Die Tanzsucht oder Tanzwut (lateinisch Epilepsia saltatoria)
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Die Tanzsucht oder Tanzwut (lateinisch Epilepsia saltatoria)
Der Ausdruck Tanzwut (lateinisch Epilepsia saltatoria), auch Tanzkrankheit, Tanzsucht, Tanzplage oder Choreomania bzw. Choreomanie genannt, bezeichnet eine insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert aufgetretene epidemische Erscheinung, die als psychogenes und massenhysterisches Phänomen beschrieben worden ist.[1] Große Gruppen von Menschen (genannt dansatores, chorisantes oder chorisatores) tanzten, bis ihnen Schaum aus dem Mund quoll, Wunden auftraten und sie erschöpft zusammenbrachen.
Ursprünglich war die Tanzwut als Veitstanz bekannt, welcher jedoch (als „großer Veitstanz“ bzw. „Chorea major“) auch Symptome der erblichen Krankheit Chorea Huntington bezeichnete. Die Bezeichnung Veitstanz bezieht sich auf den Heiligen Veit, da dieser in solchen Fällen, aber auch bei der Tanzwut, um Hilfe gebeten wurde.[2]
Theorien über Ursachen und Behandlung
Die Ursachen sind noch nicht endgültig geklärt, wahrscheinlich handelt es sich um unterschiedliche Phänomene, die aufgrund der äußeren Erscheinungsform zusammengefasst wurden.
Eine Vermutung betrifft religiöse Ekstase, eine andere die halluzinogene Wirkung pflanzlicher Drogen, zum Beispiel durch Nachtschattengewächse wie der Engelstrompete oder Vergiftungserscheinungen durch das aus dem Getreide stammende Mutterkorn, die für diese Phänomene ursächlich waren. Eine andere Erklärung ist der Biss der Europäischen Schwarzen Witwe, deren Gift zu unwillkürlichen neuromuskulären Entladungen führt und neben heftigen Schmerzen Muskelkrämpfe auslöst, die unbehandelt tagelang anhalten können. Zwar wurden die Symptome schon bald auf den Biss einer Spinne zurückgeführt, doch wurde die Apulische Tarantel dafür verantwortlich gemacht, die zwar wesentlich weniger Gift als die nachtaktive Europäische Schwarze Witwe besitzt, dafür aber viel größer als diese und auch tagsüber aktiv ist. Hierher rührt die Redensart „wie von der Tarantel gestochen“ für aufbrausendes oder unkontrolliertes Verhalten.
Tarantella aus einem medizinischen Handbuch von Samuel Hafenreffer
Die Therapiemethoden der damaligen Zeit umfassten unter anderem Schwitzkuren oder Behandlung mit Exkrementen. Den Patienten kam vielleicht am ehesten die Tarantella[3] entgegen: ein süditalienischer schneller Volkstanz, der von Musikern im Hause des Opfers gespielt wurde und den unwillkürlichen Zuckungen ein rhythmisches „Antidot“ (so auch der Titel der ersten Sammlung solcher Stücke durch Athanasius Kircher, 1641) entgegengesetzt wurde. Außerdem sollte das Gift auf diese Weise so schnell wie möglich ausgeschwitzt werden. Hier war also die „Tanzwut“ (bis zur völligen Erschöpfung) nicht Symptom, sondern Therapie.
