]
Frankreich, Italien und Preußen waren um 1869/1870 auf einem ähnlichen Entwicklungsstand. Die Pariser Kommune hat gezeigt, das die innere Nationsbildung auch in Frankreich noch instabil war.[3] Die deutsche Verfassungsentwicklung ist im europäischen Vergleich nicht sehr anders gewesen, mit Ausnahme des Föderalismus.[4]
Deutschland war 1871 saturiert, wie Bismarck es ausgedrückt hatte. Von ihm ging nicht mehr Gefahr für die Nachbarn aus als von anderen großen Nationalstaaten.[5]
Das deutsche Bürgertum war im 19. Jahrhundert nicht so schwach wie postuliert. Vielmehr ging es in der Gesamtgesellschaft auf und verlor allenfalls an Profil, nicht aber an Einfluss. Auch ohne formelle bürgerliche Revolution (und damit Auflehnung gegen die alte Ordnung des Adels) war seit 1871 das Bürgertum die tonangebende Schicht.
Der „deutsche Sonderweg“ ist ein Interpretationsentwurf, der die historische Entwicklung einseitig aus heutiger Sicht bewertet und normativ Aussagen („gute“ = liberale, „schlechte“ = autokratischere Regierungsform) wertend auf die Geschichte anwendet und dabei übersieht, dass Geschichte sich nicht zielgerichtet oder zwangsläufig entwickeln muss. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang etwa darauf, dass die Weimarer Republik durchaus auch ein demokratisches Entwicklungspotential hatte und ihr Scheitern nur eine Möglichkeit gewesen ist, nicht die von vornherein einzige.
Die Theorie des „Deutschen Sonderweges“ ist auf das Engste mit dem Kontinuitätsproblem rechter politischer Strömungen in Deutschland verbunden:
„[…] daß sich zwar eine unbestreitbare politische Linie von den militant-völkischen und radikal-nationalistischen Bewegungen […] seit dem späten 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus nachzeichnen läßt, daß aber andererseits eine übergreifende Kontinuität vom traditionellen Konservatismus […] bis zu Hitler und seiner Ideologie nicht besteht.“
– Hans-Christof Kraus: Altkonservativismus und moderne politische Rechte.[6]
Das große Manko der Sonderwegsthese sind vor allem fehlende transeuropäische Studien unter Einschluss Japans und der USA zu radikalem Nationalismus-Chauvinismus und Militarismus. Erst auf der Grundlage dessen ließe sich ein fundiertes abschließendes Urteil fällen, wobei eine Tendenz heute schon klar erkennbar ist. So steht überdies die Sonderwegsthese mit der „Singularitätsthese“ in engem Zusammenhang.[7]
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