Prozess „Herr Richter, das ist eine offene Wunde“
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Prozess „Herr Richter, das ist eine offene Wunde“
Sie filmten einen Kriegsverbrecher und wurden freigesprochen: Zwei niederländische Fernsehjournalisten hatten den Kriegsverbrecher Heinrich Boere mit versteckter Kamera gefilmt. Der Prozess bewegte Deutschlands Nachbarland.
Irgendwann griff Petra Wunsch in die psychologische Trickkiste. Sie blickte in die Zuschauerreihen im zum Bersten gefüllten Saal 17 im Amtsgericht von Eschweiler nahe Aachen. Blickte in die Gesichter von Menschen, deren Familienmitglieder getötet worden waren. Blickte herüber zu den vielen Journalisten, die in diesem viel zu engen Raum ihre Kameras aufgestellt hatten. „Eine Person der Zeitgeschichte“ sei der Mörder Heinrich Boere, sagte die Anwältin mit den dick rot geschminkten Lippen, hörte kurz auf zu sprechen, um ihre Worte wirken zu lassen, und suchte wieder Augenkontakt mit den Opferangehörigen. Sie selbst, so Wunsch, würde diesen Boere, um den sich im Gericht in dessen Abwesenheit alles drehte, ja ganz anders nennen, wenn sie dürfte, aber das dürfe sie an diesem Ort ja leider nicht.
Ungeheuer, hätte Wunsch wohl gerne gesagt. Mörder. Verbrecher. Schwein. Petra Wunsch verteidigte heute Vormittag Jelle Visser, 39, einen niederländischen Fernsehjournalisten, der sein Heimatland aufgewühlt hat. Zusammen mit seinem Kollegen Jan Ponsen, 52, hat Visser vor zweieinhalb Jahren in der Abendsendung „Een van daag“ einen Beitrag über Heinrich Boere ausgestrahlt, den letzten noch lebenden niederländischen Kriegsverbrecher.
Hat der Fernsehmann die Persönlichkeitsrechte des Ex-Nazis
verletzt?
Visser, ein fröhlicher Holländer mit wallender Mähne, hatte Boere in einem Altenheim in Eschweiler besucht und ihn mit versteckter Kamera gefilmt. Durfte er das? Hat der Fernsehmann die Persönlichkeitsrechte des Ex-Nazis verletzt? Oder ist das öffentliche Interesse an der Geschichte Boeres so groß, dass man das Ton- und Kameradokument zeigen darf, auch wenn der Interviewte einer Veröffentlichung nicht zustimmte? Darum ging es heute im Amtsgericht von Eschweiler. Und um das Leid, das deutsche Mörder im Zweiten Weltkrieg im kleinen Nachbarland angerichtet haben. Deshalb warteten schon eine Stunde vor Beginn der Verhandlung Scharen von niederländischen Journalisten bei Eiseskälte vor dem Eingang des Gerichts.
Die Geschichte, die laut Fernsehjournalist Visser, eine auch nach Jahrzehnten immer noch „offene Wunde“ in den Niederlanden geschlagen hat, beginnt im Jahr 1940. Heinrich Boere, in Eschweiler geboren, Sohn eines niederländischen Vaters und einer deutschen Mutter, trat mit 18 Jahren in die Waffen-SS ein. Er kämpfte an der Ostfront und ging 1943 ausgestattet mit einem deutschen und niederländischen Pass in die Niederlande, wo sich eine immer stärker werdende Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten zu formen begann. Boere wurde Teil der Nationalsozialistischen Bewegung (NSB) und ihres bewaffneten Armes, der Landwacht. Deren Kopf, Johannes Hendrik Feldmeijer, rekrutierte mit Vorliebe SS-Leute, die im Osten gekämpft hatten.
15 Männer scharte er um sich – darunter Heinrich Boere.
Boere erschoss drei Menschen mit einer Pistole
Der Schreckenstrupp mordete fortan unter der Order „Aktion Silbertanne“. In Zivil zogen Boere & Co. durchs Land und töteten Menschen, welche die NSB zu den Widerständlern zählte oder die zumindest in Städten wohnten, in denen Widerständler lebten. Boere erschoss drei Menschen mit einer Pistole: einen Apotheker, einen Fahrradhändler und einen Prokuristen. Im Mai 1945 ergab
sich seine Einheit, und Boere kam in Gefangenschaft. Er gestand die Morde. Zwei Jahre später floh er aus einem Gefangenenbus, tauchte unter und wurde wiederum zwei Jahre später vom Sondergerichtshof Amsterdam zum Tode verurteilt. Mit diesem Urteil begannen juristische Scharmützel zwischen den Niederlanden und Deutschland, die 60 Jahre dauern sollten.
