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Wilhelm Wundt

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Wilhelm Wundt Empty Wilhelm Wundt

Beitrag  checker Sa Jul 12, 2014 8:23 am

Wilhelm Maximilian Wundt, als Autor meist Wilhelm Wundt, (* 16. August 1832 in Neckarau (heute zu Mannheim); † 31. August 1920 in Großbothen bei Leipzig) war Physiologe, Psychologe und Philosoph. Er gründete 1879 das erste Institut für experimentelle Psychologie mit einem systematischen Forschungsprogramm. Wundt gilt als Begründer der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft und als Mitbegründer der Völkerpsychologie (Kulturpsychologie).[1]

Wilhelm Wundt 220px-Wilhelm_Wundt
Porträtfotografie von Wilhelm Wundt veröffentlicht in der Weltrundschau zu Reclams Universum 1902

Genealogie

Wilhelm Wundt entstammt als jüngstes Kind einer pfälzischen protestantischen Pastoren- und Akademikerfamilie: Seine Eltern waren Maximilian Wundt (1787–1846), Pfarrer in Neckarau, ab 1832 in Leutershausen und seit dem Sommer 1836 in Heidelsheim, und Marie Frederike Wundt, geb. Arnold (1797–1868). Wundts Großvater war Friedrich Peter Wundt (1742–1805), Professor für Landeskunde und Pfarrer in Wieblingen. In seiner genealogischen Analyse konnte der Breslauer Arzt Gottfried Roesler die Herkunft der Großfamilie Wundt aus der Steiermark darstellen.[2]

In der Nähe von Heidelberg lernten sich im Jahr 1867 Wilhelm Wundt und Sophie Mau (1844–1912) kennen. Sie war die älteste Tochter des Kieler Theologieprofessors Heinrich August Mau und seiner Ehefrau Luise Mau, geb. von Rumohr sowie eine Schwester des Archäologen August Mau. Die Heirat fand am 14. August 1872 in Kiel statt.[3]

Das Ehepaar Wilhelm und Sophie Wundt hatte drei Kinder: Eleonore (1876–1957), Lilie (1880–1884) und Max Wundt (1879–1963), Philosoph.
Leben

Wilhelm Wundt 640px-HeidelsheimWilhelmWundt
Wohnstatt Wilhelm Wundts in Heidelsheim

Studium und Universitätslaufbahn

Wilhelm Wundt studierte nach seinem Abitur am Heidelberger Großherzoglich-Badischen Gymnasium von 1851 bis 1856 Medizin bei seinem Onkel mütterlicherseits, dem Anatomen und Physiologen Friedrich Arnold, an den Universitäten Tübingen und Heidelberg. Vorlesungen hörte er in Heidelberg bei Robert Bunsen und Philipp von Jolly. 1855 erlangte Wundt in Karlsruhe sein Medizinisches Staatsexamen. Mit der Dissertation Untersuchungen über das Verhalten der Nerven in entzündeten und degenerierten Organen[4][5] wurde er 1856 zum Dr. med. promoviert.

Wilhelm Wundt 640px-Wilhelm_Wundt_Gravestone
Grabmal von Wilhelm Wundt, seiner Frau Sophie und seiner Tochter Eleonore auf dem Leipziger Südfriedhof, II. Abteilung

Nach seiner Promotion war Wundt in Heidelberg Assistent bei Karl Ewald Hasse und ging im selben Jahr für ein Forschungssemester nach Berlin zu Johannes Müller. Hier forschte Wundt über Nervenzentren bei niederen Wirbellosen, insbesondere bei Teichmuscheln. Auch arbeitete er am Müllerschen Institut für Emil Du Bois-Reymond über Phänomene der Muskelkontraktion.

Wilhelm Wundt habilitierte sich 1857 in vereinfachter Form, da er mit summa cum laude an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg promoviert worden war, wo er im selben Jahr eine Privatdozentur antrat und Vorlesungen über die gesamte Physiologie und über Medizinische Physik hielt. Eine akute Erkrankung, ein Blutsturz, den er nur knapp überlebte, wird in autobiographischen Aufzeichnungen als einschneidende Erfahrung geschildert. Während seiner Rekonvaleszenz bewarb sich Wilhelm Wundt um eine Assistentenstelle bei Hermann von Helmholtz. Während seiner folgenden Assistentenzeit von 1858 bis 1863 bei Helmholtz, unterrichtete Wundt neben seiner experimentellen Forschung Medizinstudenten im Praktikum, hielt Vorlesungen zur Physiologie und anderen Themen und veröffentlichte fünf Abhandlungen zur Theorie der Sinneswahrnehmungen, welche 1862 als seine erste experimentalpsychologische Schrift unter dem Titel Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung erschien.[6][7]

1864 Berufung als außerordentlicher Professor für Anthropologie und Medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
1870 Tätigkeit als Militärarzt
1871 Vertretung, aber nicht Nachfolge für den nach Berlin berufenen Helmholtz und a. o. Professor der Medizin mit Besoldung; Lehrtätigkeit in „Anthropologie“ und „Medizinische Psychologie“
1874 folgte die Berufung zum o. Professor für induktive Philosophie an die Universität Zürich.
1875 wechselte Wilhelm Wundt auf eine ordentliche Professur für Philosophie an die Universität Leipzig
1879 Gründung des „Instituts“ für experimentelle Psychologie an der Universität Leipzig, zunächst als Privateinrichtung, und Antrag auf Bewilligung von Sachmitteln
1882 Erneuter Antrag an das Ministerium (mit erster Erwähnung „Institut“), Bewilligung einmaliger Mittel
1883 Zuweisung und Umbau von 6 Räumen sowie ein jährlicher Etat. Offizielle Anerkennung des „Instituts für experimentelle Psychologie“ der Leipziger Universität
1889–1890 Rektor der Universität Leipzig
1913 Gründung der Völkerpsychologischen Abteilung des Instituts
1917 Rücktritt vom Lehramt[8][9]

Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920)[1] Geschichte der Psychologie an der Universität Leipzig [2]
Akademisches Umfeld

In Leipzig gehörten zum Umfeld unter anderem die Physiologen Carl Ludwig und Johann Nepomuk Czermak, der Anatom und Physiologe Ernst Heinrich Weber, der Universalgelehrte Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und der Philosoph und Mediziner Rudolph Hermann Lotze (1817–1881). Zu erwähnen sind weiterhin der Physiologe Ewald Hering, der Botaniker Pfeffer, der Jurist Rudolph Sohm, der mit ihm befreundete Rechtswissenschaftler Oskar Bülow, die Philologen Gottlob Reinhold Sievers und Karl Brugmann, der Historiker Karl Lamprecht und der Geograph Friedrich Ratzel. Mit einigen stand Wundt im fachlichen Austausch, mit anderen war er befreundet. Zu seinem „Diskussionskränzchen“ gehörten der Historiker Lamprecht, der Geograph Ratzel und der Chemiker Wilhelm Ostwald (siehe Krueger, 1934; Meischner-Metge, 2003). Fachliche Kontroversen ergaben sich in Leipzig mit dem Mathematiker und Philosophen Moritz Wilhelm Drobisch, mit dem Physiker und Astronomen Karl Friedrich Zöllner (über Spiritismus), dem Philosophen und Erkenntnistheoretiker Eduard Zeller (über psychologische Messungen). – Insgesamt bestand ein außerordentlich anregendes wissenschaftliches Umfeld mit der Möglichkeit vieler interdisziplinärer Kontakte. Die Wahl Wundts zum Rektor im Amtsjahr 1889/1890 und als Redner der 500-Jahr-Feier der Universität spricht dafür, dass er weithin hohes Ansehen genoss.

Fechner habe die ersten Arbeiten aus dem Institut Wundts mit großem Interesse und kritischem Rat begleitet. Fechner habe zu Wundts Plan der Institutsgründung in Leipzig gesagt: „Dann werden Sie ja in einigen Jahren mit der ganzen Psychologie fertig sein.“[10]

Lehrtätigkeit

Wilhelm Wundt Wilhelm_Maximilian_Wundt
Wilhelm Wundt Fotografie um 1890

In Leipzig hielt Wundt seit 1875 Vorlesungen mit einem breiten Spektrum: Logik und Methodenlehre, Psychologie der Sprache, Anthropologie (Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen), Psychologie, Allgemeine Resultate der Gehirn- und Nervenphysiologie, mit Rücksicht auf Psychologie, Geschichte der neueren Kosmologie, Historische und Moderne Philosophie, Praktika in experimenteller Psychologie.[11]

Wundt gründete zwei Zeitschriften, um die Arbeiten des Leipziger Instituts bekannt zu machen:

Philosophische Studien (von 1881 bis 1902)
Psychologische Studien (von 1905 bis 1917)

Wundts Assistenten, Mitarbeiter und Studenten

Erster Assistent war der Amerikaner James McKeen Cattell. Es folgten zahlreiche Mitarbeiter, von denen viele als Pioniere bestimmter Richtungen der Psychologie bekannt wurden (alphabetisch angeordnet): E. Dürr, F. Kiesow, A. Kirschmann, O. Klemm, F. Krueger (Wundts Nachfolger), O. Külpe, L. Lange, P. Mentz, E. Meumann, W. Möbius, W. Moede, E. Mosch, R. Müller, F. Sander, Ch. Spearman, P. Salow, W. Wirth. Als wichtigste zeitweilige Mitarbeiter sind zu nennen: H. Münsterberg, A. Lehmann, K. Marbe, G.F. Lipps, G.W. Störring, E. B. Titchener und L. Witmer. Zu seinen bekanntesten Assistenten bzw. Mitarbeitern zählen Felix Krueger (Wundts Nachfolger), Oswald Külpe, Ernst Meumann und Hugo Münsterberg sowie der Psychiater Emil Kraepelin.

Bei Wundt in Leipzig studierten kürzere oder längere Zeit oder waren zu Gast u. a. Bechterew, Boas, Durkheim, Husserl, Lange, Malinowski, Mead, Sapir, Thomas, Tönnies, Whorf und Wygotski.[12][13]

Zwischen 1875 und 1919 hat Wundt für 184 Doktoranden das Erstgutachten geschrieben; darunter waren 60 Ausländer (18 aus den USA). Schwerpunkte der experimentellen Untersuchungen (85 Dissertationen) waren Fechners Psychophysik und Reaktionszeitmessungen, neben vielen philosophischen gab es nur wenige völkerpsychologische Themen.[14]
Politik

Wundt war Mitbegründer des Vereins deutscher Arbeitervereine. Er war Mitglied der Badischen Fortschrittspartei und gehörte als Vertreter Heidelbergs der Zweiten Kammer der Badischen Ständeversammlung von 1866 bis 1869 an. Tätigkeitsbereiche Wundts waren: Rechtlicher Status von Studierenden; Schulreform; Kommissionsbericht über den Gesetzesentwurf, die Rechtsverhältnisse der Studierenden an den beiden Landesuniversitäten betreffend. Das Mandat legte er 1869 nieder, wobei politische Angriffe und Arbeitsbelastung eine Rolle gespielt haben (siehe Autobiographie: Erlebtes und Erkanntes, 1920).