Der Frankfurter Historiker Gregor Rohmann hat 2012 eine neue Interpretation der Hintergründe der Tanzwut des 14. bis 17. Jahrhunderts vorgelegt. Demnach handelt es sich nicht um eine Form von „Hysterie“ oder der durch Halluzinogene induzierten Ekstase, sondern um ein auf religiösen Vorstellungen beruhendes Krankheitskonzept: Wer unfreiwillig tanzte, agierte so das Gefühl aus, von Gott verlassen zu sein. Rohmann zeichnet die Entwicklung dieser Vorstellung seit dem spätantiken Christentum nach. Das frühe Christentum hatte von der nicht-christlichen Philosophie und Naturlehre die Vorstellung übernommen, dass der Kosmos durch die ewig harmonische Kreisbewegung der Sphären und Himmelsmächte geprägt sei. In der neuplatonisch inspirierten Kosmologie des frühmittelalterlichen Christentums wurde daraus der ewige Reigen der Engel und Heiligen um Gott, der sich in der irdischen Kirche spiegele. Der Tanz auf Erden war demnach im antiken Denken als Nachvollzug des himmlischen Reigens lesbar. Die Kirchenväter und mittelalterlichen Theologen übernahmen diese Vorstellung einerseits. Andererseits sahen viele Kirchenleute im alltäglich vollzogenen Tanz eine teuflische Versuchung und so eine Bedrohung für das Seelenheil. Rohmann zeigt, wie sich aus diesem Dilemma seit dem 6. Jahrhundert eine christianisierte Variante des schon in der griechischen Antike bekannten Konzepts von Mania (göttlich inspirierter Wahnsinn) entwickelte. Der Versuch, im irdischen Tanz Zugang zu den himmlischen Sphärenreigen zu erlangen, scheitert. Dieses Scheitern zeigt sich in den unfreiwilligen Tanzbewegungen, die so selbst zum Zeichen von Gottverlassenheit werden. Im Spätmittelalter konkurrierten bei der Behandlung der Tanzenden dann medizinische und religiöse Deutungen.
Tanzwut während der großen Pestepidemie?
Anders als in populären Darstellungen immer wieder behauptet, trat die Tanzwut nicht im Zusammenhang mit dem Schwarzen Tod der Jahre 1347–1350 oder anderen Pest-Epidemien des vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhunderts in Erscheinung. Die wichtigsten Tanzwutausbrüche fanden vielmehr 1374, 1463 und 1518 statt. Alle drei Fälle erfassten nicht etwa ganz Europa oder auch nur größere Gebiete, sondern jeweils relativ gut eingrenzbare Verbreitungsräume im Rhein-Mosel-Maas-Raum: 1374 vom Oberrhein bis nach Belgien, 1463 im Eifelgebiet, 1518 in Straßburg.[4] Weitere Einzelzeugnisse sind seit dem 14. Jahrhundert überliefert. Die Menschen tanzten so lange, bis sie in Ekstase verfielen, die ihr Müdigkeits- oder Erschöpfungsgefühl ausschaltete. Dadurch konnten sie so lange fortfahren, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen oder sogar starben.
Siehe auch
Chorea (Medizin)
Quelle
Ursprünglich war die Tanzwut als Veitstanz bekannt, welcher jedoch (als „großer Veitstanz“ bzw. „Chorea major“) auch Symptome der erblichen Krankheit Chorea Huntington bezeichnete. Die Bezeichnung Veitstanz bezieht sich auf den Heiligen Veit, da dieser in solchen Fällen, aber auch bei der Tanzwut, um Hilfe gebeten wurde.[2]
Theorien über Ursachen und Behandlung
Die Ursachen sind noch nicht endgültig geklärt, wahrscheinlich handelt es sich um unterschiedliche Phänomene, die aufgrund der äußeren Erscheinungsform zusammengefasst wurden.
Eine Vermutung betrifft religiöse Ekstase, eine andere die halluzinogene Wirkung pflanzlicher Drogen, zum Beispiel durch Nachtschattengewächse wie der Engelstrompete oder Vergiftungserscheinungen durch das aus dem Getreide stammende Mutterkorn, die für diese Phänomene ursächlich waren. Eine andere Erklärung ist der Biss der Europäischen Schwarzen Witwe, deren Gift zu unwillkürlichen neuromuskulären Entladungen führt und neben heftigen Schmerzen Muskelkrämpfe auslöst, die unbehandelt tagelang anhalten können. Zwar wurden die Symptome schon bald auf den Biss einer Spinne zurückgeführt, doch wurde die Apulische Tarantel dafür verantwortlich gemacht, die zwar wesentlich weniger Gift als die nachtaktive Europäische Schwarze Witwe besitzt, dafür aber viel größer als diese und auch tagsüber aktiv ist. Hierher rührt die Redensart „wie von der Tarantel gestochen“ für aufbrausendes oder unkontrolliertes Verhalten.