1954 tauchte Heinrich Boere wieder in Eschweiler auf und kam erst einmal bei seinem Onkel unter. Während der Dreifach-Mörder ab diesem Zeitpunkt unbehelligt und unter seinem richtigen Namen in seiner Heimatstadt lebte, stritten sich zig Gerichte beider Länder um die Frage: Auslieferung oder
nicht? Boere musste nie wieder in die Niederlande. Mal legte er ein medizinisches Gutachten der Universität Köln vor, das ihm eine Herz- und Nierenschwäche attestierte. Mal beklagte er, dass ihm kein Pflichtverteidiger an die Seite gestellt worden war, und hinderte die Niederländer auf diese Weise, ihn ins Land zu holen, lebenslang einzusperren und damit die Haftstrafe zu vollstrecken, in welche die Todesstrafe des Amsterdamer Sondergerichtshofs umgewandelt worden war. Am meisten aber profitierte Boere von einem „Führererlass“: Da er zum Zeitpunkt der Taten Deutscher war, schützte ihn das vor einer Strafe in den Niederlanden. Als TV-Journalist Jelle Visser im Jahr 2009 seine Recherchen über den Stand im Fall Boere begann, war er schnell fassungslos, dass der Kriegsverbrecher einfach nicht zur Verantwortung gezogen konnte. Visser wollte wissen, wie dieser Heinrich Boere lebt, was er zu den Taten sagt, ob er Reue zeigt. Visser und Ponsen riefen im Altenheim in Eschweiler an, um mit Boere zu sprechen. Sie schrieben Briefe und wollten sich mit Boeres Anwalt verabreden. Alles vergeblich. Boeres Anwalt habe am Tag des vereinbarten Gesprächs abgesagt, erzählt Visser. „Alle unsere Anfragen gingen ins Leere, und so griffen wir zum letzten Mittel“, sagt er. Am 19. August 2009 montierte er seine Kamera und ging im schmucken Seniorendomizil am Rande Eschweilers ins Zimmer Heinrich Boeres.
„Schreiben sie alles auf“
„Raus, weg“, rief dieser, als er den Journalisten sah, aber dann fing er doch an zu reden. Im zehnminütigen Film, den das Gericht zu Beginn der heutigen Verhandlung zeigte, sitzt Boere in seinem sonnendurchfluteten Zimmer vor welken Blumen und einer Fotowand. Er erzählt von seinen toten Hunden und davon, dass es ihm egal ist, ob er doch noch irgendwann ins Gefängnis müsse. „Schreiben sie alles auf“, habe er zum Abschluss gesagt, erzählt Jelle Visser.
Der Film hat die Bevölkerung in den Niederlanden bewegt – und mehr noch die Gefahr, dass zwei heimische Journalisten ausgerechnet im Land des Nationalsozialismus verurteilt werden könnten. Der Presse-Rat der Niederlande wertet Vissers ertrickste Aufnahmen „als historisches Dokument“, weil es den letzten noch lebenden Kriegsverbrecher authentisch präsentiere. Das Gericht in Eschweiler schloss sich dieser Meinung an.
Es sprach Visser und Ponsen vom Vorwurf frei, die Persönlichkeitsrechte Boeres verletzt zu haben. Die niederländische Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, etwas über diesen Menschen zu erfahren, der in ihrem Land gemordet habe. Die versteckte Kamera sei als Ultima Ratio zulässig gewesen, weil die Journalisten vorher alles versucht hätten, auf regulärem Weg ein Interview zu führen. Das
öffentliche Interesse wiege in diesem Fall schwerer als das Recht am eigenen Bild und Wort.
Heinrich Boere ist mittlerweile 90 Jahre alt. Wenige Monate nach Vissers und Ponsens Fernsehbeitrag wurde der Alt-Nazi, der als Geheimdienstler unter anderem auch sieben Menschen ins Konzentrationslager gebracht haben soll, doch noch vom Landgericht Aachen wegen dreifachen Mordes zu einer lebenslangen Strafe in einem Gefängniskrankenhaus verurteilt. Boere hat – spät – seine Strafe bekommen. Die offene Wunde verheilt ganz langsam.