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs unterschrieb Wundt, wie Max Planck, Edmund Husserl und insgesamt ca. 3.000 andere Personen, die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches. Eine Interpretation dieses Aufrufs verlangt, den zeitgeschichtlich-politischen Zusammenhang zu untersuchen. Drei politische Schriften Wundts in jener Zeit wirken sehr patriotisch, sie sind im Glauben an die Überlegenheit der deutschen Kultur geschrieben und wirken aus heutiger Sicht national übersteigert, aber zum Teil auch abwägend und inzwischen sehr ferngerückt, wenn es um Fichtes Begriff des wahrhaften Krieges in den Deutschen Freiheitskriegen und um das Schicksal der deutschen Philosophie geht. Inhaltlich berühren sich diese Reden nur wenig mit ähnlichen Bemerkungen zur deutschen Kultur und zu den Zukunftsaufgaben der Philosophie in Wundts Autobiographie Erlebtes und Erkanntes, 1920. Wilhelm Wundts national-patriotische Einstellung darf nicht mit der nationalistischen und später nationalsozialistischen und antisemitischen Haltung seines Sohnes Max Wundt verwechselt werden.
Ehrungen

1876 Verleihung des Dr. phil. h.c. der Universität Leipzig
1887 Verleihung des Dr. jur. h.c. der Universität Göttingen
1888 Ernennung zum Königlich Sächsischen Geheimen Hofrat
1902 Ehrenbürger der Stadt Leipzig
1907 Ehrenbürger der Stadt Mannheim
1912 Ernennung zum Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste
Ehrenmitglied in 12 wissenschaftlichen Gesellschaften im Inland und Ausland
auswärtiges bzw. korrespondierendes Mitglied von 13 Akademien im Inland und Ausland[15]
kein Mitglied oder Ehrenmitglied der 1904 gegründeten „Gesellschaft für experimentelle Psychologie“
Namensgeber für die Asteroiden (635) Vundtia und (11040) Wundt.

Werk
Übersicht

Wilhelm Wundt 320px-Wundt_illusion.svg
Sogenannte „Wundt Illusion“ (die roten Linien sind parallel)

Wundt hat in seinem Forschungsprogramm eine umfassende Wissenschaftskonzeption der Psychologie ausgearbeitet, die sich von der Psychophysik der Sinnesempfindungen, Aufmerksamkeit und Bewusstsein, Psychophysiologie der Emotionen, und einer umfangreichen Neuropsychologie bis zur Sprachpsychologie, Religionspsychologie und anderen Themen der Kulturpsychologie (Völkerpsychologie) erstreckte. Seine empirische Psychologie und Methodenlehre sind eng verknüpft mit seiner Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie der Psychologie. Mit seiner später ausgearbeiteten Ethik und seinem metaphysischen Voluntarismus entstand ein einheitlich konzipiertes System.
Physiologie

Von 1853 an veröffentlichte Wundt zahlreiche Aufsätze zur Physiologie, speziell zur experimentellen Neurophysiologie, Muskelphysiologie und Sinnesphysiologie, u. a. zur Raumwahrnehmung, zur visuellen Wahrnehmung und zu optischen Täuschungen (siehe Abbildung). Neben Aufsätzen in Fachzeitschriften schrieb Wundt auch viele Beiträge für ein breiteres Publikum. Er verfasste ein Lehrbuch der Physiologie und ein Handbuch der Medizinischen Physik und unterrichtete Medizinstudenten im Praktikum. In seiner Forschung zur Sinnesphysiologie stieß er auf Sachverhalte, die psychologische Erklärungen in der Theorie der Sinneswahrnehmung verlangten.
Psychologie
Ausgangslage

Wundt musste der Kontrast zwischen der experimentellen Forschung im physiologischen Labor und der spekulativen Psychologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr deutlich sein. Er hatte Maßstäbe ausbilden können, u. a. als Assistent des sehr genau arbeitenden Hermann von Helmholtz. Wundts Anspruch an wissenschaftliche Forschung und notwendige Methodenkritik wird deutlich, wenn er von der Redeweise gewöhnlicher Leute,[16] die sich nur auf ihre persönliche Lebenserfahrung berufen, schreibt, oder den Einfluss der unkritischen Vulgärpsychologie auf psychologische Interpretationen nennt.[17][18]

In Gustav Theodor Fechner sah Wundt den Vater der Psychophysik und den hoffnungsvollen Beginn der experimentellen Psychologie. In dessen mathematisch formulierten Gesetzen, denen zufolge zwischen der eben merklichen Veränderung einer Empfindung und den Intensitätszuwächsen der sensorischen Reize eine logarithmische Beziehung besteht, meinte Wundt den Beweis zu sehen, dass die innere Erfahrung des Menschen experimentell untersucht werden kann. Johann Friedrich Herbarts Verdienste um die abstrakte psychologische Analyse der Vorstellungen würdigte Wundt, doch kritisierte er bei Herbart die metaphysisch verankerten Ableitungen und das Fehlen empirischer Untersuchungen.
Hauptwerke

Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung (1862)

Die Wendung des Physiologen Wundt zum Experimentalpsychologen ist in seinem Buch zur Theorie der Sinneswahrnehmung zu erkennen. „Warum folgt die Psychologie nicht dem Beispiel der Naturwissenschaften? Es ist eine Lehre, die auf jeder Seite die Geschichte der Naturwissenschaften uns einprägt, dass die Fortschritte jeder Wissenschaft innig an den Fortschritt der Untersuchungsmethoden gebunden sind.“[19] Mit dieser Feststellung will er jedoch keinesfalls die Psychologie als reine Naturwissenschaft bestimmen: Die Psychologen sollen zwar von den Fortschritten der naturwissenschaftlichen Methoden lernen, aber: „Es sind zwei Wissenschaften, die in dieser Hinsicht der allgemeinen Psychologie zu Hilfe kommen müssen: die Entwicklungsgeschichte der Seele und die vergleichende Psychologie. Jene hat die allmähliche Ausbildung des Seelenlebens beim Menschen zu verfolgen, diese hat die Verschiedenheiten desselben darzustellen in der Tierreihe und in den Völkerrassen des Menschengeschlechts.“[20] „So werden wir, von welcher Seite wir auch eine psychologische Untersuchung in Angriff nehmen mögen, immer wieder auf den Punkt zurückgeführt, von dem wir ausgingen, auf die Verbesserung der Methodik.“[21]


Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele (1863)

Wundts Forschungsprogramm und sein theoretisch umfassender Horizont sind in den zweibändig publizierten Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele zu erkennen. In diesem populären Werk sind bereits alle psychologischen Interessengebiete Wundts enthalten:

die Allgemeine Psychologie (bei Wundt vom heutigen Sprachgebrauch abweichend als Individualpsychologie bezeichnet), d. h. Gebiete wie Empfindung, Aufmerksamkeit, Apperzeption, Wille, Gefühl und Affekt
die Kulturpsychologie (bei Wundt Völkerpsychologie, jedoch nicht als Völkerkunde, sondern als Entwicklungstheorie des menschlichen Geistes verstanden)
Tierpsychologie
Neuropsychologie

Die Programmatik des 30-jährigen Wundt (1862, 1863) wird zu einem nahezu sechs Jahrzehnte währenden Forschungsprogramm ausgestaltet. Dreißig Jahre später veröffentlichte Wundt (1892) eine zweite, gekürzte und umgearbeitete Auflage dieser Vorlesungen mit einem selbstkritischen Vorwort. Die als zu vorläufig erkannten Kapitel zur Völkerpsychologie werden ausgeklammert und später zu einer zehnbändigen Völkerpsychologie ausgearbeitet.


Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874)

Dieses Lehrbuch (7. Auflage 1923) über Allgemeine Psychologie ist Wundts bekanntestes Lehrbuch. Er will zwei Wissenschaften miteinander in Verbindung bringen. „Die Physiologie gibt über jene Lebenserscheinungen Aufschluss, welche sich durch unsere äußeren Sinne wahrnehmen lassen. In der Psychologie schaut der Mensch sich selbst gleichsam von innen an und sucht sich den Zusammenhang derjenigen Vorgänge zu erklären, welche ihm diese innere Beobachtung darbietet.“[22]

„Mit zureichender Sicherheit lässt sich wohl der Satz als begründet ansehen, dass sich nichts in unserem Bewusstsein ereignet was nicht in bestimmten physiologischen Vorgängen seine körperliche Grundlage fände.“[23] Der physiologischen Psychologie weist Wundt die Aufgabe zu: „erstlich diejenigen Lebensvorgänge zu erforschen, welche, zwischen äußerer und innerer Erfahrung in der Mitte stehend, die gleichzeitige Anwendung beider Beobachtungsmethoden, der äußeren und der inneren, erforderlich machen, und zweitens von den bei der Untersuchung dieses Gebietes gewonnenen Gesichtspunkten aus die Gesamtheit der Lebensvorgänge zu beleuchten und auf solche Weise wo möglich eine Totalauffassung des menschlichen Seins zu vermitteln.“ „Das Attribut ‚physiologisch‘ will nicht sagen, dass sie … [die physiologische Psychologie] … die Psychologie auf Physiologie zurückführen wolle – was ich für ein Ding der Unmöglichkeit halte –, sondern dass sie mit physiologischen, d. h. experimentellen Hilfsmitteln arbeitet und allerdings mehr, als es in der sonstigen Psychologie zu geschehen pflegt, auf die Beziehungen der psychischen zu den physischen Vorgängen Rücksicht nimmt.“ „Will man auf die Eigenthümlichkeit der Methode das Hauptgewicht legen, so lässt daher unsere Wissenschaft als Experimentalpsychologie von der gewöhnlichen, rein auf Selbstbeobachtung gegründeten Seelenlehre sich unterscheiden.“[24] Die Grundzüge (1874) enthalten nach langen Kapiteln über Anatomie und Physiologie des Nervensystems fünf Abschnitte: die psychischen Elemente, die psychischen Gebilde, der Zusammenhang der psychischen Gebilde, die psychischen Entwicklungen, die Prinzipien und Gesetze der psychischen Kausalität.