Tarantella aus einem medizinischen Handbuch von Samuel Hafenreffer
Die Therapiemethoden der damaligen Zeit umfassten unter anderem Schwitzkuren oder Behandlung mit Exkrementen. Den Patienten kam vielleicht am ehesten die Tarantella[3] entgegen: ein süditalienischer schneller Volkstanz, der von Musikern im Hause des Opfers gespielt wurde und den unwillkürlichen Zuckungen ein rhythmisches „Antidot“ (so auch der Titel der ersten Sammlung solcher Stücke durch Athanasius Kircher, 1641) entgegengesetzt wurde. Außerdem sollte das Gift auf diese Weise so schnell wie möglich ausgeschwitzt werden. Hier war also die „Tanzwut“ (bis zur völligen Erschöpfung) nicht Symptom, sondern Therapie.
Der Frankfurter Historiker Gregor Rohmann hat 2012 eine neue Interpretation der Hintergründe der Tanzwut des 14. bis 17. Jahrhunderts vorgelegt. Demnach handelt es sich nicht um eine Form von „Hysterie“ oder der durch Halluzinogene induzierten Ekstase, sondern um ein auf religiösen Vorstellungen beruhendes Krankheitskonzept: Wer unfreiwillig tanzte, agierte so das Gefühl aus, von Gott verlassen zu sein. Rohmann zeichnet die Entwicklung dieser Vorstellung seit dem spätantiken Christentum nach. Das frühe Christentum hatte von der nicht-christlichen Philosophie und Naturlehre die Vorstellung übernommen, dass der Kosmos durch die ewig harmonische Kreisbewegung der Sphären und Himmelsmächte geprägt sei. In der neuplatonisch inspirierten Kosmologie des frühmittelalterlichen Christentums wurde daraus der ewige Reigen der Engel und Heiligen um Gott, der sich in der irdischen Kirche spiegele. Der Tanz auf Erden war demnach im antiken Denken als Nachvollzug des himmlischen Reigens lesbar. Die Kirchenväter und mittelalterlichen Theologen übernahmen diese Vorstellung einerseits. Andererseits sahen viele Kirchenleute im alltäglich vollzogenen Tanz eine teuflische Versuchung und so eine Bedrohung für das Seelenheil. Rohmann zeigt, wie sich aus diesem Dilemma seit dem 6. Jahrhundert eine christianisierte Variante des schon in der griechischen Antike bekannten Konzepts von Mania (göttlich inspirierter Wahnsinn) entwickelte. Der Versuch, im irdischen Tanz Zugang zu den himmlischen Sphärenreigen zu erlangen, scheitert. Dieses Scheitern zeigt sich in den unfreiwilligen Tanzbewegungen, die so selbst zum Zeichen von Gottverlassenheit werden. Im Spätmittelalter konkurrierten bei der Behandlung der Tanzenden dann medizinische und religiöse Deutungen.
Tanzwut während der großen Pestepidemie?
Anders als in populären Darstellungen immer wieder behauptet, trat die Tanzwut nicht im Zusammenhang mit dem Schwarzen Tod der Jahre 1347–1350 oder anderen Pest-Epidemien des vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhunderts in Erscheinung. Die wichtigsten Tanzwutausbrüche fanden vielmehr 1374, 1463 und 1518 statt. Alle drei Fälle erfassten nicht etwa ganz Europa oder auch nur größere Gebiete, sondern jeweils relativ gut eingrenzbare Verbreitungsräume im Rhein-Mosel-Maas-Raum: 1374 vom Oberrhein bis nach Belgien, 1463 im Eifelgebiet, 1518 in Straßburg.[4] Weitere Einzelzeugnisse sind seit dem 14. Jahrhundert überliefert. Die Menschen tanzten so lange, bis sie in Ekstase verfielen, die ihr Müdigkeits- oder Erschöpfungsgefühl ausschaltete. Dadurch konnten sie so lange fortfahren, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen oder sogar starben.
Siehe auch
Chorea (Medizin)
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