Quelle
Irgendwann griff Petra Wunsch in die psychologische Trickkiste. Sie blickte in die Zuschauerreihen im zum Bersten gefüllten Saal 17 im Amtsgericht von Eschweiler nahe Aachen. Blickte in die Gesichter von Menschen, deren Familienmitglieder getötet worden waren. Blickte herüber zu den vielen Journalisten, die in diesem viel zu engen Raum ihre Kameras aufgestellt hatten. „Eine Person der Zeitgeschichte“ sei der Mörder Heinrich Boere, sagte die Anwältin mit den dick rot geschminkten Lippen, hörte kurz auf zu sprechen, um ihre Worte wirken zu lassen, und suchte wieder Augenkontakt mit den Opferangehörigen. Sie selbst, so Wunsch, würde diesen Boere, um den sich im Gericht in dessen Abwesenheit alles drehte, ja ganz anders nennen, wenn sie dürfte, aber das dürfe sie an diesem Ort ja leider nicht.
Ungeheuer, hätte Wunsch wohl gerne gesagt. Mörder. Verbrecher. Schwein. Petra Wunsch verteidigte heute Vormittag Jelle Visser, 39, einen niederländischen Fernsehjournalisten, der sein Heimatland aufgewühlt hat. Zusammen mit seinem Kollegen Jan Ponsen, 52, hat Visser vor zweieinhalb Jahren in der Abendsendung „Een van daag“ einen Beitrag über Heinrich Boere ausgestrahlt, den letzten noch lebenden niederländischen Kriegsverbrecher.
Hat der Fernsehmann die Persönlichkeitsrechte des Ex-Nazis
verletzt?
Visser, ein fröhlicher Holländer mit wallender Mähne, hatte Boere in einem Altenheim in Eschweiler besucht und ihn mit versteckter Kamera gefilmt. Durfte er das? Hat der Fernsehmann die Persönlichkeitsrechte des Ex-Nazis verletzt? Oder ist das öffentliche Interesse an der Geschichte Boeres so groß, dass man das Ton- und Kameradokument zeigen darf, auch wenn der Interviewte einer Veröffentlichung nicht zustimmte? Darum ging es heute im Amtsgericht von Eschweiler. Und um das Leid, das deutsche Mörder im Zweiten Weltkrieg im kleinen Nachbarland angerichtet haben. Deshalb warteten schon eine Stunde vor Beginn der Verhandlung Scharen von niederländischen Journalisten bei Eiseskälte vor dem Eingang des Gerichts.
Die Geschichte, die laut Fernsehjournalist Visser, eine auch nach Jahrzehnten immer noch „offene Wunde“ in den Niederlanden geschlagen hat, beginnt im Jahr 1940. Heinrich Boere, in Eschweiler geboren, Sohn eines niederländischen Vaters und einer deutschen Mutter, trat mit 18 Jahren in die Waffen-SS ein. Er kämpfte an der Ostfront und ging 1943 ausgestattet mit einem deutschen und niederländischen Pass in die Niederlande, wo sich eine immer stärker werdende Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten zu formen begann. Boere wurde Teil der Nationalsozialistischen Bewegung (NSB) und ihres bewaffneten Armes, der Landwacht. Deren Kopf, Johannes Hendrik Feldmeijer, rekrutierte mit Vorliebe SS-Leute, die im Osten gekämpft hatten.
15 Männer scharte er um sich – darunter Heinrich Boere.
Boere erschoss drei Menschen mit einer Pistole
Der Schreckenstrupp mordete fortan unter der Order „Aktion Silbertanne“. In Zivil zogen Boere & Co. durchs Land und töteten Menschen, welche die NSB zu den Widerständlern zählte oder die zumindest in Städten wohnten, in denen Widerständler lebten. Boere erschoss drei Menschen mit einer Pistole: einen Apotheker, einen Fahrradhändler und einen Prokuristen. Im Mai 1945 ergab
sich seine Einheit, und Boere kam in Gefangenschaft. Er gestand die Morde. Zwei Jahre später floh er aus einem Gefangenenbus, tauchte unter und wurde wiederum zwei Jahre später vom Sondergerichtshof Amsterdam zum Tode verurteilt. Mit diesem Urteil begannen juristische Scharmützel zwischen den Niederlanden und Deutschland, die 60 Jahre dauern sollten.