Ein zentraler Begriff für Wundts Psychologie ist die Apperzeption, d. h. das Eintreten eines Bewusstseinsinhaltes in das Aufmerksamkeitsfeld. Er sieht darin – im Unterschied zur einfachen Assoziationspsychologie – eine elementare Aktivität des Subjekts, also den Willensakt, einen Inhalt aufmerksam ins Bewusstsein zu rücken. Insofern diese Aktivität für alle psychischen Prozesse typisch ist, sei es möglich, seine Sicht als voluntaristisch zu bezeichnen. Durch seine Forderung, psychische Vorgänge in ihre Elemente zu zergliedern, möchte Wundt keine reine Elementenpsychologie schaffen, denn die Elemente sollen zugleich aufeinander bezogen bleiben. Er beschreibt die sinnlichen Empfindungen mit den an sie gebundenen einfachen sinnlichen Gefühlen, Vorstellungen und Willensakten, und er erläutert Abhängigkeiten und Rückwirkungen, die z. T. ähnlich wie heutige Konzepte kognitiver Gefühlstheorien (Emotionen, Emotionstheorien) klingen. Wundt lehnte die verbreitete Assoziationstheorie ab, der zufolge psychische Verbindungen (Lernen, Assoziationspsychologie) hauptsächlich aufgrund der Häufigkeit und der Intensität bestimmter Vorgänge zustande kommen. Sein Begriff Apperzeptionspsychologie bedeutet, dass er die organisatorische Eigenaktivität und die kreativen Leistungen des Seelenlebens für wichtiger hält als die elementaren Bedingungen.


Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte (1900 bis 1920)

Ein weiteres Hauptwerk Wundts ist die zehnbändige Völkerpsychologie. Die Allgemeine Psychologie befasst sich – durch die unmittelbare Erfahrung der Bewusstseinsvorgänge – mit dem einzelnen Bewusstsein, als sog. Individual-Psychologie. Demgegenüber soll die Völkerpsychologie die allgemeinen psychischen Entwicklungsgesetze der höheren geistigen Prozesse aufzeigen: die Entwicklung des Denkens, die Sprache, die künstlerische Phantasie, Mythos, Religion, Sitte, das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, die geistige Umgebung und die Entstehung der geistigen Werke der Gemeinschaft.

„Nun kann schon die allgemeine Psychologie nicht ganz an der Tatsache vorübergehen, dass das Bewusstsein des Einzelnen unter dem Einfluss seiner geistigen Umgebung steht. Überlieferte Vorstellungen, die Sprache und die in ihr enthaltenen Formen des Denkens, endlich die tiefgreifenden Wirkungen der Erziehung und Bildung, sie sind Vorbedingungen jeder subjektiven Erfahrung. Diese Verhältnisse bedingen es, dass zahlreiche Tatsachen der Individualpsychologie erst von der Völkerpsychologie aus unserem vollen Verständnis zugänglich werden.“[25] „Indem die Völkerpsychologie den Menschen in allen Beziehungen, die über die Grenzen des Einzeldaseins hinausreichen und auf die geistige Wechselwirkung als ihre allgemeine Bedingung zurückführen, zu ihrem Gegenstand nimmt, bezeichnet nun aber freilich jener Name nur unvollständig ihren Inhalt. Der Einzelne ist nicht bloß Mitglied einer Volksgemeinschaft. Als nächster Kreis umschließt ihn die Familie; durch den Ort, den Geburt und Lebensschicksal ihm anweisen, steht er inmitten noch anderer mannigfach sich durchkreuzender Verbände, deren jeder wieder von der erreichten besonderen Kulturstufe mit ihren Jahrtausende alten Errungenschaften und Erbschaften abhängt.“[26]

In dem umfangreichen Werk der Völkerpsychologie stellte Wundt eine überwältigende Vielfalt von Quellen zusammen, um die geistigen Leistungen der Gemeinschaft darzustellen und die Wechselwirkung von Individuum und kultureller Gemeinschaft zu einem Thema zu machen. Wundt übernahm den Begriff Völkerpsychologie von der durch Moritz Lazarus und Heymann Steinthal gegründeten Zeitschrift Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Deren Absicht war, von verschiedenen Seiten her den Einfluss von Sprache, Religion, Sitte auf die geistige Entwicklung des Menschen zu einem Gesamtbild zu vereinigen. Wundt klammerte die ethnologischen Untersuchungen zur Charakteristik der verschiedenen Völker, geschichtliche Vorgänge, lokale und nationale Unterschiede und alle Erscheinungen aus, die durch das „persönliche Eingreifen Einzelner zu Stande kommen“. Deshalb gehört „die Geschichte der geistigen Erzeugnisse in Literatur, Kunst und Wissenschaft nicht zur Völkerpsychologie.“[27] Es geht allein um die gemeinsamen Erzeugnisse, an der eine unbestimmt große Anzahl von Menschen tätig waren, sodass „allgemeingültige Entwicklungsgesetze“ zu erkennen sind. „Die Völkerpsychologie dagegen hat ihr Augenmerk ausschließlich auf die psychologischen Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens selber gerichtet.“[28] Als Titel hatte Wundt auch Gemeinschaftspsychologie, Sozialpsychologie, Soziale (Soziologische) Anthropologie erwogen. Kulturpsychologie ist aus heutiger Sicht der treffendste Begriff für diese gemeinsame geistige Welt und die psychologische Entwicklungstheorie des menschlichen Geistes.
Leitideen

In Wundts Werk zeichnen sich übergeordnete Leitideen ab:

Entwicklungspsychologie des menschlichen Geistes: Die fundamentale Aufgabe ist, eine umfassende Entwicklungstheorie des Geistes von der Tierpsychologie bis zu den höchsten kulturellen Leistungen in Sprache, Religion und Ethik zu erarbeiten (Probleme der Völkerpsychologie, 1911). Wundt hat im Unterschied zu anderen Denkern seiner Zeit keine Schwierigkeiten, den geisteswissenschaftlichen Entwicklungsgedanken im Sinne von Hegel und Herder mit der biologischen Abstammungslehre von Charles Darwin zu verbinden.
Apperzeption: Die Apperzeption ist Wundts zentrales theoretisches Konzept. Er lehnt sich an die von Leibniz und Kant entwickelte philosophische Auffassung an, Bewusstsein allgemein als Synthese zu begreifen, entwickelt daraufhin psychologische Konzepte und wendet experimentalpsychologische Methoden wie die mentale Chronometrie komplexer Reaktionszeiten an, um den apperzeptiven Prozess zu analysieren. Apperzeption bezeichnet hier eine Reihe von theoretischen Annahmen über den integrativen Prozess der Bewusstseinstätigkeit, d. h. selektive Steuerung der Aufmerksamkeit, aktive kognitive, emotionale und volitionale Integrationsleistungen, und die Einleitung von Handlungstendenzen (siehe Volitionspsychologie, Wille ). In Wundts eigener neuropsychologischer Konzeption werden die apperzeptiven Leistungen fronto-kortikalen Strukturen im Nervensystem zugeschrieben – im Einklang mit heutigen Vorstellungen.
Psychologische Anthropologie: In seiner Einleitung in die Philosophie schreibt Wundt,Anthropologie sei die Lehre von der psycho-physischen Natur des Menschen, wo sie Physiologie und Psychologie voraussetzt und dadurch zugleich ein Übergangsglied zur Geistesphilosophie bildet.[29] – Wundts Gesamtwerk kann als eine interdisziplinär ausgerichtete Anthropologie mit psychologischem Fundament verstanden werden.
Kritischer Realismus: Wundt stellt fest, dass die Psychologie eine der Naturwissenschaft koordinierte Erfahrungswissenschaft ist, und dass sich die Betrachtungsweisen beider in dem Sinne ergänzen, dass sie zusammen erst die uns mögliche Erfahrungserkenntnis erschöpfen.[30] Seine Auffassung sei frei von Metaphysik, sei aber gewissen erkenntnistheoretischen Vorbegriffen verpflichtet, u. a. der Unterscheidung von Subjekt und Objekt in der Wahrnehmung und dem Prinzip der kausalen Verknüpfung, d. h. dem psychischen Kausalprinzip sowie der Naturkausalität.[31] Mit seinem Begriff des kritischen Realismus grenzt sich Wundt (1896–1898) von anderen philosophischen Positionen ab.


Postulate

Psychisches ist ein veränderlicher Bewusstseinsprozess ohne ein überdauerndes, transzendentes Seelenprinzip. Das Seelische (Geistige) ist nicht strukturell oder gar substantiell zu bestimmen, sondern nur als Aktualität, als unmittelbare Wirklichkeit des Geschehens in der psychologischen Erfahrung[32] Seele ist ein Ausdruck für die in beständigem Flusse befindliche innere Erfahrung. Dieses Postulat der Aktualität ist für das Verständnis seiner Psychologie an erster Stelle zu nennen. Es hat weitreichende theoretische Konsequenzen für die Definition der Psychologie, denn die Verbindungen des Bewusstseins, d. h. die aktiv organisierenden Prozesse, werden nicht mehr durch einen zugrundeliegenden Träger erklärt.


Kategorienlehre

In seiner Logik schreibt Wundt ausführlich über die traditionelle philosophische Lehre von den Kategorien, d. h. auch über Aktualität und Substanzialität, über Kausalität und Finalität als zwei Aspekte des Satzes vom zureichenden Grund. Die speziellen, für die Psychologie fundamentalen Kategorien erläutert er an verschiedenen Stellen: den Subjektbezug, die Wertbestimmung (Wertorientierung), die Zwecksetzung und die Willenstätigkeit (Ueber psychische Causalität und das Princip des psycho-physischen Parallelismus, 1894). Er verwendet häufiger die Formulierung der Mensch als wollendes und denkendes Subjekt,[33] um die Gemeinsamkeit mit den Geisteswissenschaften und den kategorialen Unterschied zu den Naturwissenschaften zu kennzeichnen.


Psychophysischer Parallelismus: Naturkausalität gegenüber psychischer Kausalität

Wundt stellt fest: … überall wo regelmäßige Beziehungen zwischen psychischen und physischen Erscheinungen bestehen, sind beide weder identisch noch ineinander transformierbar, denn sie sind an sich unvergleichbar; aber sie sind einander in der Weise zugeordnet, dass gewissen psychischen gewisse physische Vorgänge regelmäßig entsprechen oder, wie man bildlich ausdrückt, ‚einander parallel‘ gehen.[34] Statt aber, wie andere, bei dieser Position stehen zu bleiben, untersucht Wundt die Konsequenzen. Die innere Erfahrung hat zwar ihre Grundlage in den Funktionen des Gehirns, aber es gibt keine körperlichen Ursachen psychischer Veränderungen. Wenn psychische Zustände nur aus psychischen Zuständen entstehen, dann ist eine psychische Kausalität zu postulieren. Die psychische und die physische Kausalität sind jedoch nicht im dualistisch-metaphysischen Sinne einander entgegengesetzt, sondern hängen vom Standpunkt der Betrachtung ab (Wundt, 1894; 1897; 1902–1903, Band 3). Kausale Erklärungen in der Psychologie müssen sich damit begnügen, zu den Wirkungen die vorausgegangenen Ursachen aufzusuchen, ohne genaue Vorhersagen ableiten zu können. Ausführlich beschreibt Wundt am Beispiel der Willenshandlungen die mögliche Umkehrung der Betrachtung von Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, und erläutert, wie sich kausale und teleologische Erklärungen zu einer koordinierten Betrachtung ergänzen können.
Definition der Psychologie

Wundt stellt sich der Aufgabe, das weite Feld der Psychologie zwischen Philosophie und Physiologie, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, neu zu bestimmen. An die Stelle der metaphysischen Bestimmung als Seelenlehre tritt die wissenschaftstheoretisch unterlegte Definition der Psychologie als Bewusstseinspsychologie mit eigenständigen Kategorien und Erkenntnisprinzipien. Psychologie befasst sich mit der gesamten Erfahrung in ihrer unmittelbaren subjektiven Wirklichkeit.[35] Wundt bestimmt die Psychologie als empirische Disziplin. Die Aufgabe der Psychologie sei es, die Bewusstseinsvorgänge exakt zu analysieren, die elementaren Empfindungen zu messen, die zusammengesetzten Bewusstseinsvorgänge und komplexen Wechselwirkungen zu zergliedern, und die Gesetze jener Beziehungen aufzufinden.

Psychologie ist keine Wissenschaft der individuellen „Seele“

Das Leben ist ein einheitlicher, psychischer und physischer, Ablauf, der auf unterschiedliche Weise betrachtet werden kann, um allgemeine Gesetzmäßigkeiten, insbesondere die psychologisch-historischen und die biologischen Entwicklungsgesetze zu erkennen. Wundt widerspricht energisch der seit Johann Friedrich Herbart mächtigen Tradition, vor allem im Sinne einer einseitig intellektuellen, kognitiven und mathematischen Psychologie zu denken. Wundt verlangt, die emotionalen und die willentlichen Funktionen, neben den kognitiven, als gleich wichtige Aspekte eines einheitlichen und auch psychophysischen Prozesses zu begreifen. Nicht die einzelnen Elemente, sondern die beziehenden Verknüpfungen in den apperzeptiven Leistungen und in der willentlichen Ausrichtung des Bewusstseinsprozesses bilden Wundt zufolge das Hauptthema der Psychologie: in der Allgemeinen Psychologie sowie in der kulturellen Entwicklung. Wundt stammte aus einem protestantischen Pfarrhaus und hat sich autobiographisch nur knapp zu religiösen Überzeugungen geäußert (Erlebtes und Erkanntes, 1920). Einige Hinweise sowie Stellungnahmen in seiner Ethik lassen jedoch erkennen, dass er außerhalb des traditionellen Seelenglaubens und des Glaubens an einen persönlichen Gott stand. Diese Auffassung hat weitreichende Konsequenzen für das Menschenbild und für die Ethik, denn hier gibt es keine Letztbegründung mehr aus Gott oder einem anderen Absoluten. Wundts Verleugnung der Seele führte damals zu mehreren polemischen Entgegnungen von Anhängern der christlich orientierten Psychologie und Philosophie, u. a. von Besser, Gutberlet, Klimke, Rabus und Sommer (Fahrenberg, 2011).

Psychologie kann nicht auf Physiologie reduziert werden

Die Hilfsmittel der Physiologie bleiben grundsätzlich unzureichend für die Aufgabenstellung der Psychologie. Ein solches Beginnen sei sinnlos, „weil es dem Zusammenhang der psychischen Vorgänge selbst verständnislos gegenüberstehen würde, auch wenn uns der Zusammenhang der Gehirnvorgänge so klar vor Augen stünde wie der Mechanismus einer Taschenuhr.“[36]

Psychologie ist Bewusstseinspsychologie

Dass die Psychologie eine Psychologie des Bewusstseins sein muss, ist Wundt aus erkenntnistheoretischen und methodologischen Gründen evident. Unbewusste psychische Vorgänge zum Thema der wissenschaftlichen Psychologie zu machen, lehnt Wundt mehrfach ab. Zu seiner Zeit gab es, noch vor Sigmund Freud, einflussreiche Autoren wie den Philosophen Eduard von Hartmann (1901), der eine Metaphysik „des Unbewussten“ postulierte. Wundt hat zwei grundsätzliche Einwände. Er lehnt jede primär metaphysisch begründete Psychologie ab, und er sieht keinen zuverlässigen methodischen Zugang. Auch seine anfänglichen Annahmen über „unbewusste Schlüsse“ revidierte er bald (Araujo, 2011). Für Wundt wäre es ebenso ein Missverständnis gewesen, Psychologie als eine Verhaltenswissenschaft im Sinne des späteren, strikten Behaviorismus zu definieren. Im Leipziger Labor wurde bereits eine Vielzahl behavioraler und physiologischer Variablen beobachtet oder gemessen. Diesen methodischen Ansatz einseitig weiterzuentwickeln hätte jedoch letztlich zu einer Verhaltensphysiologie geführt und nicht zu einer Allgemeinen Psychologie und Kulturpsychologie.

Psychologie ist empirische Geisteswissenschaft

Wundt ist von der dreifachen Stellung der Psychologie überzeugt:

als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung steht sie den Naturwissenschaften gegenüber, die sich auf mittelbare Erfahrungsinhalte beziehen und vom Subjekt abstrahieren
als Wissenschaft von den allgemeingültigen Formen unmittelbarer menschlicher Erfahrung und ihrer gesetzmäßigen Verknüpfung ist sie die Grundlage der Geisteswissenschaften
unter allen empirischen Wissenschaften ist sie diejenige, deren Ergebnisse zunächst der Untersuchung der allgemeinen Probleme der Erkenntnistheorie wie der Ethik, der beiden grundlegenden Gebiete der Philosophie, zu statten kommen.[37]

Methodenlehre und Strategien

Vermöge ihrer Stellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften verfügt in der Tat die Psychologie über einen großen Reichtum methodischer Hilfsmittel. Während ihr auf der einen Seite die experimentelle Methode zur Verfügung steht, bieten sich ihr auf der anderen Seite in den objektiven Geisteserzeugnissen zahlreiche Gegenstände einer vergleichenden psychologischen Analyse[38]

Methoden der experimentellen Psychologie

Die experimentelle Psychologie in Leipzig stützte sich hauptsächlich auf vier Methodentypen: Die Eindrucksmethoden mit den verschiedenen Maßmethoden der Empfindungsstärke in der sensorischen Psychophysik, d. h. auf die geschulte Selbstbeobachtung unter experimenteller Kontrolle; die Reaktionsmethoden zur Chronometrie in der Psychologie der Aufmerksamkeit und Apperzeption; die Ausdrucksmethoden mit Beobachtungen und physiologischen Messungen in der Gefühlsforschung; die Reproduktionsmethoden in der Forschung über Gedächtnis (Wundt, 1902–1903; Wontorra, 2009). Untersuchungen, die Selbstbeurteilungen, beispielsweise wie bei Karl Bühler über den Ablauf des Denkens, verlangten, lehnt Wundt (1907, 1908) als Ausfrageexperimente scharf ab. Demgegenüber sieht er in den Methoden seiner Sprachpsychologie einen adäquaten Weg denkpsychologischer Forschung. An den Wechselbeziehungen innerhalb der Gemeinschaft bzw. zwischen Individuum und Gemeinschaft ist Wundt grundsätzlich interessiert (Graumann, 2006), aber es mangelt noch an direkten Untersuchungsmethoden.

Vergleichende psychologische Analyse und Interpretation

Die Grundsätze der völkerpsychologischen Methodik werden erst später ausgearbeitet. Es geht um die analytische und vergleichende Beobachtung von objektiv vorliegendem Material, d. h. Historischem, Sprache, Werke, Kunst, Berichten und Beobachtungen über menschliches Verhalten in früheren Kulturen, seltener um direktes ethnologisches Quellenmaterial. Demnach verfügt die Psychologie, ähnlich der Naturwissenschaft, über zwei exakte Methoden: die erste, die experimentelle Methode, dient der Analyse der einfacheren psychischen Vorgänge; die zweite, die Beobachtung der allgemeingültigen Geisteserzeugnisse, dient der Untersuchung der höheren psychischen Vorgänge und Entwicklungen.[39] Wundt unterscheidet zwei Zielsetzungen der vergleichenden Methode: Der individuelle Vergleich sammelt alle wichtigen Merkmale des Gesamtbildes eines Beobachtungsgegenstandes, und der generelle Vergleich bildet auf dieser Grundlage ein Bild der Variationen, d. h. Einzelfallbetrachtung und Variationslehre. Seine Methodik der kritischen Interpretation geistiger Werke entwickelt Wundt erst in der 3. und 4. Auflage seiner Logik. Es ist die erste Interpretationslehre, die von einem Psychologen verfasst wird (Fahrenberg 2008).

Über die Methodik der Interpretation schreibt Wundt: Als Interpretation bezeichnen wir daher allgemein den Inbegriff der Methoden, die uns ein Verständnis geistiger Vorgänge und geistiger Schöpfungen verschaffen sollen.[40] Wundt bezieht sich durchaus auf die Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, legt jedoch dar, dass der Interpretationsprozess in seiner typischen Hin- und Herbewegung außer den logischen Schritten und fachspezifischen Elementen grundsätzlich auch psychologischen Prinzipien folgt. Zu dem charakteristischen Verfahren der Geisteswissenschaften wird die Interpretation erst durch die Kritik. Sie ist ein der Interpretation entgegengesetztes Verfahren, den hergestellten Zusammenhang durch psychologische Analyse zu zerlegen. Sie geht äußeren oder inneren Widersprüchen nach, sie soll die Echtheit geistiger Erzeugnisse bewerten und ist außerdem Wertkritik und Kritik der Meinungen. Die typischen Irrtümer der intellektualistischen, individualistischen und unhistorischen Interpretation geistiger Vorgänge, haben sämtlich in der gewöhnlich der subjektiven Beurteilung zugrunde liegenden vulgären Psychologie ihre Quelle.[41]

Methodenpluralismus

Das breite Spektrum der von Wundt verwendeten Methoden repräsentiert einen Pluralismus der Methoden in drei Bereichen: (1) der Experimentallehre mit der geschulten und kontrollierten Selbstbeobachtung; (2) den ergänzenden Messungen zeitlicher Abläufe, Leistungen und physiologischer Begleitvorgänge; (3) der vergleichenden Analyse und der Interpretation des vielgestaltigen Materials der Kulturpsychologie. Wundt fordert Perspektivität und Methodenpluralismus, vertritt aber keinen dogmatischen methodologischen Dualismus mit einer Entscheidung zwischen experimentell-statistischen Methoden und interpretativen Methoden. So enthalten z. B. die Kapitel über Sprachentwicklung oder über Phantasietätigkeit der Kulturpsychologie auch experimentelle, statistische und auch physiologische Untersuchungsbefunde (Meischner-Metge, 2006). Sein Plädoyer für eine multi-methodische Psychologie auf hohem Anspruchsniveau ragt aus den auch damals verbreiteten Kontroversen heraus, denn Wundt erreicht eine neue Stufe, indem er Experiment, Beobachtung, Vergleich und Interpretation zu grundlegenden und unverzichtbaren Methoden der wissenschaftlichen Psychologie erklärt. Er ist mit diesen Methoden sehr gut vertraut und ist diesen Forschungswegen in ausgedehnten Vorhaben gefolgt. Dies ist ohne Vorbild und seitdem – aus unterschiedlichen Gründen – von einem einzelnen Forscher kaum mehr erreicht worden.