1954 tauchte Heinrich Boere wieder in Eschweiler auf und kam erst einmal bei seinem Onkel unter. Während der Dreifach-Mörder ab diesem Zeitpunkt unbehelligt und unter seinem richtigen Namen in seiner Heimatstadt lebte, stritten sich zig Gerichte beider Länder um die Frage: Auslieferung oder
nicht? Boere musste nie wieder in die Niederlande. Mal legte er ein medizinisches Gutachten der Universität Köln vor, das ihm eine Herz- und Nierenschwäche attestierte. Mal beklagte er, dass ihm kein Pflichtverteidiger an die Seite gestellt worden war, und hinderte die Niederländer auf diese Weise, ihn ins Land zu holen, lebenslang einzusperren und damit die Haftstrafe zu vollstrecken, in welche die Todesstrafe des Amsterdamer Sondergerichtshofs umgewandelt worden war. Am meisten aber profitierte Boere von einem „Führererlass“: Da er zum Zeitpunkt der Taten Deutscher war, schützte ihn das vor einer Strafe in den Niederlanden. Als TV-Journalist Jelle Visser im Jahr 2009 seine Recherchen über den Stand im Fall Boere begann, war er schnell fassungslos, dass der Kriegsverbrecher einfach nicht zur Verantwortung gezogen konnte. Visser wollte wissen, wie dieser Heinrich Boere lebt, was er zu den Taten sagt, ob er Reue zeigt. Visser und Ponsen riefen im Altenheim in Eschweiler an, um mit Boere zu sprechen. Sie schrieben Briefe und wollten sich mit Boeres Anwalt verabreden. Alles vergeblich. Boeres Anwalt habe am Tag des vereinbarten Gesprächs abgesagt, erzählt Visser. „Alle unsere Anfragen gingen ins Leere, und so griffen wir zum letzten Mittel“, sagt er. Am 19. August 2009 montierte er seine Kamera und ging im schmucken Seniorendomizil am Rande Eschweilers ins Zimmer Heinrich Boeres.
„Schreiben sie alles auf“
„Raus, weg“, rief dieser, als er den Journalisten sah, aber dann fing er doch an zu reden. Im zehnminütigen Film, den das Gericht zu Beginn der heutigen Verhandlung zeigte, sitzt Boere in seinem sonnendurchfluteten Zimmer vor welken Blumen und einer Fotowand. Er erzählt von seinen toten Hunden und davon, dass es ihm egal ist, ob er doch noch irgendwann ins Gefängnis müsse. „Schreiben sie alles auf“, habe er zum Abschluss gesagt, erzählt Jelle Visser.
Der Film hat die Bevölkerung in den Niederlanden bewegt – und mehr noch die Gefahr, dass zwei heimische Journalisten ausgerechnet im Land des Nationalsozialismus verurteilt werden könnten. Der Presse-Rat der Niederlande wertet Vissers ertrickste Aufnahmen „als historisches Dokument“, weil es den letzten noch lebenden Kriegsverbrecher authentisch präsentiere. Das Gericht in Eschweiler schloss sich dieser Meinung an.
Es sprach Visser und Ponsen vom Vorwurf frei, die Persönlichkeitsrechte Boeres verletzt zu haben. Die niederländische Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, etwas über diesen Menschen zu erfahren, der in ihrem Land gemordet habe. Die versteckte Kamera sei als Ultima Ratio zulässig gewesen, weil die Journalisten vorher alles versucht hätten, auf regulärem Weg ein Interview zu führen. Das
öffentliche Interesse wiege in diesem Fall schwerer als das Recht am eigenen Bild und Wort.
Heinrich Boere ist mittlerweile 90 Jahre alt. Wenige Monate nach Vissers und Ponsens Fernsehbeitrag wurde der Alt-Nazi, der als Geheimdienstler unter anderem auch sieben Menschen ins Konzentrationslager gebracht haben soll, doch noch vom Landgericht Aachen wegen dreifachen Mordes zu einer lebenslangen Strafe in einem Gefängniskrankenhaus verurteilt. Boere hat – spät – seine Strafe bekommen. Die offene Wunde verheilt ganz langsam.
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