Methodisches Anspruchsniveau

Die Psychologie ist eine empirische Wissenschaft und muss sich um systematisches Vorgehen, Überprüfung der Ergebnisse und Methodenkritik bemühen. So ist die Selbstbeobachtung gründlich zu schulen und sie ist nur unter strikten Bedingungen zuverlässig. Wundt (1907, 1921) gab eine Standarddefinition des psychologischen Experiments. Einen wesentlichen Einfluss hat die Auseinandersetzung mit Immanuel Kant (Wundt, 1874). Kant hatte die Annahme der Messbarkeit von Bewusstseinsvorgängen abgelehnt und eine fundierte, wenn auch sehr knappe Methodenkritik der Selbstbeobachtung gegeben: hinsichtlich der methodenbedingten Reaktivität, der Beobachtungstäuschungen, der verfälschenden Gewohnheiten der Untersuchten und der zweifelhaften Mitwirkung unabhängig denkender Menschen (Kant, 1798/1983). Wundt äußerte sich jedoch optimistisch, dass methodische Verbesserungen abhelfen können. Später räumte er ein, dass Messung und Mathematik nur auf sehr elementare Bewusstseinsvorgänge anwendbar sind. Auch statistische Methoden haben nur sehr begrenzten Wert, beispielsweise in der Psychophysik und bei der Auswertung von Bevölkerungsstatistiken. Nur bei Umfragen sieht er einen Nutzen der damals entstehenden Methode der Fragebogen, die er auf anderen Gebieten ablehnt. Wundt betont häufig die Aufgabe, Gesetze der Bewusstseinsvorgänge und der kulturellen Entwicklung zu erkennen, zog jedoch später den Begriff der Gesetzlichkeit vor, denn es gibt singuläre Ereignisse und schöpferische Vorgänge.
Philosophie
Einzelwissenschaften und die Philosophie

Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip. Ein Kapitel aus einer Philosophie der Naturwissenschaften (1866)

In dieser ersten erkenntnistheoretischen Abhandlung geht es um die Fassungen und definitorischen Varianten von sechs physikalischen Axiomen der Mechanik. Hier zeigt sich Wundts Stil des Philosophierens. Er geht auf die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Axiome ein und nimmt neben dem Standpunkt der Physik auch den Standpunkt der Psychologie ein, indem er, insbesondere beim Kausalprinzip, auf die unmittelbare Anschauung des Erfahrenden eingeht.

Beide Antrittsvorlesungen Wundts haben die Verbindung der Einzelwissenschaften mit der Philosophie zum Thema: Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart, in Zürich 1874, und Über den Einfluss der Philosophie auf die Einzelwissenschaften, in Leipzig 1875. Diese Fragen waren wegen des Vordringens der Naturwissenschaften und der Aufgliederung der Fakultäten aktuell – auch für die Einordnung der neuen Psychologie. Wundt sprach von einem Zustand der Gärung in der Philosophie: die eine Seite meine, die Philosophie habe ihre Rolle ausgespielt und müsse den Erfahrungswissenschaften Platz machen, andererseits gebe es eifrige Verfechter von spekulativen Systemen der Philosophie als echter Wissenschaft. Demgegenüber sei in den Einzelwissenschaften eine philosophische Bewegung entstanden, welche vielleicht bedeutungsvoller ist als alles was sich gegenwärtig auf dem Gebiet der eigentlichen Fachphilosophie ereignet.[42] Überall in den Fachwissenschaften werden philosophische Fragen laut. Aus der Physiologie der Sinneswerkzeuge hat sich allmählich durch Übertragung naturwissenschaftlicher Beobachtungs- und Versuchsmethoden auf die innere Erfahrung die neue Wissenschaft der experimentellen Psychologie entwickelt, die in ihrem ganzen Wesen nach dazu berufen scheint, die Vermittlerin zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu bilden.[43] Die Philosophie hat dabei die allgemeinen Ergebnisse der Wissenschaften zu prüfen und die wissenschaftlichen Methoden und Prinzipien zu entwickeln … als Wissenschaft der Wissenschaften[44]

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Hauptwerke

Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens (1886)

Das folgende Werk unternimmt es, die Probleme der Ethik in unmittelbarer Anlehnung an die Betrachtung der Tatsachen des sittlichen Lebens zu untersuchen. Der Verfasser hat dabei zunächst die Absicht verfolgt, den Weg, auf dem er selbst zu den ethischen Fragen gekommen auch den Leser zu führen; er ist aber außerdem der Meinung, dass dieser Weg derjenige sei, auf welchem überhaupt eine empirische Begründung der Ethik gesucht werden müsse. An spekulativen wie an psychologischen Bemühungen hat es ja auf diesem Gebiete nicht gemangelt, und ich bin gern bereit, beiden ihre Berechtigung einzuräumen. Aber was die Metaphysik betrifft, so meine ich, es sei die Ethik, die zu den Fundamenten einer allgemeinen Weltanschauung die wichtigsten Grundsteine beizutragen habe, und eben deshalb sei es nicht ersprießlich, die Verhältnisse umzukehren und die Moralphilosophie ihrerseits auf Metaphysik zu gründen. Die Psychologie ist mir selbst eine so wichtige Vorschule und ein so unentbehrliches Hilfsmittel ethischer Untersuchungen gewesen, dass ich nicht begreife, wie man auf dasselbe verzichten mag. Als die eigentliche Vorhalle zur Ethik betrachte ich die Völkerpsychologie, der neben anderen Aufgaben insbesondere auch die zukommt, die Geschichte der Sitte und der sittlichen Vorstellungen unter psychologischen Gesichtspunkten zu behandeln.[45] Wundt sieht zwei Wege: den Weg der anthropologischen Untersuchung von Tatsachen des sittlichen Lebens (im Sinne der Völkerpsychologie) und die wissenschaftliche Reflexion über die Sittlichkeitsbegriffe. Die abgeleiteten Prinzipien sind auf verschiedenen Gebieten zu prüfen: Familie, Gesellschaft, Staat, Pädagogik usw. Wundts Ethik kann, vereinfacht gesagt, als ein Vermittlungsversuch zwischen Kants Apriorismus und dem Empirismus interpretiert werden. Die Sittengebote sind gesetzmäßige Ergebnisse der universellen geistigen Entwicklung, doch weder starr festgelegt, noch einfache Folgen der veränderlichen Lebensbedingungen. Individualismus und Utilitarismus werden strikt abgelehnt. Aus seiner Sicht kann allein das universelle geistige Leben als Selbstzweck gelten.

Die Idee der Humanität, dereinst in den Gestaltungen persönlichen Wohlwollens mehr instinktiv geübt als klar erfasst, hat erst in dem Bewusstsein eines Gesamtlebens der Menschheit, das fortan in der Geschichte sittliche Aufgaben löst, damit ihm neue gestellt werden, ihr eigentliches Objekt sich geschaffen. Jene Idee hat damit einen nie zu erschöpfenden Inhalt gefunden, aus dem sich ein Pflichtbewusstsein der Völker entwickelt, das den sittlichen Lebensaufgaben des Einzelnen Richtung und Ziel gibt.[46] Zu Menschenrechten und zur Humanitätsidee der Ethik hat sich Wundt (1889/2009) auch in seiner Rede als Rektor der Universität Leipzig im Jahrhundertjahr der Französischen Revolution 1887 geäußert.

Für Wundt sind die Fragen der Ethik eng verknüpft mit der empirischen Psychologie der Willenshandlungen (Grundzüge, 1902–1903, Band 3). In seiner Diskussion der Willensfreiheit (als Vermittlungsversuch zwischen Determinismus und Indeterminismus) unterscheidet er zwar auch kategorial zwischen zwei Perspektiven: es gibt die Naturkausalität der Gehirnvorgänge, doch die Bewusstseinsvorgänge sind nicht durch einen intelligiblen, sondern durch den empirischen Charakter des Menschen bestimmt – die Willenshandlungen unterliegen den Prinzipien der psychischen Kausalität. Auch aus psychologischer Sicht würden eingetretene Handlungen aus der vorhergegangenen Willensentwicklung bestimmt. Den empirischen Charakter sieht Wundt als den Effekt einer Summe kausaler Bedingungen, wobei jede Willenshandlung eine Disposition zu ähnlichen Willensrichtungen hinterlässt, aber auch eine Selbsterziehung wirksam sein kann. Freiheit ist die Fähigkeit, durch selbstbewusste Motive unmittelbar in seinen Handlungen und nicht durch Zwang bestimmt zu sein. Seiner selbst bewusst sein, heißt also, in diesem Falle: der eigenen durch die vorangegangene Willensentwicklung bestimmten Persönlichkeit bewusst sein, und selbstbewusst handeln heißt: mit dem Bewusstsein der Bedeutung handeln, welche die Motive und Zwecke für den Charakter des Wollenden besitzen.[47] Der Mensch handelt im ethischen Sinne frei, wenn er nur der inneren Kausalität folgt, welche teils durch seine ursprünglichen Anlagen teils durch die Entwicklung seines Charakters bestimmt ist.[48]


System der Philosophie (1896)

Zum Thema Metaphysik nimmt Wundt drei Perspektiven ein: Er distanziert sich vom metaphysischen Begriff der Seele und von Postulaten über Struktur und Vermögen der Seele wie sie bei Herbart, Lotze und Fechner zu finden sind. Wundt folgt Kant und warnt vor einer primär metaphysisch begründeten, philosophisch deduzierenden Psychologie: wo man der Behandlung jedes einzelnen Problems den metaphysischen Standpunkt des Autors anmerkt, da handelt es sich nicht mehr um voraussetzungslose empirische Wissenschaft, sondern um eine metaphysische Theorie, zu deren Exemplifikation die Erfahrung dienen soll.[49]

Er ist überzeugt, dass in jeder einzelnen Wissenschaft allgemeine Voraussetzungen philosophischer Art enthalten sind. Überall führt die psychologische Untersuchung auf metaphysische Probleme hinaus. Aber zu deren Lösung bildet der Zusammenhang empirischer Tatsachen und Gesetze, zu denen sie gelangt, nur einen Teil der Vorbedingungen. Das übrige müssen Naturphilosophie und Kritik der Erkenntnis hinzutun. Denn die Begriffe der inneren Erfahrung sind durch die der äußeren mitbestimmt und verlangen mit diesen zusammen die Prüfung ihres Ursprungs und ihrer Berechtigung.[50] Die Erkenntnistheorie soll den Wissenschaften helfen, ihre metaphysischen Anteile aufzufinden, zu klären oder zu ergänzen und sich möglichst davon zu befreien. Die Psychologie und die anderen Wissenschaften sind hier stets auf die Hilfe der Philosophie und speziell auf die Logik und die Erkenntnistheorie angewiesen, andernfalls würde sich in den Einzelwissenschaften nur eine immanente Philosophie, d. h. metaphysische Annahmen mit unsystematischem Charakter, ausbilden.

Wundt behauptet, dass der Philosophie als allgemeiner Wissenschaft die Aufgabe zukommt, die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen.[51] Das Vernunftdenken des Menschen strebt nach einem einheitlichen, d. h. widerspruchsfreien Erklärungsprinzip für Sein und Bewusstsein, nach einer letzten Begründung der Ethik und nach einem philosophischen Weltgrund. Metaphysik ist der auf der Grundlage des gesamten wissenschaftlichen Bewusstseins eines Zeitalters oder besonders hervortretender Inhalte desselben unternommene Versuch, eine die Bestandteile des Einzelwissens verbindende Weltanschauung zu gewinnen. Die empirische Psychologie trägt nach Wundts Überzeugung über den engeren wissenschaftlichen Bereich hinaus auch Grundlegendes bei zur Auffassung des Menschen, zur Anthropologie und zur Ethik. So kann die Psychologie empirisch zu bestimmen versuchen, welche psychischen Funktionen den Zusammenhang des Bewusstseins und darüber hinaus den allgemeinsten Zusammenhang der Kultur und der geistigen Entwicklung der Menschen tragen. Von den aktiven und schöpferisch-synthetischen Apperzeptionsprozessen des Bewusstseins ausgehend sieht Wundt die einheitsstiftende Funktion in den Willensvorgängen und bewussten Zwecksetzungen und Handlungen. Auf der Grundlage seiner empirischen Psychologie entwickelt er einen psychologischen Voluntarismus und erweitert diesen später zu einem metaphysischen Voluntarismus (ähnlich Leibniz).

In unserer inneren Erfahrung würden wir dabei die Tätigkeit, das Tun, unmittelbarer dem Ich zuordnen als das Leiden. Diese für sich betrachtete Tätigkeit nennen wir unser Ich: Dieses Ich, isoliert gedacht von den Objekten, die seine Tätigkeit hemmen, ist unser Wollen. Es gibt schlechterdings nichts außer dem Menschen noch in ihm, was er voll und ganz sein Eigen nennen könnte, ausgenommen seinen Willen.[52] Wundt interpretiert die geistig-kulturelle Entfaltung und die biologische Evolution als einen allgemeinen Prozess der Entwicklung, wobei er jedoch nicht den abstrakten Ideen von Entelechie, Vitalismus, Animismus, und keineswegs Schopenhauers Willensmetaphysik folgen will. Er sieht den Ursprung der Entwicklungsdynamik in den psychologisch beschreibbaren, elementarsten Lebensäußerungen, in dem Reflex- und Instinktverhalten, und konstruiert ein Kontinuum von Aufmerksamkeitszuwendung und Apperzeptionsprozessen, Willenshandlungen bzw. Wahlakten, bis zu den gemeinschaftlichen Leistungen und ethischen Entscheidungen. Am Endpunkt dieser Vernunftidee erkennt er ein praktisches Ideal: die Humanitätsidee ist die höchste Richtschnur unseres Handelns und der Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte kann im Hinblick auf das Ideal der Humanität begriffen werden.

Wundt verlangt, dass der empirisch-psychologische und der abgeleitete metaphysische Voluntarismus auseinander gehalten werden sollten, und hält daran fest, dass seine empirische Psychologie unabhängig von den verschiedenen Lehren der Metaphysik entstanden sei. Da ich von den Naturwissenschaften ausgegangen und dann durch die Beschäftigung mit empirischer Psychologie zur Philosophie gekommen bin, so würde es mir unmöglich erscheinen, anders zu philosophieren als nach einer Methode, die dieser Folge der Probleme entspricht. Ich begreife aber ganz gut, dass sich die Sache für denjenigen anders verhalten mag, der mit der Philosophie anfängt, um dann von ihr aus gelegentliche Exkursionen auf naturwissenschaftliches oder psychologisches Gebiet zu unternehmen, oder vielleicht auch für den, der für ein spezielles Anwendungsgebiet, wie die Psychologie, bei irgendeinem der vorhandenen metaphysischen Systeme nach Anlehnung sucht.[53]


Logik: eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung (4. Aufl. 1919–1921)

Dieses dreibändige Werk gliedert sich in Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie, Logik der exakten Wissenschaften, Logik der Geisteswissenschaften. Die Logik, die Kategorienlehre, die Denkgesetze und andere Prinzipien werden von Wundt einerseits in traditioneller Weise dargestellt, andererseits auch aus der Sicht der Entwicklungstheorie des menschlichen Geistes betrachtet, d. h. denkpsychologisch und anwendungsbezogen diskutiert. Durch die anschließende gleichberechtigte Darstellung der speziellen Prinzipien der Natur- und der Geisteswissenschaften gelang Wundt eine in dieser umfassenden Weise neue Wissenschaftslehre. Zu den aktuell gebliebenen Gedanken gehören die erkenntnistheoretischen und methodologischen Ausführungen zur Psychologie: Aufgaben und Richtungen der Psychologie, die Methode der Interpretation und des Vergleichs, das psychologische Experiment.
Wissenschaftstheorie der Psychologie

Auf allgemeinste Voraussetzungen der empirischen Psychologie geht Wundt an vielen Stellen seines Gesamtwerks ein; er hat jedoch keine zusammenfassende Erkenntnistheorie und Methodenlehre der Psychologie verfasst. Seine Wissenschaftstheorie der Psychologie muss erst rekonstruiert werden.


Prinzipien der psychischen Kausalität

Mit diesen Prinzipien sind einfache, nicht weiter ableitbare Voraussetzungen der Verknüpfung seelischer Tatsachen gemeint. Die Prinzipienlehre hat mehrere, immer wieder überarbeitete Fassungen mit entsprechenden Entwicklungsgesetzen für die Kulturpsychologie (Wundt, 1874, 1894, 1897, 1902–1903, 1920, 1921). Wundt unterscheidet hauptsächlich vier Prinzipien und erläutert sie durch Beispiele, die aus der Sinnespsychologie, aus der Apperzeptionsforschung, Emotions- und Willenstheorie sowie aus der Kulturpsychologie und Ethik stammen.

(1) Das Prinzip der schöpferischen Synthese bzw. der schöpferischen Resultanten (Emergenzprinzip). Jede Wahrnehmung ist zerlegbar in elementare Empfindungen. Aber sie ist niemals bloß die Summe dieser Empfindungen, sondern aus der Verbindung derselben entsteht ein Neues mit eigentümlichen Merkmalen, die in den Empfindungen nicht enthalten waren. So setzen wir aus einer Menge von Lichteindrücken die Vorstellung einer räumlichen Gestalt zusammen. Dieses Prinzip bewährt sich in allen psychischen Kausalverbindungen, es begleitet die geistige Entwicklung von ihren ersten bis zu den vollkommensten Stufen.[54] Wundt hat diese schöpferische Synthese, die heute in der Systemtheorie auch als Prinzip der Emergenz zu bezeichnen wäre, in der Tradition von Leibniz als Erkenntnisprinzip der empirischen Psychologie formuliert – lange vor den Begründern der Gestaltpsychologie[55],[56]

(2) Das Prinzip der beziehenden Analyse bzw. der Relationen (Kontextprinzip). Dieses Prinzip besagt, dass jeder einzelne psychische Inhalt seine Bedeutung empfängt durch die Beziehungen, in denen er zu anderen psychischen Inhalten steht.[57]

(3) Das Prinzip der psychischen Kontraste bzw. Verstärkung der Gegensätze oder der Entwicklung in Gegensätzen. Typische Kontrastwirkungen sind in den Sinnesempfindungen, im Verlauf von Emotionen und Willensvorgängen zu erkennen. Allgemein besteht eine Tendenz, die subjektive Welt nach Gegensätzen zu ordnen. So zeigen auch individuelle, geschichtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse kontrastreiche Verläufe.[58]

(4) Das Prinzip der Heterogonie der Zwecke. Handlungsfolgen reichen über den ursprünglich gesetzten Zweck hinaus und rufen neue Motive mit neuen Wirkungen hervor. Der gewollte Zweck führt immer Neben- und Folgewirkungen herbei, die selbst wieder zu Zwecken werden, d. h. einer immer mehr anwachsenden Organisation durch Selbstschöpfung.[59]

Außer diesen vier Prinzipien erläuterte Wundt den Begriff der geistigen Gemeinschaft und die Interaktion zwischen Personen sowie weitere Kategorien und Prinzipien, die für die Psychologie wesentlich sind. Emergenzprinzip, Kontextprinzip, Kontrastprinzip, Interaktionsprinzip und Selbstentwicklung betreffen die psychischen Verbindungen des individuellen Bewusstseins und der geistigen Welt (Kultur). Aus Sicht der Logik handelt es sich nicht um Kategorien im engeren Sinn, sondern um allgemeine Relationsbegriffe, d. h. Ordnungsbegriffe, die zwei oder mehr Aussagen miteinander verknüpfen (Explikation). Im Unterschied zur einfachen Konjunktion von Aussagefunktionen (A und B) meint Wundt jedoch die komplizierteren psychischen Zusammenhänge, beispielsweise die Abhängigkeit jedes psychischen Vorgangs von der aktuellen Situation (Kontext). [60] Diese Relationsbegriffe haben eine wichtige beziehungs- und erkenntnisstiftende Funktion.


Bezugssysteme, Perspektivität und Komplementarität

Wissenschaftstheoretisch betrachtet ergänzen sich in Wundts Psychologie drei Bezugsysteme: (1) das Bezugssystem der Neurophysiologie; (2) das Bezugssystem der Bewusstseinspsychologie,(der allgemeinen Psychologie) für die individuellen Bewusstseinsprozesse; (3) das Bezugsystem der Kulturpsychologie (der Völkerpsychologie) für die geistigen Objektivationen und die sozialen Prozesse der Gemeinschaft. Die in den Bezugssystemen (1) und (2) zu beschreibenden Prozesse sind parallel und nicht-interaktiv, sie erfordern kategorial verschiedene, komplementäre Beschreibungen. Die in den Bezugssystemen (2) und (3) zu beschreibenden Prozesse interagieren und die Beschreibungen sind in kategorialer Hinsicht ähnlich. Wundt verbindet einen methodologisch-kategorialen Dualismus mit einem Methoden-Pluralismus und einem Monismus: ein Lebensprozess unter verschiedenen Perspektiven. Rückblickend ist es zu rechtfertigen, heute den Begriff Bezugssystem und das Komplementaritätsprinzip von Niels Bohr für Wundts Perspektivität zu verwenden.

Wundt erinnerte im Jahre 1916 an Leibniz’ zweihundertjährigen Todestag und charakterisierte dessen Denkstil so, wie es auch für Wundt gelten kann. Er sagt über Leibniz[61] … das Prinzip der Gleichberechtigung einander ergänzender Standpunkte“ spielt in seinem Denken eine bedeutende Rolle, Standpunkte, die „einander ergänzen, zugleich aber auch als Gegensätze erscheinen können, die erst bei einer tieferen Betrachtung der Dinge sich aufheben.


Notwendige Verbindung der Psychologie mit Erkenntnistheorie und Philosophie

Wundt ist entschieden gegen die Trennung von der Philosophie. Er befürchtet, dass die Psychologen ihre persönlichen metaphysischen Überzeugungen in die Psychologie hineintragen und diese Vorentscheidungen nicht mehr der erkenntnistheoretischen Kritik aussetzen Niemand würde daher unter einer solchen Trennung mehr leiden als die Psychologen und durch sie die Psychologie.[62] In der Psychologie würde die Entartung zu einem Handwerk durch nichts mehr gefördert“ als durch die Trennung von der Philosophie.[63]
Gesamtwerk

Zum Verständnis der Bildungsgeschichte Wundts und der zeitgenössischen Strömungen und intellektuellen Kontroversen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Wundts Autobiographie Erlebtes und Erkanntes und seine Antrittsvorlesungen in Zürich und Leipzig, seine Gedenkreden auf Gustav Theodor Fechner und Gottfried Wilhelm Leibniz aufschlussreich. Wundt bezieht sich – abgesehen von den Klassikern Platon und Aristoteles – primär auf Leibniz und Kant, indirekter auf Hegel, auch Francis Bacon, Charles Darwin, John Locke und John Stuart Mill, außerdem in der Psychologie auf Johann Friedrich Herbart, Gustav Theodor Fechner und Hermann Lotze. Er übernahm jedoch selten bestimmte philosophische Positionen. Typisch ist, dass er Standpunkte referiert, abwägt, einander ergänzende Betrachtungsweisen sieht, also relativiert und extreme Auffassungen zugunsten einer mittleren Positionen ablehnt.

Zugang zu Wundts Werk

Das Werkverzeichnis des MPI für Wissenschaftsgeschichte hat mit allen Aufsätzen und allen deutschen und fremdsprachigen Auflagen seiner Bücher 578 Einträge im Zeitraum 1853 bis 1950 (vgl. Eleonore Wundt, 1927; Robinson, 2001). Der amerikanische Psychologe Edwin Boring zählte 494 Publikationen Wundts (ohne reine Nachdrucke, aber mit revidierten Auflagen), die im Mittel 110 Seiten lang sind: insgesamt 53.735 Seiten umfassten. Wundt publizierte in 68 Jahren durchschnittlich sieben Arbeiten im Jahr, schrieb oder revidierte durchschnittlich 2.2 Seiten am Tag und war damit vermutlich der produktivste Wissenschaftler aller Zeiten.[64]

Der innere Zusammenhang von Wundts Werk seit 1862 – zwischen und innerhalb der Hauptwerke und revidierten Auflagen – ist wiederholt diskutiert worden (Araujo, 2012; Graumann, 1980, Fahrenberg, 2011). Ein tiefreichender Bruch der Wissenschaftskonzeption der Psychologie kann jedoch nicht behauptet werden, wohl aber eine schrittweise Entwicklung und ein Wandel der Interessenschwerpunkte.

Von Wundts Werk existiert keine Gesamtedition, eine kommentierte Edition gibt es nicht einmal von den Hauptwerken. Digitalisate einiger Zeitschriftenaufsätze und ausgewählter Bücher sind zugänglich (siehe Links).
Rezeption
Zeitgenössische Rezeption

In den damaligen Würdigungen und in den Nachrufen ist zu lesen, welcher Respekt dem Begründer der experimentellen Psychologie, dem Verfasser der Völkerpsychologie und dem Philosophen Wundt wegen seines immensen Wissens und wegen seines umfassenden theoretischen Horizonts entgegengebracht wurde.

Der Zeitgenosse und Philosoph Rudolf Eisler urteilte über das Vorgehen Wundts: Es ist ein Hauptvorzug der Philosophie Wundts, dass sie die Metaphysik weder bewusst noch unbewusst an den Anfang stellt, sondern streng zwischen empirisch-wissenschaftlicher und erkenntnistheoretischer-metaphysischer Betrachtungsweise sondert und jeden Standpunkt erst für sich allein in seiner relativen Berechtigung durchführt, um dann schließlich ein einheitliches Weltbild herzustellen. Wundt sondert stets den physikalisch-physiologischen vom rein psychologischen, diesen wieder vom philosophischen Standpunkt. Dadurch entstehen scheinbare ‚Widersprüche‘ für denjenigen, der nicht genauer zusieht und der beständig vergisst, dass die Verschiedenheiten der Ergebnisse nur solche der Betrachtungsweise, nicht der Wirklichkeitsgesetze sind …[65]

Seit den 1880er Jahren war Leipzig eine weltberühmte Adresse für die neue Psychologie. Weshalb Wundts Einfluss nach der Jahrhundertwende, also noch zu Lebzeiten, rasch sank und Wundt vom Gründervater fast zum Außenseiter wurde, ist unterschiedlich interpretiert worden. Die letzte Wundt-Biographie, welche im Anschluss an König (1901) die Psychologie und die Philosophie Wundts darzustellen versuchte, stammt von Eisler (1902). Wundts (1920) Autobiographie Erlebtes und Erkanntes vermittelt in vieler Hinsicht noch die beste Einführung in sein Denken. Spätere Biographien von Nef (1923) und Petersen (1925) bis Arnold (1980) beschränkten sich primär auf die Psychologie oder auf die Philosophie. Solche einseitigen Darstellungen oder die an Missverständnissen reichen angloamerikanischen Darstellungen (Hall, 1914; Boring, 1950) sind Wundts Werk nicht adäquat.

Während die Grundzüge der physiologischen Psychologie weltweite Resonanz fanden, scheint Wundts Völkerpsychologie weniger Breitenwirkung ausgeübt zu haben (Eckardt, 1997; Graumann, 2006). Doch es gibt Hinweise, dass sowohl George Herbert Mead als auch der bedeutende Kulturanthropologe Franz Boas beeinflusst wurden. Auch Sigmund Freud zitierte in Totem und Tabu häufig Wundts Völkerpsychologie. Wundts Ethik hat mehr Rezensionen ausgelöst als fast alle anderen Hauptwerke. Hauptsächliche Einwände richten sich gegen seinen Verzicht auf eine letzte transzendente Begründung der Ethik (Gott, Absolutes), andererseits gegen den Evolutionismus, d. h. die ethischen Normen würden sich kulturell im Zuge der geistigen Entwicklung des Menschen verändern. Da Wundt keine konkreten ethischen Konflikte anhand von Beispielen und keine Sozialethik dargestellt habe, wirke diese Ethik mit der allgemeinen Leitidee des Humanismus zu abstrakt. Demgegenüber steht Wundts Leipziger Rektoratsrede (1889) im Jahrhundertjahr der Französischen Revolution mit seiner engagierten Diskussion von Menschenrechten und Menschenpflichten, ähnlich der heutigen Diskussion über die von Helmut Schmidt und anderen Personen unterzeichneten Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten.
Neuere Rezeption

Erst seit dem Wundt-Jahr der Leipziger Institutsgründung 1879/1979 sind wieder einige Artikel und mehrere Bände mit Wundt-Studien publiziert worden (Bringmann & Scheerer, 1980; Bringmann & Tweeny, 1980; Meischner & Metge, 1980; Rieber & Robinson, 1980, 2001; Jüttemann, 2006). Wundt gilt als bedeutendster Pionier der experimentellen Psychologie. Doch es gibt das „andere Erbe“ der Völkerpsychologie bzw. der Kulturpsychologie wie eine Autorengruppe dargelegt hat (Jüttemann, 2006).

Die gegenwärtige Rezeptionsforschung stützt sich auf die Rezensionen von Wundts Veröffentlichungen in psychologischen und philosophischen Zeitschriften, Lehrbücher der Psychologie Biographien, Reden und Briefe, die Festschrift, Würdigungen und Nachrufe, Kongressberichte, Rankings, Zitationshäufigkeiten, Präsenz in Selbstdarstellungen deutscher Psychologinnen und Psychologen, Web-Präsenz (Suchmaschine Google Ngrams mit dem Stichwort Wilhelm Wundt). Gründe für die Distanzierung von Wundt und für das teilweise Vergessen seiner Konzeption können im wissenschaftlichen Werk, in der philosophischen Orientierung, in der Didaktik oder in der Person Wundts gesehen werden (Fahrenberg, 2011; Jüttemann, 2006). Hervorzuheben sind:

Die erkenntnistheoretisch fundierte Konzeption der Psychologie, seine Wissenschaftstheorie und seine vielseitige Methodenlehre sind anspruchsvoll.
Die Assistenten und Mitarbeiter Wundts, von denen ihm viele auch persönlich nahestanden, übernahmen nicht die Rolle von Schülern und noch nicht einmal die Rolle von Interpreten. Felix Krueger, Oswald Külpe, Ernst Meumann, Hugo Münsterberg haben Wundts umfassende Wissenschaftskonzeption der Psychologie in ihren Büchern nicht referiert, niemand aus diesem Kreis hat eine kreative Fortführung von Wundts Konzeption entwickelt.
Die meisten Psychologen in der nächsten Generation scheinen eine wesentlich einfachere, philosophisch weniger anspruchsvolle Sichtweise vorgezogen zu haben, d. h. entweder eine naturwissenschaftlich oder eine geisteswissenschaftlich orientierte Forschung.
Durch die Definition des Psychischen bzw. des Bewusstseins als Prozess gab Wundt den metaphysischen Seelenbegriff auf; seine Psychologie ohne Seele wurde von mehreren zeitgenössischen Psychologen scharf kritisiert.

Wundt hat Angriffsflächen geboten: beim Verzicht auf ein substanziell gedachtes Seelenprinzip; mit seiner theoretisch anspruchsvollen Apperzeptionspsychologie; durch sein umfassendes, heute als interdisziplinär zu begreifendes Forschungsprogramm einer Entwicklungstheorie des menschlichen Geistes. Er hielt praktische Anwendungen der Psychologie erst dann für gerechtfertigt, wenn die wissenschaftlichen Grundlagen hinreichend erforscht sind (siehe die Kontroverse mit Ernst Meumann, Wundt,1909b). Aus heutiger Sicht fällt auf, dass er sich für mehrere Fachgebiete wie die Differentielle Psychologie und die Sozialpsychologie von Dyaden und kleinen sozialen Gruppen kaum interessiert zu haben scheint. In jedem Fall ist jedoch zu überlegen, mit welchen methodologischen Argumenten Wundts seine Zurückhaltung begründen würde.
Psychologismus und andere Stereotype

Wundt hatte sich wegen des breiten Geltungsanspruchs seiner Psychologie mit dem Vorwurf des Psychologismus auseinanderzusetzen, d. h. auch auf den Gebieten psychologisch zu argumentieren und untersuchen zu wollen, wo die Psychologie fehl am Platze sei. Doch diesen Psychologismus, der die logische Analyse des Denkens durch eine psychologische zu verdrängen sucht, lehnt Wundt entschieden ab (Wundt, 1910). Edmund Husserl habe ihn missverstanden.[66] Fraglich bleibt, inwieweit Husserl (1910), Martin Heidegger (1914) und andere Kritiker tatsächlich Wundts charakteristisches Sowohl-als-Auch aufgefasst haben. Wundt behandelte ja die formale Logik durchaus in traditioneller und normativer Weise. Zusätzlich diskutierte er psychologisch, was konsequentes Denken aus Sicht der subjektiven Erfahrung, Allgemeingültigkeit und Evidenz sowie der Entwicklung des Denkens bedeutet. Der angebliche Psychologismus gehört, ebenso wie das Missverständnis, er habe eine naturwissenschaftliche Psychologie begründen wollen, eine Elementenpsychologie geschaffen, und Angewandte Psychologie abgelehnt, zu den überdauernden Stereotypen über Wundts Werk,[67] die in der Geschichtsschreibung der Psychologie und in den Lehrbüchern weitergegeben werden. Offenbar sind Wundts Auffassungen nicht leicht einzuordnen, und der Wechsel der Betrachtungsweisen kann irritieren, trotz seiner ausführlichen Erläuterungen.
Wundts Aktualität

Wundt hat die erste eigenständige Wissenschaftstheorie der Psychologie entwickelt. In dieser umfassenden Konzeption, die durch seine neurophysiologischen, psychologischen und philosophischen Arbeiten bestimmt ist, wird die erkenntnistheoretische Sonderstellung der Psychologie postuliert. Der Mensch als denkendes und wollendes Subjekt ist nicht in den Begriffen der Naturwissenschaften zu erfassen. Die Psychologie erfordert spezielle Kategorien und eigenständige Erkenntnisprinzipien. Sie ist einerseits empirische Geisteswissenschaft, soll jedoch andererseits ihre physiologischen Grundlagen nicht ausklammern. Wundts Ansatz ist perspektivisch, er verlangt ein komplementäres Denken in verschiedenen Bezugssystemen und einen entsprechenden Wechsel der Methoden. Die Psychologie soll mit der Philosophie in Verbindung bleiben, um die Erkenntniskritik der unter Psychologen verbreiteten metaphysischen Voraussetzungen zu fördern. Attraktiv geblieben ist Wundt wegen der von ihm zugleich angestrebten Einheitlichkeit der Wissenschaftskonzeption; denn die Kontroversen über Ziele und Methoden der Psychologie, über Strömungen und über tatsächliche Abspaltungen, dauern fort.

Sein Schüler, der Philosoph und Psychologe Woldemar Oskar Döring, hat in der Tradition von W. Wundt Beiträge zu einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie der Psychologie entwickelt – die z. T. radikal gegen die mechanistische Sichtweise der Psychologie positioniert ist.[68] Eine aufschlussreiche Kritik (im Geiste Wundts) der „modernen Psychologie“ findet sich auch in seinem 1932 publizierten Werk Die Hauptströmungen in der neueren Psychologie, wo er Verständnis äußerte für die Aussage, „wenn Zweifler sagen eine Wissenschaft der Psychologie gibt es überhaupt nicht, nur noch ein Chaos unzusammenhängender Meinungen“.[69]
Veröffentlichungen

Über den Kochsalzgehalt des Harns. In: Journal für praktische Chemie, 1853, Heft 59, S. 354–363 (erste wiss. Veröff. überhaupt).
Untersuchungen über das Verhalten der Nerven in entzündeten und degenerirten Organen. Dissertation. Georg Mohr, Heidelberg 1856.
Die Lehre von der Muskelbewegung. Vieweg, Braunschweig 1858.
Die Geschwindigkeit des Gedankens. In: Die Gartenlaube, 1862, Heft 17, S. 263.
Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. Winter, Leipzig 1862.
Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Teil 1–2. Voß, Leipzig 1863.
Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Mit 137 in den Text gedruckten Holzschnitten. Enke, Erlangen 1865.
Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprincip. Enke, Erlangen 1866.
Handbuch der medicinischen Physik. Mit 244 in den Text gedruckten Holzschnitten. Enke, Erlangen 1867. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Neuere Leistungen auf dem Gebiete der physiologischen Psychologie. In: Vierteljahrsschrift für Psychologie, Psychiatrie und gerichtliche Medicin, 1867, Band 1, S. 23–56.
Über die Entstehung räumlicher Gesichtswahrnehmungen. In: Philosophische Monatshefte, 1869, Band 3, S. 225–247.
Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervencentren. Enke, Erlangen 1871.
Grundzüge der physiologischen Psychologie. Engelmann, Leipzig 1874. 7. Auflage. 1923.
Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart. Rede gehalten zum Antritt des öffentlichen Lehramts der Philosophie an der Hochschule in Zürich am 31. Oktober 1874. In: Philosophische Monatshefte, 1874, Band 11, S. 65–68.
Über den Einfluss der Philosophie auf die Erfahrungswissenschaften. Akademische Antrittsrede gehalten in Leipzig am 20. November 1875. Engelmann, Leipzig 1876.
Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. Erster Band: Erkenntnislehre. Zweiter Band. Methodenlehre. Enke, Stuttgart 1880 u. 1883.
Ueber die Messung psychischer Vorgänge. In: Philosophische Studien, 1883, Band 1, S. 251–260, S. 463–471.
Ueber psychologische Methoden. In: Philosophische Studien, 1883, Band 1, S. 1–38.
Essays. Engelmann, Leipzig 1885.
Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens. Enke, Stuttgart 1886.
Zur Erinnerung an Gustav Theodor Fechner. Worte gesprochen an seinem Sarge am 21. November 1887. Philosophische Studien, 1888, Band 4, S. 471–478. http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit722?
System der Philosophie. Engelmann, Leipzig 1889.
Über den Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte. Eine Centenarbetrachtung. Rede des antretenden Rectors Dr. phil., jur. et med. Wilhelm Wundt. In: F. Häuser (Hrsg.), Die Leipziger Rektoratsreden 1871–1933. Band I: Die Jahre 1871–1905 (S. 479–498). Berlin: de Gruyter (1889/2009).
Ueber psychische Causalität und das Princip des psycho-physischen Parallelismus. In: Philosophische Studien, 1894, Band 10, S. 1–124. http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit29437?
Grundriss der Psychologie. Engelmann, Leipzig 1896. http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit779?
Ueber die Definition der Psychologie. In: Philosophische Studien, 1896, Band 12, S. 9–66. http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit780? http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit788? http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit790?
Über naiven und kritischen Realismus I–III. In: Philosophische Studien, 1896–1898, Band 12, S. 307–408; Band 13, S. 1–105, S. 323–433. http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit781?
System der Philosophie, 2. Auflage. Engelmann, Leipzig 1897.
Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte. 10 Bände. Engelmann; Leipzig 1900–1920.
Gustav Theodor Fechner. Rede zur Feier seines hundertjährigen Geburtstags. Engelmann, Leipzig 1901.
Grundzüge der Physiologischen Psychologie, 5. Auflage. Band 1–3. Engelmann, Leipzig 1902–1903.
Über empirische und metaphysische Psychologie. In: Archiv für die gesamte Psychologie, 1904, Band 2, S. 333–361.
Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens. In: Psychologische Studien, 1907, Band 3, S. 301–360.
Kritische Nachlese zur Ausfragemethode. In: Archiv für die gesamte Psychologie, 1908, Band 11, S. 445–459.
Einleitung in die Philosophie, 5. Auflage. Engelmann, Leipzig 1909.
Über reine und angewandte Psychologie. In: Psychologische Studien 1909, Band 5, S. 1–47.
Psychologismus und Logizismus. Kleine Schriften. Band 1 (S. 511–634). Engelmann, Leipzig 1910.
Kleine Schriften, Band 1–2. Engelmann, Leipzig 1910–1911.
Einführung in die Psychologie. Dürr, Leipzig 1911.
Probleme der Völkerpsychologie. Wiegandt, Leipzig 1911.
Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Kröner, Leipzig 1912.
Die Psychologie im Kampf ums Dasein. Kröner, Leipzig 1913.
Reden und Aufsätze. Kröner, Leipzig 1913.
Sinnliche und übersinnliche Welt. Kröner, Leipzig 1914.
Über den wahrhaften Krieg. Rede gehalten in der Alberthalle zu Leipzig am 10. September 1914. Kröner, Leipzig 1914.
Die Nationen und ihre Philosophie. Kröner, Leipzig 1915.
Leibniz zu seinem zweihundertjährigen Todestag. 14. November 1916. Kröner, Leipzig 1917.
Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. Band 1. Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie, 4. Auflage. Ferdinand Enke, Stuttgart 1919.
System der Philosophie, 4. Auflage. Kröner, Leipzig 1919.
Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. Band 2. Logik der exakten Wissenschaften, 4. Auflage. Ferdinand Enke, Stuttgart 1920.
Die Weltkatastrophe und die deutsche Philosophie. Keysersche Buchhandlung, Erfurt 1920.
Erlebtes und Erkanntes. Kröner, Stuttgart 1920.
Grundriss der Psychologie, 14. Auflage. Kröner, Stuttgart 1920.
Kleine Schriften. Band 3. Kröner, Stuttgart 1921.
Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. Band 3. Logik der Geisteswissenschaften, 4. Auflage. Enke, Stuttgart 1921.

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